Dierk Schaefers Blog

Was heißt und zu welchem Ende arbeitet man Geschichte auf?

Posted in Geschichte, Kirche, Kriminalität, Medien by dierkschaefer on 16. Januar 2014

„Wahrnehmungen und Erinnerungen sind datengestützte Erfindungen“, sagte der Hirnforscher Wolf Singer in seinem Eröffnungsvortrag auf dem 43. Deutschen Historikertag.[1] Die objektive Geschichte gibt es demnach nicht. Man konstruiert Erinnerungen anhand von Daten, die man gesucht und gefunden hat. Warum sucht man nach Daten, an die man sich allenfalls dunkel erinnert? Welches Interesse steckt dahinter?

Ein Beispiel: »Der lange Nazi-Schatten über der Kirche«, darüber berichtet die Schleswig-Holsteinischer Zeitung, shz, am 13.  Januar 2014. Quelle ist die Untersuchung, die der Historiker Stephan Linck im Auftrag der Nordkirche vorgelegt hat. [2]

Da hat also ein Historiker einen Auftrag bekommen und man hat ihm Archive geöffnet. Warum?

Vor einem Monat habe ich beklagt, daß solche Untersuchungen erst dann gestartet werden, wenn sie niemandem mehr wehtun[3]. Was also soll’s? Mein Resümee war, die billigste Form der Vergangenheitserhellung solle das Image aufpolieren, – peinlich und blamabel!

Doch die Sache ist wohl komplexer.

Generell stellt sich die Frage, was die ganze verspätete Aufarbeitung soll, die wir ja nicht nur bei kirchlichen Einrichtungen beobachten. Auch staatliche Einrichtungen, Firmen und diverse Berufsgruppen ließen und lassen ihre nur noch ihr Image belastende Vergangenheit mehr oder weniger seriös aufarbeiten. Doch „wir sehen, was zu sehen nützlich ist“[4].

Darum noch einmal: Was also ist der Nutzen – und wird der angestrebte Nutzen erreicht? Vorbedingung mag sein, daß ein wichtiger Nutzen weggefallen ist, nämlich die Loyalität mit den Tätern und der eigene Vorteil. Darum wartet man mit der Aufarbeitung bis sie niemandem mehr schadet.[5]

Aber der Nutzen? Gut, die Historiker verdienen ihren Lebensunterhalt und wir erfahren mehr über die damaligen Verhältnisse. Die Geschichte wird vollständiger und damit „ehrlicher“. Es scheint so etwas wie ein Ethos zur wie auch immer begrenzten historischen Wahrheit zu geben, das Ethos des Geschichtsforschers. Ein merkwürdiges Ethos. Nun, da er nichts mehr zu befürchten hat, sondern Ansehen erwirbt, kümmert er sich um Fragen, die zuvor unbekannt waren oder unter dem Deckel gehalten wurden. Ist das Tabu erst gebrochen, stehen die betroffenen Institutionen unter (öffentlichem) Druck. Sie geben nach und geben eine Studie in Auftrag, die nicht den Anschein erwecken darf, sie sei parteilich. Und schließlich weiß man, daß Aufregung über längst Vergangenes schnell wieder abebbt. Die paar Medienartikel haben keine Auswirkungen – und man selber hat nun eine reine Weste.

 

Schwieriger ist es mit Verfehlungen von Kirchen und ihren Würdenträgern. Da ist die Öffentlichkeit nicht (mehr) so nachsichtig. Hier geht es um andere Dimensionen von Glaubhaftigkeit und Vertrauen. Aber auch die Nazi-Verstrickungen der Kirchen bewirken in historischer Distanz wenig. Nur die Kirchengegner sagen: Haben wir doch schon immer gewußt.

Geht es aber um Verfehlungen in jüngster Zeit, wird erst geleugnet und diffamiert, und dann gibt es ein Begräbnis zweiter Klasse. Wissenschaftliche Aufarbeitung? Ja, wenn’s sein muß. Betroffenheits- und Entschuldigungsbekundungen? Kommt man nicht drumrum. Entschädigung? Nein, aber freiwillige Unterstützungsleistungen, möglichst mit Bordmitteln und möglichst kostengünstig. Offenbarungen auf der Homepage? Allenfalls vorübergehend, dann wird die Geschichte aber wieder bereinigt – also ausgelöscht. Doch wenn darüber endlich Gras gewachsen ist, kommt sicherlich ein Esel, der es wieder runterfrißt. Das Gedächtnis des Internet hilft dabei.[6]

Was die Wurzeln der Nordkirche betrifft: es lohnt sich den Artikel der shz zu lesen. Es geht um den Täterschutz, wie er vielfach in Deutschland und wohl besonders in Schleswig-Holstein praktiziert wurde. Da eine Lokalzeitung über Lokales ausführlicher berichtet, erfahren wir auch mehr über die Rolle des damaligen Holsteiner Bischofs Wilhelm Halfmann. Wiki hat einige Aspekte in dessen Vita etwas unzureichend beleuchtet.[7] Insbesondere der Heyde-Sawade-Skandal spielt mit hinein und die Verbindung zum Synodenpräsidenten Adolf Voss.[8] Auch Wilhelm Kieckbusch, der Bischof der ehemaligen Landeskirche Eutin[9] wird unrühmlich erwähnt und man muß feststellen, daß Wiki auch in diesem Fall nicht gut recherchiert hat. Nun wissen wir mehr. Wiki hoffentlich auch demnächst.


[1] zitiert nach: FAZ 28. September 2000

[4] Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags: FAZ 28. September 2000

2 Antworten

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  1. m.dahlenburg said, on 2. Februar 2014 at 11:00

    „Ist das Tabu erst gebrochen, stehen die betroffenen Institutionen unter (öffentlichem) Druck.“

    ,,, so geschehen auch bei der „erzwungenen Aufarbeitung“ der Zwangsarbeit in kirchlichen Einrichtungen.

    „Sie geben nach und geben eine Studie in Auftrag, die nicht den Anschein erwecken darf, sie sei parteilich. Und schließlich weiß man, daß Aufregung über längst Vergangenes schnell wieder abebbt. Die paar Medienartikel haben keine Auswirkungen – und man selber hat nun eine reine Weste.“

    Genau deswegen konnte ja auch wenige Jahre nach den ebenso scheinheinheiligen wie schönfärberischen Veröffentlichungen zu kirchlicher Zwangsarbeit ja auch am RTH (und aktuell mal wieder von etlichen ehemaligen Heimkindern in Heimkinderforen im Zuge der üblich üblen Hetze gegen M.M.) behauptet werden, dass der Begriff „Zwangsarbeit“ nicht für Nachkriegs-Heimkinder taugt und entsprechende Entschädigung mit Rücksicht auf die NS-Zwangsarbeiter ausschließt.

    stellvertretend für viele andere:
    http://www.ekd.de/aktuell_presse/pm7_2004_ekhn_ekkw_zwangsarbeiter.html
    Zitat:“ Der Frauenanteil betrug 54 Prozent. Das Alter der Frauen lag zwischen 15 und 68 Jahren und das der Männer zwischen 14 und 67, wobei die Mehrzahl, etwa 33% der zur Arbeit Gezwungenen, Anfang Zwanzig war. (…)
    Richhardt wies weiter darauf hin, dass der Begriff Zwangsarbeit erst nachträglich geprägt worden sei. In der NS-Zeit habe es ihn noch nicht gegeben. “

    http://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/ns-zwangsarbeit-fur-die-evangelische-kirche/ns-zwangsarbeit-fur-die-berliner-kirche/
    Zitat: „Die Deutschen hätten über viele Jahrzehnte vergessen und verdrängt, dass Millionen Frauen und Männern durch Verschleppung aus der Heimat und Zwangsarbeit großes Unrecht angetan wurde. Auch wenn die vorliegenden Ergebnisse kein „schnelles, pauschales Urteil“ zuließen, zeige sich, „dass Zwangsarbeit nicht nur in der Diakonie, sondern auch im Bereich einer Landeskirche erhebliche Ausmaße annehmen konnte.“ Zwangsarbeit sei mit der Würde des Menschen nicht vereinbar, erklären Huber und Gohde. „Indem evangelische Einrichtungen an dem nationalsozialistischen System der Zwangsarbeit partizipierten und davon profitierten, beteiligten sie sich an einem Zwangs- und Unrechtssystem und wurden mitschuldig an den zumeist jungen Menschen, denen durch Zwang, Entmündigung und Erniedrigung Unrecht und Leid zugefügt wurden.“

    (die Katholen-Verweise hab ich weggelassen, die sind hier eh dauernd überrepäsentiert 😉

  2. […] legen, was nicht in der Studie steht und weitaus interessanter ist, als diese. Grundsätzlich dazu: https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/01/16/was-heist-und-zu-welchem-ende-arbeitet-man-geschichte… und […]


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