Ohne Hände ins Leben!
Ohne Hände ins Leben!
Wer sich mit den Schicksalen von ehemaligen Heimkindern beschäftigt, den läßt das Thema auch im Urlaub nicht los.
In Lyon stieß ich auf ein Denk-mal! und photographierte es.
Ein geistlicher Herr, sein Habit weist ihn als katholischen Würdenträger aus, schaut milde auf ein Kind, seine Linke umfaßt es sanft, die Rechte, der Zeigefinger ist abgebrochen, weist gen Himmel, wie die thematisch ähnliche Statue von August Hermann Francke in Halle.
Doch im Gegensatz zu Francke eröffnet seine gesamte Haltung eher den Blick des Betrachters auf das Kind.
Doch das Kind hat keine Hände.
Kein Zweifel, er wird sie ihm nicht abgeschlagen haben. Ich unterstelle auch nicht, daß er Kinder mißhandelt hat. Doch für mich ist diese Statue eine Illustration kirchlicher Heimerziehung.
Allerdings nicht generell.
Wir dürfen nicht vergessen, daß früher (viel früher) Findelkinder, die in einem Kloster Aufnahme fanden, eine deutlich größere Überlebenschance hatten, als Kinder in öffentlichen Kinderheimen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, daß sie dort nicht nur eine für das Leben nützliche Erziehung bekamen, sondern daß es sogar pädagogisch sinnvolle Sonderwege gab. Dabei denke ich an Fra Filippo Lippi aus dem 15. Jahrhundert. Früh verwaist fand er Aufnahme bei den Karmelitern. In der Schule fiel er durch ungebührliche Kritzeleien auf. Doch die Mönche entdeckten sein Talent und ließen ihn das Malen lernen.
Solche kindgerechten Reaktionen waren sicher auch damals nicht die Regel – und doch wird man nachdenklich, wenn man den Berichten der Heimkinder entnimmt, wie wenig viele von ihnen gefördert wurden. Ganz im Gegenteil: Viele wurden mißhandelt und mißbraucht. Demütigung scheint ein durchgängiges Prinzip gewesen zu sein. Diese Heimkinder gleichen damit dem Kind auf dem Bild, dem die Hände abgeschlagen wurden, denn sie entkamen dem Heim als Behinderte an Geist und Seele, manche hatten bei der Zwangsarbeit auch körperliche Schäden davongetragen.
Wie behindert waren die Erzieher? Was muß man für ein Mensch sein, um Kinder so zu quälen, wie es vielfach berichtet wird? (Eine Frage, die leider auch für manche Eltern zu stellen ist. Siehe dazu: gewalt-07-2)
Von einigen Heimkindern, die in staatlichen Heimen waren, hörte ich: „Die kirchlichen waren ja noch viel schlimmer“. Da ich Pfarrer bin, suche ich natürlich auch nach einem Grund für die Mißhandlungen gerade in kirchlichen Einrichtungen – und habe ihn noch nicht gefunden. Das, was dort geschah, steht völlig im Gegensatz zu dem Jesus-Wort bei Matthäus (18,10): Seht zu, daß ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet. (siehe las meninas)
So wurde die Statue eines hochgerühmten Theologen aus dem 14./15. Jahrhundert für mich zum Symbol kirchlicher Erziehung in der Nachkriegszeit.
Der Theologe ist übrigens Jean le Charlier de Gerson, auch Johannes Gerson genannt. Er lebte von 1363 bis 1429, war auch zeitweise Kanzler der Pariser Universität Sorbonne. In seinem letzten Lebensabschnitt widmete er sich der Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen. Sein Denkmal steht gegenüber der Kirche St. Paul in Lyon, seiner letzten Wirkungsstätte.
Bei Wikipedia lesen wir, daß er „gegen die Unsittlichkeit der Geistlichkeit eiferte (was ihm den Beinamen Doctor christianissimus eintrug). Anderseits betrieb er in Konstanz auch die Verurteilung und Hinrichtung von Jan Hus und Hieronymus von Prag.“
photos: dierkschaefer
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