Extrawurst für ehemalige Heimkinder?
Die „Extrawurst“
Sollte ehemaligen Heimkindern tatsächlich eine Heimeinweisung im Alter erspart werden, wie vom Sozialausschuss des bayrischen Landtags gefordert, könnten manche andere, die auch nicht in ein Heim wollen, das als Extrawurst missverstehen, die sie auch haben wollen. Ich habe darüber geschrieben und von Erika Tkocz in einem Kommentar[1] aufgelistet bekommen, warum für viele ehemalige Heimkinder eine Heimeinweisung nicht zumutbar ist. Diese Liste ist ziemlich umfassend und man kann nur hoffen, dass Sozialpolitiker und Heimträger sie nicht nur zur Kenntnis, sondern sich auch zu Herzen nehmen.
Ob Alten- und Pflegeheime überhaupt zumutbar sind, wäre eine Diskussion wert. Eine Diskussion, die mir wichtiger erscheint als die über Sterbehilfe.
Hier der unveränderte Kommentar von Frau Tkocz:
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Die „Extrawurst“ ist keine mehr, wenn man sich einmal damit beschäftigt, wieso es Ehemaligen nicht möglich ist in ein Altersheim/Pflegeheim zu gehen.
Es dürfte sicherlich für jeden Menschen schwer sein, so er denn keine Alternativen hat und nicht mehr kann in ein Altersheim zu gehen. Niemand macht es gerne und es erfordert ein hohes Maß an Bereitschaft diese neue Lebensform anzunehmen. Allerdings unterscheiden sich hier doch die Menschen in ihrer Vorgeschichte und so muss man dann schon auf dem zweitem Blick jene Biografie der Ehemaligen berücksichtigen, die in besondere Weise die erforderlichen Copingprozesse kaum möglich machen dürften oder auch eine unzumutbare Härte darstellt.
Ein Altersheim ist für ehemalige Heimkinder eine Wiederholung von Abhängigkeit und Herabwürdigung, denn für Jene, denen das Altersheim einmal nicht erspart bleibt, haben diese Heime so etwas wie einen „Wiedererkennungswert“ und weckt Erinnerungen alter Erfahrungen (Trigger) und dadurch bedingt besteht die Gefahr der Retraumatisierung.
Das können im Einzelnen sein:
• Aufgabe des sozialen Umfeldes und der eigenen Wohnung
• Verlust von sozialen Kontakten
• Unterbringung in einem Heim mit vielen Bewohnern
• Wiederholter Umgang mit einer „Heim“-Leitung
• Fluktuation von Heimbewohnern und Pflegepersonal
• Unausgebildete Hilfskräfte
• Essen im Speisesaal
• Gerüche von Gemeinschaftsunterkünften erneut ertragen müssen
• Das Zimmer mit anderen Bewohnern teilen müssen.
• Gemeinschaftlich den Baderaum nutzen müssen.
• Geringer Bereich für Möbel und anderes Eigentum.
• Begrenzung oder gar Verbot, eigene Bilder aufzuhängen.
• Eigentum unverschlossen und öffentlich für das Personal zugänglich.
• Verlust von Eigentum durch Diebstähle.
• Öffnung des Intimbereichs bei Pflege.
• Den Stimmungen und Launen des Personals und der Mitbewohner ausgesetzt zu sein.
• Sich kaum zurückziehen zu können um für sich alleine zu sein.
• Öffentlich zugängliche private Daten – auch bei Formalien.
• Wäschenummern oder Wäschezeichnung
• Unter Umständen Zwangsernährung
• Unter Umständen Fixierung
• Unter Umständen Medikamentierung zur Ruhigstellung
• Zuteilung von Taschengeld (nur begrenztes Taschengeld).
• Abhängigkeit von anderen.
Bedeutung der totalen Institution für ehemalige Heimkinder
Bewohner eines Heimes- je nach Beschaffenheit der Einrichtung-sind mehr oder weniger stark jenem Verhaltensreglement ausgesetzt ist, das sich aus der Totalität der Heime ergibt: der Nicht-Freiwilligkeit, deren auch Bewohner ohne Heimerfahrung ausgesetzt sind, die aber nicht die traumatisierende Erfahrungen ehemaliger Heimkinder haben. So arbeiteten die Ehemaligen an dem Problem der Kollektivierung nach ihrer Heimentlassung mehr oder weniger mühsam, sich selber als Individuum zu sehen und zu spüren. Nun werden diese Bemühungen im Alter wieder zerstört, denn jetzt gelten wieder die Handlungsabläufe der früheren Heimerfahrungen wie z.B. das gemeinsame Essen im Speisesaal nach bestimmten Uhrzeiten oder das Waschen und Schlafen gehen. Allen wird die gleiche Behandlung zuteil. Auch die persönlichen Habseligkeiten/ Eigentümer nur in einem geringem Ausmaß mitnehmen zu dürfen, mindert sowohl die Individualisierung, aber macht auch deutlich, dass am Ende des Lebens eine Wiederholung der früheren Erfahrungen im Fokus steht. Die eigenen Bedürfnisse müssen nun im Hintergrund treten, denn nur so können die Ziele der Institution erreicht werden. Diese werden durch ein Berechnungsmodell, das die einzelnen Handlungen in Minuten vorschreibt diktiert.
Konflikte, die aus der hierarchische Gliederung des Heims gegeben ist und auch typisch für eine totale Institution ist, und die den Zweck verfolgt, die Arbeitsabläufe zu erleichtern. Pflegeeinrichtungen unterliegen bestimmten ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen, die einen gewissen Grad der Hierarchisierung zur Voraussetzung haben müssen. Heimbewohner sind in der Hierarchie relativ weit unten anzusiedeln, da ihre ganz spezifischen, individuellen Bedürfnisse bei beruflichen und organisatorischen Entscheidungs-Prozessen nur geringfügig berücksichtigt werden. Es besteht eine Diskrepanz zwischen einer großen, gemanagten Gruppe, „Heimbewohner“ auf der einen Seite, und dem weniger zahlreichen Pflegekräften auf der anderen Seite. Für den Heimbewohner gilt, dass er in der Institution lebt und beschränkten Kontakt mit der Außenwelt hat. Das Personal arbeitet häufig auf der Basis des 8-Stundentages und ist sozial in die Außenwelt integriert. Es handelt sich also um eine höchst ambivalente Sozialbeziehung zwischen Personal und Bewohner, die sich ständig im Spannungsgefüge von Hilfe und Kontrolle bewegt, auf unterschiedlichen Bedürfnissen und Einstellungen beruht und in ihrer Ungleichwertigkeit auseinanderklafft.
Für ehemalige Heimkinder bedeuten Merkmale totaler Institutionen eine ständige Triggergefahr und schon alleine der Gedanke im Alter wieder in ein Heim gehen zu müssen ist mit so vielen Ängsten und Erinnerungen der Heimerfahrung verbunden, dass die Gedanken einer Exitoption (Suizid) als Lösung betrachtet wird. Viele Ehemalige haben sich aus den traumatischen Erfahrungen ihre eigene sehr persönliche Welt geschaffen um mit der grausamen Erfahrung der Heimzeit umzugehen. So ist z.B. die Erfahrung des „Eingesperrtseins“ später so bewältigt worden, in der eigenen Wohnung alle Türen aufzulassen. Auch das frühere Zwangsessen ist häufig noch so gegenwärtig in dem Bewusstsein sich auf ganz bestimmte Nahrungsmittel zu beschränken, um nicht ständig an die früheren unangenehmen Situationen erinnert zu werden. So haben sich viele Ehemalige ihr eigenes Leben gestaltet und konnten auch so überleben. Es wäre eine grausame Vorstellung sie wieder in ein Heim schicken zu wollen und sie ständig Situationen aussetzen zu wollen, die sie viele Jahrzehnte lang versucht haben zu vergessen, zu verarbeiten oder aber auch zu verdrängen.
So ich hoffe einigermaßen verständlich gemacht zu haben, wieso es nicht um eine „Extrawurst“ geht .
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[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/08/06/manche-theologen-sind-nicht-so-kleinglaeubig-wie-manche-kleinglaeubige-glauben/#comment-7093
Bravo Erika! Und danke Herr Schäfer fürs einsetzen.
Ich finde das dieses brennende Thema einfach zu wenig Beachtung findet.
Für mich persönlich gilt: sollte ich in so ein Heim müssen weil die Grundsicherung nichts anderes hergibt , die Diakonie nicht in der Lage und willens ist den ehemaligen Heimkindern , denen sie das Leben gestohlen hat, wenigstens im Alter einen würdevollen Abgang zu geben , dann gebe ich mir die Kugel, die Pille oder was auch immer 😦 😦
[…] und einen lesenswerten Kommentar gepostet, der sehr sachkundig auf die Problemlage einging: https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/08/06/extrawurst-fuer-ehemalige-heimkinder/ […]