1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen
Marianne wurde »um Mitternacht in einer Straßenbahn geboren. Man brachte sie in das Aachener Klinikum. „Im Taufregister stand, dass ich am 19.03.1950 notgetauft wurde.“« »Kurz nach ihrem ersten Geburtstag wurde sie in ein Waisenhaus und im Januar 1956 ins Johanna-Helenen-Heim der Orthopädischen Anstalten Volmarstein, bei Hagen, verlegt.«
Sie war „immer vom Schicksal gebeutelt,“ sagt ihre Schulfreundin Roswitha; sie hatte salopp gesagt die Arschkarte gezogen, von Beginn an: »Meist stand sie in der Ecke links neben der Schultafel. Stockhiebe waren ihr tägliches Brot. Mittags der Schule entronnen, wurde sie von den frommen Schwestern malträtiert. … Zwangsarbeiten schon mit sieben bis zehn Jahren. Fünfzehn Nachttöpfchen musste sie zusammenschütten und zum Klo tragen. Ihr dabei besudeltes Kleidchen wurde nur alle vierzehn Tage ausgewechselt. Mit elf Jahren säuberte sie eine menstruierende junge Frau. „Jedesmal, wenn ich C. gewaschen und fertig angezogen hatte, spuckte sie mir zum Dank dafür ins Gesicht.“«
Und nun kam wieder einmal Weihnachten. Frohe Erwartungen hatte sie nicht.
»R. und ich waren die einzigen Kinder, die nicht nach Hause fahren konnten. Schwester E. kam in unseren Schlafsaal und brachte uns je ein Paket. Ich hatte noch nie ein Paket bekommen. Eine Schulklasse hatte für uns Kinder gesammelt und die Sachen geschickt. So richtig freuen konnte ich mich nicht darüber. Wenn etwas Brauchbares für die Schwestern dabei wäre, würden sie uns ja doch wieder alles abnehmen.
Doch, oh Wunder, Schwester E. verließ den Schlafsaal. Ich fing an, mein Paket ganz vorsichtig auszupacken. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Kinderbücher. Neben den Büchern war etwas Längliches in ein Geschenkpapier eingewickelt. Ich nahm es und packte es ganz vorsichtig aus. Es war eine gebrauchte Puppe. Der Kopf war aus Porzellan. An der Stirn hatte sie einen kleinen Sprung. Außerdem hatte sie einen lustigen Pferdeschwanz. Der Körper war ganz aus Stoff. Sie war ungefähr 35 cm groß. An der Puppe war ein Zettel mit ihrem Namen befestigt. Sie hieß Beate und ich liebte sie sofort.
Um keinen Preis wollte ich die Puppe den Schwestern überlassen. Ich steckte sie unter meine Wolldecke an mein Fußende. R. war mit ihrem Paket so sehr beschäftigt, dass sie es gar nicht mitbekam. Ich tat dann so, als ob ich mich über die anderen Sachen sehr freute. Als Schwester E. zurückkam, packte sie die meisten Sachen wieder in den Karton und verschwand damit. Nicht einmal die schönen Bücher ließ sie mir.
Je näher der Abend kam, um so mehr freute ich mich auf meine Puppe. Als es dann so weit war, nahm ich sie in den Arm und schlief überglücklich mit ihr ein.
Morgens machte ich mein Bett ordentlich und legte die Puppe dann wieder unter die Wolldecke. Damit begann für mich eine kurze, glückliche Zeit im Johanna–Helenen–Heim. Ich freute mich darauf, mir abends die Puppe zu holen und sie dann ganz fest an mich zu drücken. Das ganze ging für eine gewisse Zeit gut.
Plötzlich, eines nachts, wurde der Schlafsaal hell erleuchtet. Beide Schwestern standen an meinem Bett. Sie befahlen mir, mich an mein Fußende zu stellen. Ich schaffte es nicht schnell genug, meine Puppe zu verstecken. Schwester E. schrie mich an und wollte wissen, woher ich die Puppe hätte. Als ich ihr von dem Weihnachtspäckchen erzählte, wurde sie noch wütender. Sie schrie mich an: „Du hast sie gestohlen und außerdem bist du viel zu alt für eine Puppe!!“ Ich war ungefähr 10 Jahre alt.
Sie nahm die Puppe, riss ihr den Kopf ab und schlug ihn so lange auf den Boden, bis er zerbrach. Es dauerte eine Weile, weil der Fußboden aus Holz war. Mit beiden Händen nahm sie die Beine und riss die Puppe in der Mitte durch.«
Selber längst im Ruhestand sollte Marianne „Mimerle“ als Ersatz für „Beate“ bekommen. Auch das stellte sich als eine dramatische Geschichte heraus, doch zum Glück mit gutem Ausgang.[1]
Helmut Jacob hat in seinem Blog über Marianne Behrs berichtet. Er schrieb 2012 einen Nachruf auf Marianne.[2] Es war ihm wichtig, dass die geschundenen Kinder und die Ereignisse nicht vergessen werden. Auf den Home-pages der Nachfolgeorganisationen wird vielfach die schändliche Vergangenheit versteckt oder gar getilgt.[3] Volmarstein ist eine Ausnahme. Dort wurde ein Neubau nach Marianne Behrs benannt und man kann nur hoffen, dass damit auch die Erinnerung an Marianne Behrs und ihr Schicksal in dieser Kinderhölle[4] an das jeweils neue Personal weitergegeben wird.
Nun ist Helmut Jacob vor kurzem selber gestorben[5]. Auch er soll unvergessen bleiben. Ich habe über seine Beisetzung berichtet. In seiner Traueranzeige wurde um Spenden für das „Marianne Behrs Haus der Stiftung Volmarstein gebeten.[6] Jede Spende hält die Erinnerung wach – und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.
Fußnoten
[1] http://helmutjacob.over-blog.de/article-wie-mimerle-zu-marianne-kam-kapitel-1-zerplatzte-traume-119658899.html und http://helmutjacob.over-blog.de/article-wie-mimerle-zu-marianne-kam-kapitel-2-mimerles-weg-zu-marianne-119683281.html
[2] Zitate: http://gewalt-im-jhh.de/Erinnerungen_MB/erinnerungen_mb.html
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/09/24/das-geheimnis-der-versoehnung-heisst/ und https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/09/27/das-geheimnis-der-erloesung-heisst-erinnerung/
[4] Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe, Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2010, Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Band 18, Rezension: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/10/18/helmut-jacob-ist-tot-ein-nachruf/
[6] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/11/28/ein-nachruf-waere-angemessen-gewesen-doch-die-groesse-zur-demut-hatten-sie-nicht/
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung und Erkenntnisdrang
Nicht nur Erinnerung, auch zu wissen warum etwas geschah und geschieht, ist wichtig. Die banalste Erklärung lieferten bereits zahlreiche Philosophen, denn der Mensch hat Gutes und Böses in sich. Dem Mensch ist der Zwang auf Versorgung in die Wiege gelegt. Auch ich habe überlebt, in einem Waisenhaus, wo ehemalige KZ-Aufseherinnen die Erzieherrolle übernahmen und hervorragend verstanden, ihre Erziehungsmethoden der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Ordensleute eiferten oft brutalen Erziehungsmethoden nach und beriefen sich auf die Geschichte HIOB im alten Testament, die das Züchtigungsgebot im Namen Gottes rechtfertigt. Von vielen Mitmenschen ist mir der Spruch in den Ohren „Ein paar Schläge haben noch niemandem geschadet“. Es ist eine einfache Rechtfertigung für elterliches Fehlverhalten, denn das eigene Nest wird nicht beschmutzt. Es ist ein Tabu, etwas über das man nicht weiter spricht und die Schadensfreiheit bleibt positive Begleitmusik. Dies mag auch für die meisten Fälle zutreffen, doch es bleiben genügend Beschädigte, denen der Tabubruch nicht gelingt. Dazu bedarf es fachlicher Hilfe.
Danke für diese Geschichte. Sie revidierte meine irrige Annahme, dass in der Behinderteneinrichtung, die an das Waisenhaus angrenzte, in dem ich aufwuchs, alles besser gewesen sein müsste, denn es waren ja körperlich- und geistig Behinderte dort untergebracht und mit denen konnte man doch nicht so umgehen wie mit mir und meinen Leidensgenossen.
Auch heute noch wird an Kinderheimen für Kleinkinder festgehalten obwohl sie kein Familienersatz sein können:
„Die Liebe hat die Familie zu ihrer Bestimmung, im Staate ist sie nicht mehr“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831).
Ich habe sehr früh auf der Homepage von Helmut die Geschichten bzw. das Leid dieser Ehemaligen gelesen und bin dann auch auf die Geschichte von Marianne gekommen. Es ist diese Begebenheit mit Weihnachten bzw. die Grausamkeit dieser Diakonisse was mich bewogen hat damals mit Marianne Kontakt aufzunehmen. Eine Grausamkeit die nicht verstehbar ist und mich von allem was ich je im Kontext der Heimerziehung gelesen und gehört hatte unwahrscheinlich im inneren meiner Seele getroffen hat. Ich fragte mich danach oft, wie Menschen so abgrundtief böse sein können und wenn sie spüren und fühlen können, wie sie einen Menschen (zer)-brechen können wieso sie nicht genau deswegen für sich da eine Grenze setzen. An einer Stelle steht da auch:“ Sie trugen das Kreuz auf der Brust und den Teufel im Nacken (oder so ähnlich) und es ist schon so, dass Gutes und Böses bei diesen Diakonissen verschmolz in ein absolutes Böses. Marianne war ein Mensch die trotz ihrer so furchtbaren Heimerfahrung kein Hass in sich spürte, ein wirklich großartiger Mensch.
Ja, ich denke, sie war wirklich ein großartiger Mensch. Doch zu den Diakonissen: Wenn ich richtig informiert bin, kamen sie aus Ostpreußen und wurden dann vom „Mutterhaus Kaiserswerth“ übernommen und sehr stiefmütterlich behandelt und ausgenutzt. Vermutlich haben sie die Rote Armee sehr hautnah erlebt. Aus anderen Quellen weiß ich, dass vergewaltigten Frauen so bald wie möglich abortative Spritzen gesetzt wurden. Aus einer anderen Quelle hörte ich, dass solche Diakonissen (oder auch Nonnen) in ihrer letzten Lebensphase im Pflegeheim ihres Mutterhauses „gotteslästerliche“ Flüche von sich gegeben haben, die die sie versorgenden Schwestern enorm verstörten. Über die Aggressivität von Kriegsheimkehrern wird vielfach berichtet. – All dies ist keine Entschuldigung für das abgrundtief-Böse im Verhalten dieser Diakonissen, lässt uns aber doch unsicherer in unserem Urteil werden.
Diese Diakonissen dürften zudem sexuell unerfahren gewesen sein. Nicht alle Frauen sind durch solche Erlebnisse „böse“ geworden. Lesen Sie mal https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvii/
Doch es ist problematisch, als Mann darüber zu schreiben.
Ich gehe einmal davon aus, dass es unsere Vorstellungen von Glauben bzw. Orden sind, die uns erschüttern, wenn dann diese Ordensleute Verbrechen begehen. Bei gläubigen Menschen nehmen wir an, dass ihr Glaube stark genug ist im Sinne Jesus Christus zu handeln. Es ist richtig, dass diese Diakonissen auf der Flucht von Ostpreußen vergewaltigt wurden, wie so viele Frauen die damals aus dem Osten flohen. Meiner Erzeugerin ist das auch passiert, aber ihr abgrundtief böses Verhalten ist wohl schon sehr früh in der Kindheit durch ihre Heimerfahrung festgelegt worden. Ich gehe nicht davon aus, dass eine Vergewaltigung alleine hier eine Erklärung liefern kann. Wir wissen zwar nichts über die Kindheit dieser Diakonissen, aber sicherlich ist weder das Trauma der Kriegserfahrungen aufgearbeitet worden noch haben sie in ihrem Orden jenes Verständnis bekommen, was sie wohl gebraucht hätten, um ihre Arbeit in Heimen sinnvoll auszuführen. Da muss man sich die Frage stellen, wie es möglich war die Liebe Christi so umfunktionieren, dass für die Orden bzw. jene Menschen die in diesen Orden gelebt haben, sich so wenig Liebe zeigte, weder in ihre Arbeit noch in den Orden selber. Wir hatten hier bei uns auch ein Diakonissen Mutterhaus und da habe ich sehr viel mitbekommen-auch wie sie im Laufe der Jahrzehnte immer weniger wurden- und auch einige Diakonissen aus dem Orden austraten. Damals hatten sie für die Diakonissen eine Gruppenversicherung abgeschlossen, was bedeutet, dass sie im Rentenalter noch eine zusätzliche Rentenversicherung bekommen, bzw. das Mutterhaus. Ich habe für eine ehemalige Diakonisse damals mit dem Mutterhaus die Verhandlungen geführt, weil sie diese Zusatzversicherung nicht auszahlen wollten und es gab eine lange Auseinandersetzung und letztlich haben wir einen Kompromiss abgeschlossen. Was ich in den Auseinandersetzungen gelernt habe ist die Tatsache, dass es diesem Mutterhaus nur ums Geld ging und ihnen keine Mittel zu schade war, diese Rente für ihren Orden zu behalten. Das ist aber schon über 30 Jahre her und das Mutterhaus existiert schon lange nicht mehr und die wenigen verbliebenden Diakonissen sind sich jetzt selbst überlassen. Damals nach dem Krieg machte es für viele Diakonissen einen Sinn in den Orden einzutreten, möglicherweise auch für die Diakonissen von Volmarstein. Sie waren kriegstraumatisiert und jene Diakonissen die vergewaltigt wurden, hatten sicherlich mit Männern abgeschlossen und gaben ihr Leben in der Obhut solcher Orden. Sie haben zu spät bemerkt, dass ihre Orden nicht aus sich heraus bestimmt wurden in vielen Bereichen auch im Finanziellen. Sie waren sehr reich, so auch Bethel, aber sie verloren alles, weil Menschen über die Gelder bestimmten, die sich nicht dafür interessierten, wie später auch einmal die Diakonissen abgesichert werden. Bethel hat zwar für die Diakonissen, die dann nicht mehr arbeiteten ein Feierabendhaus gebaut, aber ansonsten sind sie auch Pleite gegangen, wie viele Diakonissenmutterhäuser. Es ist sicherlich nicht die richtig Schlussfolgerung da auf Gott zu fluchen, aber wie hätten sie lernen sollen, die richtigen Schlüsse zu ziehen, wo sie doch immer blind den Anweisungen ihres Ordens folgten, denn kritisches Hinterfragen war verboten. Ist das nun die gerechte Strafe die sie am Lebensende erfahren haben? Ich weiß es nicht, nur erscheint es mir doch sinnvoller sich für sein Leben auch selber verantwortlich zu fühlen und es nicht von anderen Menschen bestimmen zu lassen.
[…] [19] 1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/12/21/1-weihnachtsfest-mit-2-diakonissen/ […]