Dierk Schaefers Blog

Viele Fragen, viele Vermutungen

Posted in heimkinder by dierkschaefer on 29. März 2011

Auf meinen Beitrag „Psychopathologisch oder „nur“ geschädigt?“ hat es viele Kommentare gegeben.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/03/26/psychopathologisch-oder-%E2%80%9Enur%E2%80%9C-geschadigt/#comments
Ich will versuchen, insgesamt darauf zu antworten.
1. Selbstverständlich ist es unrecht, wenn die ehemaligen Heimkinder, die trotz erlittener Heimzeit ihr Leben wenigstens halbwegs auf die Reihe gebracht haben, leer ausgehen  und damit Jahre ihres Lebens nicht zur Kenntnis genommen bzw. materiell nicht gewürdigt werden. Ich halte es jedoch für illusorisch, für diese Fälle irgendeine einflußreiche Öffentlichkeit zur Unterstützung für materielle Ansprüche zu finden. Elterliche Liebe und ein bedingungsloses Angenommensein sind zwar elementar wichtig für die gute Entwicklung von Kindern, doch sie sind nicht einklagbar, weder von den Eltern, noch von sonstigem Erziehungspersonal. Die Kombination von Belastungs- und Schutzfaktoren ist zwar weitgehend Schicksal (oder was man auch immer dafür setzen will). Aber auch eine fürsorgliche Gesellschaft kann nur versuchen, diese Kombination zu optimieren. Wir nennen das Chancengleichheit herstellen. Allerdings ist unsere Gesellschaft nicht sonderlich willig, dafür nennenswerte Mittel bereitzustellen. Doch wenn die Gesellschaft besser wäre, wäre man nicht vor Fürsorgeterror sicher.

2. Ich halte es für ausgesprochen unwahrscheinlich, daß die vielen ehemaligen Heimkinder, die sich bisher nicht gemeldet haben, dies nur aus Scham oder Retraumatisierungsängsten nicht getan haben.

Statistisch werden 800.000 Ehemalige genannt.

Wenn ich von dieser Zahl ausgehe, muß ich abschätzen, wie viele zwischenzeitlich wohl gestorben sind. Ich gehe mal ganz unwissenschaftlich von einer Sterblichkeitsrate von rund 30 % aus; (für meine Schulklasse liegt sie bei rund 26 %). Dann bleiben von 800.00 noch 560.000, die Ansprüche anmelden könnten.

Niemand weiß genau, wie viele davon sich bisher gemeldet haben. 10.000 dürften zu hoch gegriffen sein.

Doch nehmen wir einmal diese Zahl, dann bleibt immer noch ein Dunkelfeld von 550.000. In diesem Dunkelfeld sind die oben schon genannten, die aus Scham oder Retraumatisierungsängsten sich nicht melden wollen oder können. Aber wohl eben auch die, bei denen die Heimzeit keine überwiegend negativen Spuren hinterlassen hat. Es wäre jedenfalls unsachlich zu unterstellen, bei entsprechender Psychotherapie kämen bei dieser Gruppe auch lauter Geschädigte heraus. Immerhin traue ich der Psychotherapie zu, bei fast jedem, auch ohne Heimhintergrund, auf Schädigungen in der kindlichen Entwicklung zu stoßen.

Über die Mengenanteile der (anscheinend) nicht Geschädigten zu spekulieren dürfte müßig sein. Doch da es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch diese Gruppe gibt, wird wohl niemand gezwungen werden können, für nicht erkennbar Geschädigte zu zahlen. Also werden die Antragsteller ihre Ansprüche plausibel machen müssen, auch wenn es weh tut.

Der Maßstab für Plausibilität kann und muß allerdings niedrig angesetzt werden. Schließlich wissen wir, wissenschaftlich und durch viele Einzelberichte glaubhaft belegt, was in (manchen/einigen/vielen) Heimen gelaufen ist. Einige Heime jedenfalls stechen besonders negativ hervor. Hier wird man keine allzu detaillierte Einzelfallbetrachtung anstellen müssen. Dabei gewesen zu sein, sollte ausreichen. Anders sieht es bei bisher „unbelasteten“ Heimen aus. Doch mit Empathie-geführten Fragen (mündlich!), sollten auch solche Fälle akzeptiert werden können – wenn man nur will.

Doch man will wohl nicht. Frau Tkocz berichtet in ihrem Kommentar:

Wenn dort das bischöfliche Ordinariat für sie tätig werden soll, dann muss sie 36 € pro Stunde bezahlen, nur wenn sie selber hinfährt ist es kostenlos. Natürlich ist es dann nicht kostenlos, sie muss ja die Fahrt bezahlen. Ich brauche ja wohl nicht zu erwähnen, dass die Ehemalige kein Geld hat, aber es ist eine Schande was die sich da erlauben.

Es ist wirklich eine Schande, und ich wüßte gern, welches bischöfliche Ordinariat sich dermaßen entblößt hat.

2 Antworten

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  1. Erika Tkocz said, on 30. März 2011 at 00:00

    Lieber Herr Schäfer,
    Ich habe schon einen Freund um Hilfe gebeten und wir werden jetzt einen direkten Weg gehen können. Aber grundsätzlich muss das einheitlich geklärt werden, es kann nicht sein, dass man auch noch für Akteneinsicht bezahlen muss.

    Herr Schäfer es gibt eine Menge von Gründen, wieso sich viele Ehemalige nicht melden werden, so gibt es Ehemalige die nicht einmal in ihrem unmittelbaren Feld -sprich der eigenen Familie -gesagt haben, dass sie in einem Heim waren und es gibt auch Ehemalige die mit dem Thema abgeschlossen haben. Dann gibt es ganz sicher auch Ehemalige, die nicht wissen, dass es einen Runden Tisch gab, denn Aufklärung in diesem Thema hat öffentlich nicht so stattgefunden, wie wir es uns erhofft haben. Allerdings fände ich es bedenklich wenn man die Wenigen -die sich melden werden -dahingehend interpretiert, dass offensichtlich die Mehrheit nicht so schlimme Erfahrungen gemacht haben. In der einen oder anderen Richtung muss es zunächst offen bleiben, bis auf die Heime die gegenwärtig schon untersucht worden sind. Es bleibt zu hoffen, dass eine weitere wissenschaftliche Aufarbeitung nicht wie bisher in der Ausschließlichkeit der Kirchen bleibt, wie z.B. das Buch über Freistatt oder wie hier zu lesen ist bei der Diakonie, die auch schon in ihren früheren Befragung unter der Regie von Dr. Häusler sehr unprofessionelle Fragebögen herausgegeben haben. Dass man nun bei der Bergischen Diakonie Aprath darauf bestand eigene Wissenschaftler auszusuchen, weil diese preiswerter gearbeitet hätten, zeigt wie wenig hier die Fähigkeit zu Kompromissen besteht. Die vorgeschlagene Wissenschaftlerin hätte ich nicht für verkehrt gehalten, weil sie Erfahrung in dieser Arbeit hat und auch eine sicherlich gute Arbeit gemacht hätte, was man in dem Buch über Volmarstein nachlesen kann. Mir war aber nicht bekannt, dass nun der Untersuchungsraum erst ab 1965 beginnen soll, zeigt einmal mehr was mit Aufarbeitung gemeint ist, nämlich diese nicht wirklich ernst zu nehmen.

    Mit dieser Äußerung von Ihnen und ich gehe davon aus, dass Sie mich damit meinen bzw. was ich dazu geschrieben habe:
    „Aber wohl eben auch die, bei denen die Heimzeit keine überwiegend negativen Spuren hinterlassen hat. Es wäre jedenfalls unsachlich zu unterstellen, bei entsprechender Psychotherapie kämen bei dieser Gruppe auch lauter Geschädigte heraus. Immerhin traue ich der Psychotherapie zu, bei fast jedem, auch ohne Heimhintergrund, auf Schädigungen in der kindlichen Entwicklung zu stoßen.

    haben Sie mich gründlich missverstanden. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass bei einer Auseinandersetzung mit seinem Heim sich eine Einstellung verändern kann, d.h. wenn man beispielsweise Gewalt in der Familie erlebt hat, diese erst einmal als schlimmer zu betrachten, aber bei einer Auseinandersetzung sich dies verändern kann. Ich habe nichts darüber ausgesagt, dass diese im Kontext einer Schädigung einhergehen muss, ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass erst in einer intensiveren Auseinandersetzung zu sehen ist, wie eine Einstellung zum Schluss bleibt. So wie Sie mich interpretieren finde ich es unsachlich, denn so wie Sie es darstellen war es von mir nicht gemeint. Um es einmal an dieser Stelle deutlich zum Ausdruck zu bringen, ich bin nicht einmal der Meinung, dass nun jedes ehemalige Heimkind eine Therapie machen sollte, aber es führt jetzt zu weit das näher zu erklären. Mich hat es eher gestört, dass am Runden Tisch die ständigen Hinweise z.B. auf Traumatherapie geäußert wurden, aber da konnte man ja mit dem Thema großzügig umgehen, kostet ja nicht viel, zahlt die Krankenkassen und Wenige werden es in Anspruch nehmen! Aber es ist definitiv problematisch und ich würde mal behaupten illusorisch anzunehmen, dass Ehemalige eine Entschädigung aufgrund ihrer angebenden Folgeschäden bekommen. Insbesondere dann, wenn sie beispielsweise ein schlimmes Elternhaus hatten und deswegen ins Heim kamen, weil man dann ja gleich sagen könnte die Folgeschäden könnten genauso aus dem Elternhaus kommen und so ähnlich äußern Sie sich ja auch, zumindest interpretiere ich Ihren Satz genau so: „Immerhin traue ich der Psychotherapie zu, bei fast jedem, auch ohne Heimhintergrund, auf Schädigungen in der kindlichen Entwicklung zu stoßen.“

    Ich traue es nicht nur der Psychotherapie zu sondern unsere Gegner auch, sie werden in diese Richtung argumentieren. Auf jeden Fall werden nur Wenige eine Entschädigung bekommen, denn der Abschlussbericht bleibt in dieser Thematik schwammig und lässt die Tür für Willkür weit offen.
    Und wir sehen ja, wie man mit Akteneinsicht umgeht -und auch die Unheitlichkeit in den Regelungen scheint gewollt zu sein, so kann man doch die Ehemaligen untereinander auspielen.

  2. Wenz Flash said, on 30. März 2011 at 22:12

    zu 1: es gibt natürlich auch welche, die auf die Entschädigung verzichten um diese den Leidensgenossen zur Verfügung zu stellen. Ich brauche keine finanzielle Entschädigung, da ich mir meine Therapien selbst finanzieren kann und das kostet viel Geld, denn eine Heilung posttraumatischer Beschwerden ist nicht nur durch die Schulmedizin zu leisten. Nachdem ich nun auch fast zwei Jahre in einer Selbsthilfegruppe Depression/Angst mitwirke muss ich feststellen, daß viele Psychotherapeuten bei Depressivkranken schon nicht wissen, was sie machen sollen und probieren ein Medikament nach dem anderen aus. Da nutzen Psychotherapeuten die oft geringere Qualifikation ihrer Patienten aus und versuchen ihnen einzureden, daß sie doch nur die selben Probleme haben wie alle anderen auch. Aber auch Psychotherapeuten sind natürlich nur Menschen, mit allen Fehlern und Schwächen, die Menschen nun einmal haben können. Es gibt natürlich die tollen Therapeuten, doch deren Praxen sind überlaufen und auf einen Ersttermin kann man schonmal drei Monate warten, auch als Privatpatient.
    zu 2: Ich habe mir sogar ein Pseudonym zugelegt um meine Traumawelt von meiner Normalen Welt zu trennen. Kinder, die Posttraumata erlitten, treffen auf Fachleute, die fast nichts verstehen (wollen) und selbst meine Schilderungen über meine erlittenen Folterungen bewirkten nur ein Fortfahren mit einem anderen Thema, denn der Fachmann, die Fachfrau muss aufpassen, sich nicht selbst gemütsmäßig zu „infizieren“, sie müssen cool bleiben, stets hat der Verstand die Oberhand. Wenn ein Patient keine Tabletten will, bedeutet dies zumeist nur geringe Schädigung. Als ich Antidepressiva nahm, trat als Nebenwirkung Suizidneigung auf, was auch im Beipackzettel erwähnt war. Doch für den Arzt kein Problem, denn es geht ja vorüber, nach ca. 14 Tagen. Wenn es dann halt mal passiert, dann ist man im Jahre 2010 einer von 9.500 Suizidtoten in der BRD gewesen. Es ist halt letztlich nicht zu verhindern. „Wenn die Ärzte auch wenig für den Patienten übrig haben, so lieben sie ihre Technik doch sehr und triumphieren, wenn sie einen beinah Toten noch einmal zurückkitzeln können“ (Zitat Hermann Hesse in Lektüre für Minuten 1999 S. 88). Statt des Begriffs Technik kann auch der Begriff Tabletten/Psychopharmaka genommen werden.
    Denn das Schicksal nimmt seinen Lauf und fordert seinen Tribut. Wo sind die Helfer in der Not? Sucht die Selbsthilfegruppe!
    Wenz, es geht auch ohne Tabletten, doch es muss jeder selbst entscheiden.


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