Dierk Schaefers Blog

Damit der Boden wieder trägt – Seelsorge nach sexuellem Missbrauch

Posted in Kriminalität, Psychologie, Religion, Seelsorge, Täter, Theologie, Therapie by dierkschaefer on 25. Januar 2016

Dieses Buch ist notwendig, schreiben die Autorinnen im Vorwort zu ihrem Buch Damit der Boden wieder trägt – Seelsorge nach sexuellem Missbrauch. Sie haben Recht damit. Ihre Begrün­dung: Seelsorger/innen sind unsicher. Sie trauen sich die seelsorgliche Begleitung Trauma­tisierter oft nicht zu und reagieren hilf- und ratlos. Sie fürchten, dem Opfer sexueller Gewalt nicht gerecht werden zu können. Noch immer werden Opfer von sexueller Gewalt von der Seelsorge nicht wahrgenommen oder gar abgewehrt.

 

Die Autorinnen sind mutig. Schließlich sind die beiden großen Kirchen in Miss­brauchs­skandale ver­strickt und machen dabei keine gute Figur. Die Frage ist, ob Missbrauchsge­schädigte überhaupt Zutrauen fassen zu Seelsorgerinnen[1], die im kirchlichen Dienst stehen. Zudem dürften Seelsorger die einzige Gruppe sein, die von ihrem beruflichen Selbst­ver­ständnis her bereit ist, missbrauchten Men­schen unentgeldlich zuzuhören und hilfreiche Gespäche zu führen.[2] Die kostenfreie Zuwendung ent­bindet nicht von Anforderungen an die Professionalität der Gespräche. Die soll durch dieses Buch gefördert werden.

 

Die Autorinnen können offenbar auf große Erfahrung im seelsorglichen Umgang mit miss­brauchten Menschen zurückblicken und aus diesen Erfahrungen schöpfen.

Die genannten Zielgruppen für dieses Buch sollten aber erweitert werden. Nicht nur Opfer von Miss­brauch sollten es lesen (als Einschränkung wird auf mögliche Retraumatisierungen hingewiesen), nicht nur die Seelsorgerinnen, an die sich solche Menschen wenden, nein – und zuallerst, denke ich – sollten Kirchenleitungen das Buch lesen, angefangen vom Bischof persönlich und den Spitzen der Kirchen­ver­waltung bis zu den mit diesen Fragen beschäftigten Mitarbeitern. Doch sie werden es wohl nicht tun. Sonst könnten sie – endlich – die betroffe­nen Menschen verstehen und angemessen mit ihnen umgehen (lassen)[3].

 

Von diesen Menschen und den Umgang mit ihnen handelt das Buch. Aus eigenen Erfahrungen kann ich bestätigen: Dieses Buch ist notwendig. Auch habe ich viel Neues gelernt.

  1. Angesichts vielfachen sexuellen Missbrauchs, über die Zahlen könnte man streiten, muss „man“, nicht nur der Pfarrer im Gottesdienst, darauf gefasst sein, dass es unter den Zuhörerin­nen kirchlicher, aber auch sonstwie öffentlicher Rede, missbrauchte Personen gibt, die auf der Suche nach Verständnis sind, aber zudem retraumatisierbar. Doch diese „Fallgruppe“ wird nicht erkannt und berücksichtigt.

Die Autorinnen zeigen Möglichkeiten auf, die missbrauchten Menschen Mut machen können, Ver­trauen zu fassen und Seelsorge zu suchen. Den Seelsorgerinnen wird Mut gemacht, indem sie mit diesem Buch auf solche Begegnungen sachkundig vorbereitet werden. Die vielen Redundanzen sollten dafür sorgen, dass jeder am Schluss weiß, was Missbrauch bedeutet und wie Missbrauchten ange­messen seelsorglich zu begegnen ist.

  1. Was mir bisher überhaupt nicht deutlich war: Missbrauchte haben ein Recht nicht nur auf Zorn, sondern auch auf Hass. Dem darf man nicht moralisierend begegnen. Zum ersten Mal habe ich die fürchterlichen Hass-Bezeugungen in manchen Psalmen verstanden. Auch die angewandte Form der biblischen Exegese[4] war mir neu – und hilfreich. Mein Theologiestu­dium liegt nun schon lange zurück, doch ich kann mir vorstellen, dass auch jüngere Kollegen hier etwas lernen können.

Hilfreich für die Seelsorge im kirchlichen Rahmen dürfte die nach Themen differenzierende Liste brauchbarer Bibelstellen im Anhang des Buches sein.

 

Nun zu den Opfern. Auch hier sollte man die Zielgruppe erweitern. Beim Lesen ging mir die ganze Zeit der Spruch von Jean Améry durch den Kopf: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“ Zitiert wird er erst gegen Ende des Buches. Doch diese Erkenntnis ist charakte­ristisch auch für Missbrauchte und erweitert das Thema auf alle, die in einer überwältigenden Gewalt­situation in Todesängsten waren und diese nicht vergessen können, weil überall, oft unerwartet und auch unverstanden, Trigger das Trauma neu auslösen können[5]. In diesen Menschen ist etwas unwider­ruflich zerbrochen: Das Grundvertrauen in die Zuverlässigkeit der (normalen) Welt. Für uns „Normalos“ ist das schwer vorstellbar und wir meinen, irgendwann müssten solche Erlebnisse doch einmal abgelegt und vergessen werden können. Diese Erwar­tung ist genau die Zumutung, die trauma­tisierte Menschen sofort auf Distanz gehen lässt. Nur sie haben zu entscheiden, was sie für überwun­den halten können – und sie sind überrumpelt, wenn der nächste Trigger wieder funktioniert.

 

Das Buch behandelt zielgruppengemäß zwei Aspekte: Die psychische Situation der Missbrauchten und die Herausforderung der Seelsorgerinnen.[6] Die Seelsorger müssen ihre Grenzen erkennen, heißt es, sie müssen wissen, wann eine Psychotherapie erforderlich ist.

Ein dritter Aspekt wird nur angedeutet: Der forensische.

Das dürfte seinen Grund in der zu Recht geforderten Parteilichkeit haben. Die Seelsorgerin hat fest auf der Seite der missbrauchten Person zu stehen, sie darf keine Zweifel anmelden, niemanden entschul­digen, hat nicht einmal Erklärungen für den Missbrauch anzudeuten. Dies ist erforderlich, um das Vertrauen nicht zu stören oder gar zu zerstören. Obwohl ich auch Fälle kannte, in denen ein behaup­teter Missbrauch nicht stattgefunden hatte, hat mir ein jahrelanger Briefwechsel mit einer missbrauch­ten jungen Frau gezeigt, wie wichtig Parteilichkeit für das Vertrauen ist, ein Vertrauen, das bis zur Übersendung der Tagebücher reichte. Dennoch müssen Seelsorgerinnen auch darauf vorberei­tet sein, dass ein Miss­brauchs­erlebnis auch suggeriert sein kann, zuweilen therapieinduziert als die logische Erklärung für bestimmte Diagnosen.

Der Seelsorger hat hier gewiss nicht zu explorieren. Auch ein vermeintlicher Missbrauch ruft seelische Not hervor. Doch zuweilen steht am Ende der Wunsch nach gerichtlicher Klärung, strafrechtlich wie auch zivilrechtlich mit dem Ziel von Entschädigung. Richterinnen sind keine Seelsorger. Sie achten auf die Verjährungsgrenzen, dann auf die Beweisbarkeit und Glaubwürdigkeit der Vorwürfe. Der angefor­derte Gutachter geht, sofern er professionell arbeitet, von der „Nullhypothese“ aus: der Miss­brauch habe nicht stattgefunden. Nun sucht er nach Gründen, um diese Hypothese zu widerlegen. Der Gutachter Max Steller sieht haupt­sächlich zwei Ursachen für die falsche Wahrnehmung/­Erinne­rung vermeintlicher Opfer. Da ist a) die Suggestion, vornehmlich bei Kindern, und b) psychische Stö­rungen, vornehmlich bei Personen, die schließlich dank Therapie oder eigener „Einsicht“ Missbrauch für die Ursache ihrer Störungen halten[7], schließlich gibt es c) Menschen, die keinen sexuellen Missbrauch erlebt haben, ihre Not aber so benennen, d.h. sex. Missbrauch ist die Chiffre für ihre reale Not, die aber andere Ursachen hat. Das Terrain ist also schwierig – und steckt voller Minen. Glücklicherweise ist die Überprüfung der Richtigkeit der Eigenaussagen des Opfers nicht Aufgabe der Seelsorge. Doch sollte das Opfer die Sache gerichtlich klären wollen, muss es vorbereitet werden. Zunächst auf die Enttäuschung, wenn der Fall verjährt sein sollte, dann auf den Richter, der nach Beweisen fragt oder nach einem Sachverständigen-Gutachten. Damit wird alles wieder aufgerollt – auch die Emotionen. Hält das Opfer das durch?

 

Ein wirklich weites Feld. Das Buch will Mut machen und helfen, es zu betreten, damit diese Menschen aus ihrer Isolation und ihren Selbstvorwürfen herausfinden.

Dazu ist es sehr gut geeignet.

Erika Kerstner / Barbara Haslbeck / Annette Buschmann, Damit der Boden wieder trägt – Seelsorge nach sexuellem Missbrauch, 1. Auflage 2016, 240 Seiten, ISBN: 978-3-7966-1693-8, erscheint im Februar 2016, 19,99 €

[1] Die Autorinnen benutzen fast durchgängig „gendergerechte“ Benennungen (Seelsorger/innen). Mich stört das beim Lesen ungemein. Um den Sachverhalt klarzustellen: Missbraucher sind zumeist männlich – es gibt auch Ausnahmen; die Opfer sind meist Kinder, weiblich oder männlich. Menschen, an die sich Missbrauchte wenden, dürften wohl eher weiblich sein. Da das im Ansatz ökumenische Buch aber durchgehend auf katholische Normalität rekurriert, kommt über das Beichtsakrament den Pfarrern, also Männern, eine Bedeutung zu, die man im evangelischen Raum kaum finden wird. Ich schreibe in dieser Rezension demnach abwechselnd von Seelsorgern und Seelsorgerinnen.

[2] Sicherlich gibt es auch außerhalb des kirchlichen Rahmens Einzelne und Gruppen, die für solche Menschen da sind. Vergleichsweise sehen wir das an der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge. Hier stechen auch die Kirchen als Organisationen positiv heraus. Es ist allerdings leichter, Hilfe für Menschen anzubieten, die nicht kirchlich vorgeschädigt sind.

[3] Das gilt auch für den kirchlichen Umgang mit den gedemütigten, misshandelten und ausgebeuteten ehemaligen Heimkindern.

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Materialistische_Bibellekt%C3%BCre

[5] Von „Flashbacks“ berichten auch Unfallopfer und Notfallseelsorger.

[6] Dazu wird auch mehrfach die Rücksichtnahme auf die Institution Kirche, die Arbeitgeberin der Seelsorger genannt. Ich habe das zunächst für ein eher katholisches Problem gehalten; für mich als Protestanten ist die Kirche ein Ding von dieser Welt und darum eher und heftiger kritisierbar, als das für Katholiken denkbar ist. Doch das scheinbar loyale Wegducken meiner Kollegen, oder auch das Ausweichen wegen der Peinlichkeit, Missbrauch und Kirche zusammenzubringen und zu thematisieren, [Dierk Schäfer, Scham und Schande, Die Kirchen und die Heimkinderdebatte, https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2010/05/essay-pfarrerblatt.pdf] hat mich an die Ökumenizität des Phänomens erinnert.

[7] mehr dazu: https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/11/02/politisch-korrekt-ist-dieses-buch-ganz-und-gar-nicht/

5 Antworten

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  1. ekronschnabel said, on 25. Januar 2016 at 14:04

    Ich leitete diese Rezension u.a. an die Unabhängige Kommission zur „Entschädigung“ von Missbrauchsopfern im Bereich der Landeskirche Hannover weiter, weil diese Richter in eigener Sache noch mit anhängigen Fällen befasst sind. Die UK ist auch für andere Landeskirchen tätig.

    Vielleicht können diese Kommissionsmitglieder ja mal was aus dem Buch lernen, denn sie trafen einige mehr als merkwürdige Entscheidungen gegen Opfer, denen es an Beistand fehlte.

    Jetzt spreche ich nur für mich: Bevor ich mich als Kirchenopfer an eine(n) Pfarrer oder Pfarrerin wende, um mich anzuvertrauen, schiesse ich mir mit dem Strick durch die Brust ins Auge. Ich kenne auch keinen Metzger, der seinem Hund die Zuteilung der Wurstportionen an die Familienmitglieder überlässt.

    Damit der Boden wieder trägt empfehle ich sogenannte Baggermatten – und eine strikte Fernhaltung von den Geschäftsträgern der Mafiakonzerne mit dem Kreuz im Logo.

    • dierkschaefer said, on 25. Januar 2016 at 15:27

      Dann ist wenigstens die Rezension an einer richtigen Stelle, lieber Herr Kronschnabel.
      Ich schrieb:
      „zuallerst, denke ich – sollten Kirchenleitungen das Buch lesen, angefangen vom Bischof persönlich und den Spitzen der Kirchenverwaltung bis zu den mit diesen Fragen beschäftigten Mitarbeitern. Doch sie werden es wohl nicht tun.“ Wenn Sie Antworten erhalten: Ich bin darauf gespannt.
      Doch Sie, lieber Herr Kronschnabel, sollten es selber nicht nur bei der Rezension belassen, sondern auch das Buch lesen. Dann werden Sie feststellen, dass die „Konzerne mit dem Kreuz im Logo“ auch Mitarbeiterinnen beschäftigen, die mit ihren Mitteln sich voll den Opfern zuwenden. Ich vermute allerdings, dass Sie meine Bedenken teilen: „Die Autorinnen sind mutig. Schließlich sind die beiden großen Kirchen in Missbrauchsskandale verstrickt und machen dabei keine gute Figur. Die Frage ist, ob Missbrauchsgeschädigte überhaupt Zutrauen fassen zu Seelsorgerinnen, die im kirchlichen Dienst stehen“ und meinen, wie ich hinzufügen möchte, dass bibelorientierte Gedanken in ihrer Situation hilfreich sein könnten. Doch die Bibel ist ein Thema, das wir schon hatten.

  2. […] [4] Was mir bisher überhaupt nicht deutlich war: Missbrauchte haben ein Recht nicht nur auf Zorn, sondern auch auf Hass. Dem darf man nicht moralisierend begegnen. Zum ersten Mal habe ich die fürchterlichen Hass-Bezeugungen in manchen Psalmen verstanden. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/01/25/damit-der-boden-wieder-traegt-seelsorge-nach-sexuelle… […]

  3. […] Damit der Boden wieder trägt – Seelsorge nach sexuellem Missbrauch, 25. Januar 2016, https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/01/25/damit-der-boden-wieder-traegt-seelsorge-nach-sexuelle… Betroffene gibt es auch im Kreis der Pfarrer. Ich kenne ein dramatisches Beispiel. Die Kollegin war […]


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