»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XVIII
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Achtzehntes Kapitel
Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie …
Bei einem dieser häufigen Marktbesuche, als ich gerade wieder gestohlene Schlangengurken gegen Brot eintauschen wollte, wurde ich Zeuge einer standrechtlichen Erschießung am Rande des Marktplatzes. Jemand war auf die clevere Idee gekommen, wie man den fleischarmen Markt besser auslasten könnte. Er holte sich dafür, nachdem er es ausgekundschaftet hatte, des nachts frische Kinderleichen aus den Gräbern und verhökerte die besten Stücke für Horrorpreise auf dem Markt. Solche Blüten trieb der Krieg „Bloß gut, dass wir uns solche Preise nicht leisten konnten!“ Da waren mir die Katzen, die auch immer seltener wurden, doch schon lieber.
Um im Winter auch etwas für unseren Ofen zu haben, oder auch schon mal was anderes dafür einzutauschen, gingen wir auf Kohlenklau.[1]
Meine Schwester ließ sich dann mit ihren 11 Jahren lieber auf den Tisch legen.
In der Nähe unseres „Wohnbezirkes“ war ein Güterbahnhof. Nachdem mein Bruder ausgefallen war, mussten meine Schwester und ich eine neue Arbeitsaufteilung schaffen. Früher war mein Bruder auf den Tender einer Lok geklettert, meine Schwester hatte die Kohlen unten eingesammelt und in die Rucksäcke verstaut, während ich Schmiere stand. Jetzt aber musste meine Schwester auf die Lok und ich unten beides besorgen. Einsammeln, einpacken und Schmiere stehen. Dabei wurde ich Knirps offensichtlich überfordert. Es kam, wie es kommen musste! Erwachsene durften sich bei solch einer Tätigkeit überhaupt nicht erwischen lassen. Das mindeste, was ihnen dabei drohte war, ab nach Sibirien – hieß es jedenfalls. Wir Kinder, so hofften wir, riskierten höchstens eine Tracht Prügel. Nun, um im Winter einen warmen Hintern zu haben, riskierten wir eben diesen durch Schläge zu bekommen, anstatt am warmen Ofen. Als wir in den Wachraum geführt wurden, stand dort ein riesiger warmer Kachelofen. Er bollerte richtig vor Hitze. Die Russen konnten sich da schon ganz anders mit Brennmaterialien versorgen als wir armen Würstchen. Würstchen wollte man auch uns machen, oder zumindest in den Ofen werfen, wobei demonstrativ der Ofen geöffnet wurde für die Frechheit, die wir begangen hatten. Klauen ist eine Sache, sich erwischen lassen, die andere Seite der Medaille. Soviel Angst, wie uns die Wächter des Bahnhofs einjagten, hatte der ganze Krieg in uns vorher noch nicht erweckt. Ich kann es nicht sagen, es wurde über solche Dinge auch später nicht mehr gesprochen, ob meine Schwester schon früher hatte dran glauben müssen. Um uns vor dem drohenden Feuertod zu retten, wie meine Schwester wohl meinte, ließ sie sich schon eher mit ihren nunmehr 11 Jahren lieber auf den Tisch legen. Eine Tracht Prügel hätte sie sicherlich vorgezogen, als das was nun mit ihr geschah. Weil der dritte es gar nicht mehr aushalten konnte, musste ich meinen Mund herhalten. Hinterher durften wir sogar die bereits eingesammelten Kohlen mitnehmen. Meine Mutter hätte bestimmt damals schon graue Haare deswegen bekommen, hätte sie es erfahren. Meine Schwester nahm mir deshalb, weil sie sich so etwas dachte, den Schwur ab, lieber davon der Mutter gegenüber nichts zu erwähnen, wie teuer wir diesmal unsere Kohlen eingekauft hatten. Überhaupt nahmen die Vergewaltigungen überhand. Es gingen zwei Beauftragte durch die Straßen und suchten uns auf. Wir wurden darauf hingewiesen, uns nicht einschüchtern zu lassen, wenn doch, uns soviel als möglich von solchen Unholden zu merken und dann zur Miliz zu kommen. Das sah in der Theorie ganz gut aus, die Praxis aber?
Ich fahre lieber fort die chronologische Reihenfolge meines Lebens aufzuzeigen.
Wir waren die besiegten Deutschen, wir hatten zu gehorchen.
Wieder sollte ein einschneidender Abschnitt für uns beginnen. Nur ganze 24 Stunden ließ man uns Zeit, das Nötigste (wieder einmal) zusammenzupacken und uns bereit zu halten. Ganze Hundertschaften durchkämmten die Trümmer, um nach Deutschen zu suchen, und ihnen davon Mitteilung zu machen, dass wir am nächsten Tag mit Sack und Pack auf der Straße zu stehen hätten. Abmarsch bereit! Was für einen Sinn hätte es ergeben, sich dagegen aufzulehnen oder gar weg zu laufen? Wir waren die besiegten Deutschen, wir hatten zu gehorchen, wie man vorher ja auch dem Schicklhuber[2] gehorcht hatte und dadurch in diese Lage gekommen war. Wie musste das doch erst die treffen, die an den Endsieg geglaubt hatten? Ich wusste nichts von einem Sieg über andere Rassen, der hätte erkämpft werden sollen. Ich wusste, dass wir von überall wieder vertrieben wurden, wo wir uns gerade eingelebt hatten. Die kleinen Gruppen auf den Straßen am nächsten Tag wurden zusammengetrieben. Ja, zusammengetrieben! Aus allen Ecken kamen sie zusammengeströmt. Die unübersehbaren drohenden Gewehre ließen es uns leichter fallen, den Weg zu gehen, den man uns wies. In den Reihen wurde schon gemunkelt, dass die Russen mit uns jetzt das gleiche tun würden, wie der Adolf es mit Juden und Russen getan hätte. Ich wusste nicht, was dieser gewisse Adolf mit diesen Leuten gemacht hatte. Was Juden überhaupt waren, wusste ich schon gar nicht. Die Erwachsenen hätten mich ruhig etwas besser darüber aufklären können, dann hätte ich später nicht soviel darüber nachlesen müssen. Ohne besondere Angst, die die Erwachsenen aber zu haben schienen, trottete ich schicksalsergeben im Strom mit. Auch meine Mutter, auf einem Dorf geboren und groß geworden, schien die Angst der Städter nicht so ernst zu nehmen. Auf dem vorbezeichnetem Güterbahnhof, wo meine Schwester mir noch einen Verschwörerblick zuwarf, stand ein langer, sehr langer – zu langer – Güterzug für uns bereit.
1949 ging es erst weiter.
Ich will ja gar nicht behaupten, dass wir dort wie das liebe Vieh hineingetrieben wurden oder wie Ölsardinen eingepfercht wurden, aber weit entferne ich mich damit nicht von der Wahrheit. Ich will ja auch keinen Roman schreiben. Eine Mischung aus Erlebtem und Wunschdenken. Keiner von uns Betroffenen hatte so einen Wunsch geäußert. Aber danach fragte auch niemand. Der Zug ruckte an, und ab ging es wieder einmal ins Ungewisse. Es hatte keiner für nötig gehalten, uns darüber aufzuklären, wohin wir unser Ticket gelöst hatten. Das Ticket hatten wir umsonst bekommen, weil wir Deutsche waren. Einen geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul. Warum der Zug bloß so langsam war? In Insterburg[3] sollten wir es erfahren. Entweder die Lokomotive war zu schwach auf der Brust oder der Zug war zu lang. Jedenfalls mussten ein paar Waggons abgekoppelt werden, bevor die Reise weiterging. Wir hatten das Pech im Unglück, am hinteren Ende des Zuges gelandet zu sein. Dabei waren wir doch morgens schon auf der Straße gestanden und hatten lange warten müssen, bis wir in Richtung Bahnhof marschierten. Kinder fühlen sich oft als ungerecht behandelt. Ich, wir, hatten nicht lange Zeit darüber nachzudenken, warum es so war, wie es war. Man verbrachte all die, die hatten aussteigen müssen, wieder in ein bestimmtes Stadtgebiet, und hieß uns so gut einzurichten, wie es eben ginge, es würde bald weitergehen. Wieder krochen wir über Trümmer, um das Nötigste zusammen zu suchen. Das Nötigste wurde immer mehr. 1949 ging es erst weiter.
Ich bekam so viele Fische, wie noch nie!
Für Insterburg kommen nur wenige Erinnerungen auf. Eine riesige Fischfabrik. Die lag aber auf der anderen Seite des für uns erlaubten Bezirkes. Dort hinüber zu kommen war gar nicht so leicht. Erst recht nicht für einen so kleinen Knirps wie mich. Einige Male gelang es mir über eine einigermaßen heile Brücke zu gelangen, indem ich mich so dicht an einen Uniformierten anschloss, dass es für die Wache aussehen musste, wir gehörten zusammen. Mit ein paar erbeuteten Fischen zurück zu kommen, war nicht ganz so schwierig. Dieser Trick zog aber nicht lange, ich wurde durchschaut und wieder zurück gewiesen. Dann ließ ich mich zusammen mit Arbeitern über die Memel rudern. So tuend, als würde ich meinen Vater von der Schicht abholen. Das ging auch ganz gut. Bestimmte Arbeiter kannten mich schon recht gut, und warfen mir auch schon Fische zu, ohne dass ich sie darum anbetteln musste. Nicht alle Arbeiter waren so freigiebig. Ich musste mich schon an die Schichten halten, wo ich etwas bekam. Einmal hatte ich doch glattweg die „Fähre“, bestehend aus einem größeren Ruderboot, verpasst. Einsam und verlassen lag unten am Ufer das Boot. Der Bootsmann machte Pause; auf der anderen Seite des Flusses erwarteten mich wieder ein paar Fische. Eine eingeplante Mahlzeit für die ganze Familie. Schmalhans war bei uns Küchenmeister, was würden die zu Hause für enttäuschte Gesichter machen, käme ich mit leeren Händen nach Hause. Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie, ich konnte und wollte sie nicht enttäuschen. In meiner Verzweiflung kletterte ich ins Boot. Was die anderen konnten, konnte ich auch. Ich hatte ja genau gesehen, wie es gemacht wurde. Alles sah so leicht und einfach aus. Ruderblätter aufnehmen, ins Wasser tauchen, kräftig drücken, Ruderblätter anheben, etwas zurück schieben und wieder eintauchen. – Schon die Größe des Bootes vertrug sich nicht mit der meinen. Meine Arme waren viel zu kurz geraten, um die Ruder (hoch bekommen hatte ich sie ja schon!) richtig einsetzen zu können. Also gut, dann eben immer nur ein Ruder eintauchen, rüberrutschen und das gleiche auf der anderen Seite. Hatte ich ja auch schon gesehen, beim Anlegemanöver. Schon beim dritten oder vierten Eintauchen wurden die Biester immer schwerer. Das Boot begann sich zu drehen. Ich verlor eines der Ruder. Es schwamm einfach davon. Am Ufer waren schon einige auf mich aufmerksam geworden. Mit guten Ratschlägen wurde nicht gespart. Ich verstand zwar das Russisch perfekt, doch meine Kraft reichte nicht aus, die Ratschläge in die Tat umzusetzen. Das Boot bewegte sich zwar, sogar ziemlich schnell. Aber flussabwärts. Immer weiter vom Ufer entfernte es sich. Panik erfasste mich. Nicht alleine weil ich das Boot nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, sondern weil sich auch die Fischfabrik immer mehr entfernte. Dann verlor ich auch das zweite Ruder. Ich kannte noch nicht einmal eine Badewanne, wie sollte ich schwimmen können. Unter den vielen Schaulustigen befand sich aber ein beherzter Mann, ein noch relativ junger Soldat. Der hatte seine Uniform abgelegt, und schwamm auf mein Boot zu. Unterwegs erhaschte er eines der Ruder. Er war noch nicht einmal böse auf mich. Er sprach nur beruhigend auf mich ein und konnte ganz geschickt mit dem einen verbliebenen Ruder umgehen. Als ich ihm, während er ruderte, erklärte, weswegen ich dieses Risiko eingegangen war, ruderte er mich doch tatsächlich zur Fischfabrik hinüber, wo ebenfalls alles Maulaffen feil hielt. Mein Retter rief ihnen zu, was geschehen sei. Ich bekam so viele Fische, wie noch nie! Da scherten mich auch die bösen Schimpfworte nur wenig, mit denen der Fährmann mich am jenseitigen Ufer bedachte. Später zollte er mir sogar so etwas wie Respekt. Bei jeder weiteren Überfahrt erzählte er meine Geschichte jedem, der sich im Boot befand.
Die Russen nannten mich nur noch Mischa, und man nahm mich überall mit hin.
Wieder verbrachte ich die meiste Zeit wie in Königsberg, Brot bettelnd und mich in den Markthallen herumtreibend. In den Markthallen bekam ich auch oft, augenzwinkernd von den Anbietern, eine kleine Kostprobe auf die Hand, wie es sonst nur interessierten Kunden zustand. Sonnenblumenkerne, Hirse, ein kleines Stück Melone oder anderes Obst. Selbst den Kefir schüttete man mir in die hohle Hand, und ich leckte diese Köstlichkeit ab.
Die Russen nannten mich nur noch Mischa und man nahm mich überall mit hin. Ob die Soldaten nun ihre Pferde ausritten, Manöver durchführten, ich saß meistens mit im Sattel. Ich konnte mich in den Ställen fast frei bewegen. Etwas Hafer fiel dabei auch für mich mit ab. Ich durfte bei allen Stallarbeiten mitmachen, ein Pferd reiten, sofern ich nicht gerade darauf bestand, dass mir jemand beim Satteln half. Diese Kosaken hatten ihren Spaß daran, mich auf ihren ungesattelten Pferden reiten zu sehen. Wie ich ihre Sprache immer besser erlernte, so lernte ich auch den Umgang mit Pferden und mich auf deren bloßen Rücken und ohne Zaumzeug zu halten. Man betrachtete mich als so etwas Ähnliches wie ihr Maskottchen. Nicht einmal die höchsten Vorgesetzten vertrieben mich. Nur einmal gingen sie doch etwas zu weit mit meiner Zugehörigkeit zu ihrer Truppe. Beim Wodka-Saufen und Machorka[4]-Rauchen hielt ich mich dezent zurück. Für solche Sachen war mein Gaumen denn doch zu zart. Aber nicht immer soffen sie Wodka, woher auch? Ich bekam fast immer, wenn ich Durst hatte und wir uns gerade auf dem Kasernengelände befanden, Kwas zu trinken. An einem heißen Sommertag, nach einem langen Ritt, hatten wir alle „Brand“ in der Kehle. Auf der Gemeinschaftsstube wurde auch gleich eine Pulle aus einem Versteck geholt. Diese Pulle begann zu kreisen. Dabei hatte ich doch nur ein Glas Kwas auf einen Zug hinuntergetrunken. Dass es nicht nur Kwas war, bemerkte ich erst, als es bereits in meiner Kehle wie Feuer zu brennen begann. Diese blöden Kosaken! Hatten sie doch fast reinen Sprit gesoffen, in ihrem besoffenen Kopp sich einen Scherz mit mir erlaubt. Mein minimales Körpergewicht und das Ungewohntsein nicht mit berechnend hatten sie mir nur ganz wenig, wie sie sich später entschuldigten, mit unter mein Getränk gemischt. Diese feigen Hunde. Sie hatten mich vor lauter Angst, weil ich einfach weggetreten war, auf einen Heuwagen oben aufgelegt, mich vor unser Trümmerhaus gefahren und mich dort samt einer Fuhre Heu, fast neben dem Eingang abgeladen. Damals schnarchte ich noch nicht so wie heute. Deshalb wunderte meine Mutter sich zwar über den Heuhaufen neben der Kellertüre, kam aber nicht auf die Idee, mich darin zu suchen. Sie lief mit meiner Schwester und ein paar hilfsbereiten Nachbarn die ganze Nacht herum und suchte mich überall. Aber eben nicht dort, wo ich meinen Rausch ausschlief. Da bewahrheitet sich wieder einmal altes Sprichwort, (wurde aber schon vor meiner Zeit erfunden). Warum in die Ferne schweifen, wo doch das Glück so nah?!
Ich war neun, als mir kaum noch etwas entging, worauf ich zielte.
Von Fisch schwärmten auch meine Kosakenfreunde. Nicht gerade von dem Salzfisch, wie er in der Fischfabrik zu haben war. Frischfisch musste es schon sein. Bei unseren Ausritten, die manchmal Tage dauerten, und auch gebiwakt wurde, schmeckt natürlich nur ein über dem offenen Feuer gegrillter Fisch so richtig nach Fisch. Dazu gab es dann auch noch in der heißen Asche in der Schale gebackene Kartoffeln. Hat jemand dagegen etwas einzuwenden? Kennen Sie jemanden, der bei Manöverausritten Angelzeug oder Fischnetze mitnimmt? Ich auch nicht! Eine Handgranate ins Wasser werfen, erfüllt den gleichen Zweck. Meistens reichte schon ein Wurf, um alle satt zu bekommen. Ich gebe ja zu, es war nicht die feine englische Art, aber so dicke hatten es die Soldaten auch nicht mit ihrer Verpflegung. Und wenn mal eine Wildente oder anderes mit dem Karabiner erlegt wurde, so wurden die fehlenden Patronen eben als Manövermunition abgeschrieben. Die Soldaten mussten doch in Übung bleiben. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Rückstoß erinnern, der mir fast die Schulter wegzureißen schien. Ich war neun, als mir kaum noch etwas entging, worauf ich zielte. Deshalb wohl auch meine guten Schießergebnisse später im Heim. Ich sag’s ja, wen die Russen erst mal in ihr Herz geschlossen haben, der hat fast Narrenfreiheit bei ihnen. Vor allem aber Kinder. Wo sie konnten, halfen sie damit wenigstens meiner Familie nicht zu verhungern. Trotzdem reichte es nicht hinten und nicht vorne.
meine Mutter draußen am Zug hängend
Es wurden Hamsterfahrten bis nach Litauen und Lettland unternommen. Dabei wäre meine Mutter beinahe ums Leben gekommen und ein anderes Mal meine Schwester. Bilder dieser sog. Hamsterfahrtszüge sind mir später noch oft untergekommen. Ich habe auch Kommentare darüber von anderen gehört. Von Menschen, die allerdings solche Fahrten nicht mitgemacht haben. Kein Kommentar zu diesen Kommentaren! Im Zuginneren saßen die Privilegierten und Delegierten und alle (?), die eine Fahrkarte besaßen. Der Rest schwang sich im Anfahren oder in einer langsamen Kurve noch auf den Zug. Die Plätze waren knapp. Knapper als die vielen Hungrigen, die es damals gab. So wurde jeder freie Platz ausgenutzt. Bis auf die Trittbretter (daher wohl auch der Ausdruck: Trittbrettfahrer..?) und sogar die Dächer wurden belegt. Hauptsache man kam ans Ziel, und mit etwas im Rucksack auch wieder zurück. Alles was man durch die Kriegswirren hindurch hat retten können und einigermaßen von Wert war, tauschte man gegen etwas Essbares ein. Die Bauern warteten ja direkt darauf. Nur wenige ließen sich erweichen, nur so aus christlicher Nächstenliebe etwas heraus zu tun. Z.B. waren Feuerzeuge und Feuerzeugsteine sehr gefragte Artikel. Dann verkaufte man ihnen eben Feuerzeugsteine, oder aus Patronenhülsen gebastelte Feuerzeuge. Dass die Feuerzeugsteine meist wertlos waren, merkten sie erst zu spät. Zur Probe hatte man natürlich echte, aber ansonsten taten es auch kleingeschnittene Fahrradspeichen. Fahrradschläuche und anderes Zubehör fand man schon noch in den Trümmern, wenn man nur aufmerksam genug suchte. Auf solcher Hamsterfahrt passierte es, dass meine Mutter draußen am Zug hängend beinahe von einem entgegenkommenden anderen Zug, an dem eine ebensolche Menschentraube hing, herunter gerissen worden wäre. Ein beherzter schneller Zugriff eines Mitreisenden bewahrte sie noch im letzten Moment davor. Ich sehe noch heute manchmal ihre weit aufgerissenen Augen, die auf mich gerichtet waren, als sie ihr letztes Stündlein glaubte überstanden zu haben. Mit nur einer Hand, und nur noch einem Fuß am Zug hängend, ihren schweren Rucksack auf dem Rücken, hatte selbst der Mann Schwierigkeiten, sie lange festzuhalten. Dann aber griff jeder zu, der in ihrer Reichweite war. Meine Mutter wurde mir so noch für 25 Jahre erhalten. Meine Schwester isst nun schon seit ihrem 12ten Lebensjahr keinerlei Eier mehr. Sie kann noch nicht einmal mehr Schokoladenostereier ohne Misstrauen ansehen. Auf einer der Fahrten durften wir mal wieder bei einem Bauern in der Scheune übernachten. Im Stroh fand meine Schwester ein Ei. Genauer gesagt ein schönes großes Gänseei. Dies finden, aufschlagen und ausschlürfen war bei dem ständigen Hunger selbstverständlich. Nicht lange danach wand sie sich bereits in Krämpfen, wie ich es später nur noch bei gebärenden Frauen beobachten konnte. Bloß gut, dass es damals noch Menschen gab, die nicht gleich wegen jedem Wehwehchen zum Arzt laufen mussten. Alles was die Natur einem antat, konnte man auch mit der Natur wieder heilen, wusste man. Wir mussten zwar länger als vorgesehen auf dem Bauernhof bleiben, aber meine Schwester kam durch. Erfreut sich heute noch bester Gesundheit, wenn man von ihrem Blutdruck und ihrem Übergewicht absieht. Aus mir ist ja letztendlich auch ein Prachtbursche von 172 Zentimetern und 65 Kilo Lebensgewicht geworden, trotz alledem, was ich Ihnen bisher von mir schildern konnte. Alle meine Söhne haben mich schon im Alter von ca. 13 Jahren in der Größe überflügelt. Ich gönne es ihnen; dafür brauchten sie auch keinen Tag in ihrem Leben zu hungern.
Fußnoten
[1] http://www.rp-online.de/kultur/kohlenklau-mit-gottes-segen-aid-1.6494204 fringsen
[2] gemeint ist Schicklgruber https://de.wikipedia.org/wiki/Hitler_(Familie)
[3] politisch korrekt: Tschernjachowsk https://de.wikipedia.org/wiki/Tschernjachowsk
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Machorka
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika! https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/ 04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/ PDF: 05-von-heim-zu-heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/ 06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen
Kapitel 7, Lockender Westen https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/ PDF 07-lockender-westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/ PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/ PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin
Kapitel 10, Bambule https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ PDF: 10-bambule
Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/06/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xi/ PDF: 11-losgelost-von-der-erde
Kapitel 12, Ihr Lächeln wurde um noch eine Nuance freundlicher. Süßer! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xii/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/12-sc3bcc39fer.pdf
Kapitel 13, Von Auerbachs Keller in den Venusberg https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/19/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiii/ PDF: 13-von-auerbachs-keller-in-den-venusberg
Kapitel 14, Ein halbes Jahr Bewährungsprobe. Wo? Im Heim! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiv/ PDF: ein-halbes-jahr-bewahrungsprobe
Kapitel 15, Spurensuche – und der Beginn in Dönschten https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/22/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xv/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/15-spurensuche.pdf
Kapitel 16, Was also blieb uns übrig, als aufs Ganze zu gehen? https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvi/ PDF: 16 Was also blieb uns übrig
Kapitel 17, War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvii/ PDF: 17 War es den Aufwand wert
Kapitel 18, Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie … https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/15/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xviii/ PDF: 18 der einzige „Mann“ in der Familie PDF: 18 der einzige „Mann“ in der Familie
Wie geht es weiter?
Kapitel 19, Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität.
Kapitel 20, Wie schnell sich doch die Weltgeschichte ändert!
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