Angesichts des Grauens
Die Vergangenheit ist gegenwärtig. Was wir aus den Geschichtsbüchern kennen, die unvorstellbaren Grausamkeiten im Zusammenhang mit religiösen Wahn, was wir aus nicht so ferner Vergangenheit vom Nazi-Wahn der Judenvernichtung wissen, wissen sollten, was wir in noch jüngster Erinnerung haben, die Greuel des Aufpralls der Völker auf dem Balkan, das erleben wir gerade als sprachlose Zuschauer des Todesfurors in Nah-Ost, aber auch anderswo.
Menschen sind in der Lage, andere gefühllos abzuschlachten, aber im Hochgefühl zu den „Guten“ oder gar den „Gottgefälligen“ zu gehören.
Trotz der Aktualität des Geschehens vor unserem TV-Fenster müssen wir sehen, dass in historischer Perspektive solche kollektiven Eruptionen wohl zur episodischen Normalität gehören, so wie Vulkanausbrüche, Schlechtwetterperioden oder Epidemien. Dennoch immer die bange Frage: Was treibt Menschen dazu, dem anderen ein reißender Wolf zu werden, zu Menschen, die zuvor friedlich-zivil mit denen zusammenlebten, die sie nun massakrieren?
Erklärungen gibt es – nicht gerade viele – so aber doch einige[1]. Doch keine reicht aus. Wie beim Phänomen der Resilienz bleibt die Frage, warum Menschen mit gleichem Erziehungs- und Erlebenshintergrund sich so oder auch so entwickeln, zum friedlichen Bürger oder zum „Raubtier“, ja, warum manche beide Rollen offenbar gut vereinbaren können, den biederen Familienvater, der seine Kinder liebt und streichelt und den KZ-Kommandanten.
Ich beschäftige mich schon länger mit der Thematik[2] und meine, wir müßten über ein paar Aspekte neu nachdenken.
Da wäre zunächst der Begriff der Psychopathie[3]. Die Gefühlskälte und der Mangel an Empathie; sind sie angeboren oder „erlernt“? Oder ist ihre Ursache das Fehlen von Spiegelneuronen[4]?
In diesem Zusammenhang wäre nach der Bedeutung des Bindungsgeschehens[5] im Baby- und Kleinkindalter zu fragen. Sind bindungsgestörte Mütter, aber auch Väter die Ursache für eine Emotionsarmut, die bei „passender“ Gelegenheit ausgelebt wird, unterstützt zuweilen durch die endlich gefundene Geborgenheit in einer Gruppe, die mit gutem Gewissen und im Gehorsam gegenüber einer unbarmherzigen Gottheit oder Ideologie, alles erlaubt oder gar fordert?
Könnten wir auch das Funktionieren der Mafiosi damit erklären? – Und auch die Skrupellosigkeit des Wirtschaftsverbrechers?
Ist der Amok-Läufer dann nur der einsame Wolf, der auf eigene Faust und eigene Rechnung Rache nimmt an denen, die die innere Not des bindungs- und gefühllosen Narziß nicht erkannt und ernst genommen haben?
Wir müssen mehr wissen. Forschung tut not, um gegen die wiederkehrenden Epidemien der aktivierten menschlichen Kälte besser gefeit zu sein.
[1] Hervorgehoben seien nur die Debatte über die Rolle der Religion als Quelle von Gewalt: https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/20/monotheismus-gewalt/ und die erhellenden, aber doch nur einiges erklärenden Artikel in der NZZ: http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/gottgefaellige-sadisten-1.18427581
http://www.nzz.ch/feuilleton/nur-wo-es-einen-gott-gibt-ist-alles-erlaubt-1.18377205
[2] Dierk Schäfer, Terror / MACHT / Terrorismus – Legitimierung, Delegitimierung und die unerträgliche Reinheit der Herzen http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/dpb_print.php?id=3452.
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Psychopathie
Vielen Dank für diesen sehr nachdenklichen und informativen Artikel. Ich habe im Anschluss daran auch Ihren Essay „Terror/Macht/Terrorismus“ gelesen – Dank auch hierfür.
Eins allerdings verwirrt mich: Wenn Sie die Frage nach den „bindungsgestörten Müttern, aber auch Vätern“ stellen. Was bedeutet „Bindung“ in einer Welt, in der die Menschen durch Kriege, Hunger, Katastrophen, Ausbeutung aller Art in stetiger Wanderung begriffen sind? Nicht nur die, die von aus ihrer Heimat tausende von Kilometern flüchten müssen – auch die, die aus beruflichen Zwängen innerhalb des Landes oder Europas hin- und herzuwandern gezwungen sind? Gibt es überhaupt Mütter und Väter (und damit Kinder), die NICHT bindungsgestört sind?
Im NZZ-Artikel werden traditionelle bzw. mittelständische Familien als Gegenstück zu Familien aus sozial prekären Verhältnissen genannt, als ob der Verfasser damit sein Erstaunen zum Ausdruck bringen wollte, dass vorgenannte ein Garant für irgendetwas seien. Sind sie das? Wohl kaum…
Keine soziale Schicht ist Garant für was auch immer. Die Resilienz von Kindern mit den ungünstigsten Bedingungen belegt das. Was Sozialarbeiter meist unterschlagen, wenn sie immer wieder sagen, „das kommt in allen Schichten vor“, ist die Häufigkeitsverteilung. In „besseren“ Familien ist es leichter „gut“ zu sein, als in belasteten. Die sind nicht besser, sie haben es nur besser – und versagen häufig genug. Dasselbe gilt für gute und schlechte Zeiten. Der Zufall von Schicksalen ist ungerecht. Gute Politik sorgt für Ausgleich, für Aufklärung und Information, was Kindern gut tut, sorgt dafür, dass Chancenungleichheiten gemildert werden. Schlechte Politik sorgt in erster Linie für die Politiker und ihre Wiederwahl, vulgo Machterhalt. Dabei fällt zuweilen etwas für die Wähler ab, für die Kinder nur ausnahmsweise, die haben bei uns ja auch kein Wahlrecht.