17 Jahre Knast gab es für Dieter Schulz. Nun ist er gestorben. Wie sollen wir ihm gerecht werden?
Die Leser meines Blogs kennen Dieter Schulz. In vielen Folgen erschien hier seine Autobiographie[1].
Man sagt gern umschreibend, jemand habe das Zeitliche gesegnet. Doch das Zeitliche segnen konnte er wohl kaum. Denn die Zeiten waren nicht gut zu ihm, und er hat entsprechend reagiert.
Hier mein Nachruf:
Nachruf auf Dieter Schulz [2]
Sein Leben begann am 27. Januar 1940 und endete am 12. Juni 2019.

Was er erlebte, was er machte, reicht locker für drei Leben aus, wie ich schrieb, und keines wäre langweilig.
Was jedoch – oberflächlich gesehen – spannend ist, entpuppt sich als terrible, als erschreckend.
»War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!« fragt Dieter selber in seiner Autobiographie und fasst damit seine schrecklichen, uns erschreckenden Kindheitserlebnisse zusammen.
Wie kann Leben unter diesen Startbedingungen gelingen?
Dass es „funktionieren“ kann, ist bei ihm nachzulesen.
Aber wie hat es funktioniert?
Nachrufe, also Rückbesinnungen auf kriminelle Karrieren sind kein Problem, wenn es sich um bedeutende Kriminelle handelt, also um Staatmänner, Feldherren, Patriarchen, auch Firmengründer. Entweder man lässt die kriminellen Passagen weg oder man schönt sie – und wenn der Nachrufer vom selben Kaliber ist, verherrlicht er sie sogar.
Doch was ist mit den „kleinen Leuten“?
»unsereins hinterlässt nur flüchtige spuren, keine
zwingburgen, paläste, denkmäler und tempel
wie heilige, herrscher, heerführer, auch keine
leuchttürme von wissen und weisheit.irgendwo in archiven überdauern daten
unseres dagewesenseins, – kann sein, eines tags
kommt ein forscher und ergänzt mit belanglosigkeiten
das bild unserer zeit, und wir sind dabei.«
Als „klein, aber oho“ habe ich Dieter Schulz charakterisiert. Ich denke, das trifft ihn ganz gut und er hat auch nicht widersprochen – gelesen hat er‘s. Man kann es nachlesen, demnächst in den Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie. In meinem Dank für alle Beteiligten an dieser Veröffentlichung schreibe ich (und muss nun die Todesnachricht hinzufügen):
»Zuallererst danke ich Dieter Schulz für seine Autobiographie. Er hat sie als Mahnung an künftige Generationen verstanden und darin auch einen Sinn für seinen reichlich „schrägen“ Lebenslauf gesehen. Ich verwendete dafür im Mailwechsel das Sprichwort: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Aus seiner Idee einer eigenständigen Publikation entwickelte sich – nolens volens – eine kriminologische Fachpublikation, und Dieter Schulz musste ertragen, dass seine locker hingeschriebene und stark stilisierte Geschichte auch kritischen Augen standhalten musste mit nicht immer schmeichelhaften Schlussfolgerungen. Er hat dieses ertragen, so wie er auch – wieder nolens volens – die longue durée des Entstehungsprozesses erdulden musste, obwohl sie sich auf seine Seelenlage auswirkte: Zwischen Hoffnung und Depression. Herzlichen Dank, lieber Dieter Schulz! – Ich habe ihm diesen Dank vorweggeschickt, obwohl noch nicht alles „in trockenen Tüchern“ ist, denn sein Gesundheitszustand ist prekär.«
Nun hat ihn wenigstens dieser Dank noch lebend erreicht.
Was bleibt von diesem Leben?
Uns bleibt seine Autobiographie als „mahnend Zeichen“, ein zum Teil schrecklicher, erschreckender aber faszinierender Rückblick.
Und seine Angehörigen soweit sie noch leben? Seine diversen Frauen? seine Kinder?
Die Frauen werden wohl kaum von seinem Tod erfahren und wohl auch nicht alle seiner Kinder. Doch wer ihn „dicht bei“ erlebt hat, kommt nicht drumherum, für sich selbst das disparate, das erschreckend/schreckliche Bild von Dieter Schulz zu würdigen, – ja, zu würdigen! Er war ja nicht nur „der Täter“, von was auch immer. Er hat in seiner Lebensbeschreibung auch sein Inneres offengelegt. Er konnte weinen, nachts im Bett als Heimkind, und musste am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen, Gefühle waren tabu. Bei allen Eitelkeiten verfügte er über ein hohes Maß an Selbstreflexion, auch darin konnte er rücksichtslos sein.
Ich möchte diesen Nachruf mit zwei seiner Idealfiguren abschließen, die ihn bestimmt haben.
Da ist zunächst seine über alles geliebte Mutter. Sie warf sich schützend über ihre Kinder, wenn Tiefflieger Jagd auf die Flüchtenden machten – da wuchs in aller Bedrohung das, was wir Urvertrauen nennen. Sie „hielt uns am Kacken“ schreibt er in seiner unnachahmlichen Drastik; im Psychologenjargon steht beides für die basic needs, für die Grundbedürfnisse. Sie versteckte ihn vor VoPo und Jugendamt, aber sie griff in ihrer Erziehungsnot auch zum Ausklopfer oder gar Schürhaken und gerbte ihm das Fell. Eine Frau, hart gemacht durch das Leben.
Auf der anderen Seite die unerreichbare Monika, sein Schwarm aus Dönschten, einem seiner vielen Kinderheime. Er sah sie nur am Fenster und verehrte sie, wie ein Minnesänger seine unerreichbare Dame. Sie zählt zu den Adressaten, die er in seiner Lebensbeschreibung nennt. Sie soll nicht alle seiner Verirrungen lesen, um kein schlechtes Bild von ihm zu bekommen.
Wir
aber haben alles gelesen und müssen sehen, wie wir auf diesen krummen Linien
gerade schreiben, um ihm gerecht zu werden. Er hat es verdient.
[1] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/07/inhaltsverzeichnis.pdf
[2] Die Todesanzeige wurde mir von seinem Sohn Sascha übersandt.
Danke für den Nachruf auf Dieter Schulz und seine Geschichte, die meine Geschichte kreuzte, sich jedoch anders entwickelte. Ich konnte daher nicht alles lesen und hielt inne, wo retraumatisierende Gedanken auftauchten und überlas einiges. Die Fachleute interessieren sich für solche Geschichten um Menschen verstehen zu können. Zu den basic needs gehört nicht nur das Urvertrauen, sondern auch die Angst. Einem Klienten zuzugestehen, dass auch sie die Angst für vieles trägt, gehört in keine Therapiestunde. Stattdessen wird auf Stärke gesetzt, die es zu gewinnen gilt ohne den „Moralapostel“ geben zu müssen. Die Kernprobleme, die auch ein Therapeut zumeist unter den Tisch kehrt:
– Kinderheime sind Verwahranstalten und deprivieren Heimkinder. Kinder brauchen in jungen Jahren zumindest eine dauerhafte Bezugsperson. Kinderheime für kleine Kinder gehören verboten, doch wen interessiert es? Ein Therapeut klammert das Thema aus.
– Jeder Mensch braucht Anerkennung und Liebe. Der Staat ist für Liebe nicht zuständig, ihn regieren die Gesetze, die auf Ratio setzen.
– Fachleute gebrauchen ebenfalls primär ihren Sachverstand. Für die verordnete Therapiestunde erhält der Klient seine Wertschätzung, die dem Therapeuten sein Einkommen sichert. Woraus erwächst nun die Wertschätzung? Aus der Tatsache, dass ich mit dem Klienten Geld verdienen kann? Es ist zumindest eine Basis, ohne die es jedoch keine Zusammenarbeit gibt. Für den Lebenswandel seines Klienten werden Therapeuten kaum eine Wertschätzung übrig haben, eher ein Bedauern.
– Kaum ein Therapeut versteht mit dem Begriff des Elternrechts umzugehen, ein Begriff der grundgesetzlich verankert ist, jedoch der Welt der Mythen entspringt. Nicht nur die Eltern sind ihren Kindern verpflichtet sie zu versorgen, sondern die Erwachsenenwelt. Doch das Elternrecht begünstigt die Tatsache, dass sich andere Erwachsene fernhalten.
Was bestätigte mir die Geschichte von Dieter Schulz? Die Fachleute lesen gerne Geschichten doch ihre Angst hält sie als Opportunist beim herrschenden politischen System und Missstände wie Kinderheime, der Begriff Elternrecht, Kindesmissbrauch bleiben wo sie sind, in den Kinderschuhen stecken. Ab und zu bewegt sich etwas in der Fachwelt: Im Jahre 2000 wurde in der BRD das Verbot Kinder zu schlagen ins Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt. Die Entscheidung war nicht eindeutig im damaligen Bundestag.
Die Geschichte von Dieter Schulz sollte der Fachwelt zeigen, wie viel es noch für Kinder zu tun gibt und sie zur Gefahrenminderung und einer besseren Lebensgestaltung ihre eigenen Rechte brauchen. Kinderrechte fehlen in unserem Grundgesetz, insofern ist die Bundesrepublik Deutschland noch ein Entwicklungsland.
Lieber Herr Schäfer,
ich finde Ihren Nachruf sehr gelungen, auch wenn so ein Anspruch einem Menschen wie Dieter gerecht zu werden, gar nicht so einfach ist. Ihr letzter Satz trifft es aber doch: „Wir aber haben alles gelesen und müssen sehen, wie wir auf diesen krummen Linien gerade schreiben, um ihm gerecht zu werden. Er hat es verdient.“
Dieter hat seine individuelle Geschichte und dennoch steht er auch für ehemalige Heimkinder, aber auch für jene Kinder, die all das erlebt haben, was eigentlich Kinder nicht erleben sollten. Wir wissen, dass die Kindheit das weitere Leben bestimmt und man diese nicht so einfach wie schlecht sitzende Schuhe ausziehen kann.
Ich danke Ihnen für diesen Nachruf.
Ich danke Ihnen für Ihren einfühlsamen Kommentar. Heute soll es eine kleine Trauerfeier für Dieter Schulz in Seelow geben.