Die ethnische Säuberung Palästinas[1]
Vorweg: Dies Buch rührt auf und verstört. Warum? Wir Christen, besonders wir Theologen und besonders in Deutschland haben, wie ich sehe, eine positive Grundstimmung gegenüber Israel und seinem Staat.[2]Die geht so weit, dass der Kollege Stefan Meißner fragt: „Wenn es also grundsätzlich legitim ist, Geschichte rückblickend theologisch zu deuten, dann fragt man sich, warum sich die EKD auch 60 Jahre nach der Staatsgründung Israels noch immer ziert, hier von einem Handeln Gottes zu sprechen“.[3]
Worum es geht, sagt der Titel des Buches. Die Brisanz erwähnt der Autor im Grußwort:
»Viele meiner palästinensischen Leser empfanden es offensichtlich so, dass das Buch ihrer persönlichen und kollektiven Geschichte während der Nakba[4] und danach gerecht wird. Bei israelischen Lesern und Unterstützern Israels überall auf der Welt rief das Buch massive Ablehnung und scharfe Kritik hervor. Tatsächlich ist es nicht nur kein neutrales sondern gleichzeitig auch ein historisch-wissenschaftliches Werk, das von einem Israeli geschrieben wurde, der eine moralische Verpflichtung empfindet, der Welt aus einer tiefen Überzeugung heraus zu erzählen, was dem palästinensischem Volk geschehen ist, dass die Leugnung der Nakba einer der entscheidenden Gründe ist für den Misserfolg der Friedensbemühungen in Israel und Palästina.«[5]
Mit überwältigender Fülle von Belegen beschreibt der Autor die Landnahme von 1948, angefangen von der Vision Theodor Herzls[6]: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserm eigenen Lande jegliche Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“[7]
Doch an die Stelle von Zartheit und Behutsamkeit trat eine brutale ethnische Säuberung. »Ethnische Säuberung ist kein Völkermord, geht aber mit Gräueltaten wie Massenmorden einher. Tausende Palästinenser wurden bestialisch von israelischen Soldaten aller Schichten, Ränge und Altersgruppen ermordet. Trotz der überwältigenden Beweise wurde keiner dieser Israelis je wegen Kriegsverbrechen verurteilt.«[8]
Diese plangesteuerte Säuberung wird in zwölf Kapiteln detailliert dargestellt. Ich will es überspitzt sagen: Abgesehen von Gaskammern und der gezielten Tötung von Frauen und Kindern ist von jüdischer Seite alles geschehen, was die Juden in ihrer leidvollen Geschichte als Opfer erlebt haben, auch die Enteignungen, die Entrechtung und das Bemühen, die Vergangenheit im Sinne der Sieger zu definieren. Das muss hier nicht im Detail wiederholt werden, man lese selbst nach.
Die Fülle von Belegen habe ich nicht überprüft, doch sie scheinen angesichts der genannten Quellen weithin als seriös. Eine deutliche Bestätigung der Darstellung der ethnischen Säuberung bietet eine andere Säuberung, von der die FAZ berichtet: »Recherchen der Zeitung „Haaretz“ ergaben, dass israelische Behörden Hunderte von Dokumenten, die diese Ereignisse betreffen, seit mehreren Jahren nachträglich verschlossen haben. Das Verteidigungsministerium habe Aussagen von Offizieren über getötete Zivilisten, Vergewaltigungen und Zerstörung palästinensischer Dörfer als geheim eingestuft, … Der bis 2007 amtierende Malmab-Direktor[9] Yehiel Horev ließ sich mit den Worten zitieren, es sei sinnvoll, die Dokumente über Geschehnisse von 1948 vor der Öffentlichkeit zu verbergen, denn eine Offenlegung könne Unruhen im arabischen Teil der Bevölkerung auslösen. Auf die Frage, warum auch Dokumente, aus denen Forscher bereits öffentlich zitiert haben und über die Bücher geschrieben wurden, nachträglich als geheim eingestuft werden, die Geschichte also bereits erzählt sei, antwortete Horev: Ziel sei es, die Glaubwürdigkeit von Studien zu untergraben, die sich mit der Geschichte des palästinensischen Flüchtlingsproblems auseinandersetzen.« [10]
Dem ist wohl nichts hinzuzufügen.
Eine Überlegung noch: Gewalttäter, z.B. Kindesmissbraucher, haben, wie man liest, oft vergleichbare Erfahrungen in ihrer eigenen Kindheit gehabt. Kann es sein, dass ein ganzes Volk, bzw. eine Religionsgruppe aus den jahrhundertelangen Drangsalierungen, Pogromen, Plünderungen und Vertreibungen gelernt hat, sich mit vergleichbaren Methoden einen Lebensraum zu erobern und zu halten? Aber von einem Handeln Gottes zu sprechen[11] halte ich für Blasphemie.
Als Leser dieses Buches nehme ich die bittere Erkenntnis mit, dass es keinen Frieden in Nahost geben wird, bevor Israel seinen Anteil an den Kriegsverbrechen anerkennt, Kompensationen leistet und den Opfern an prominenter Stelle in Jerusalem ein Denkmal setzt.
„Nächstes Jahr in Jerusalem“? Wohl kaum.
[1] Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Westend-Verlag, mit einem Grußwort zur deutschen Ausgabe 2019 von Ilan Pappe,
dazu auch: https://www.amazon.de/review/RZY2DK17MSN3M/ref=pe_1604851_66412761_cm_rv_eml_rv0_rv
[2] Dazu: Erinnerung und Identität – Zur Bewältigung deutscher Vergangenheit in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext, von: Dierk Schäfer, Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 9/2018, http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=4563
[3] Deutsches Pfarrerblatt, Ausgabe: 6 / 2013, S. http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3061
[4]Hinzugefügt von mir: https://de.wikipedia.org/wiki/Nakba
[5] Ilan Pappe, S. 5f
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Judenstaat
[7] Zitiert nach: https://de.wikiquote.org/wiki/Theodor_Herzl , übrigens: eine interessante Sammlung
[8] Ilan Pappe, S. 261
[9]„Die Abteilung Malmab ist im israelischen Verteidigungsministerium dafür zuständig, Spionage und das Entrinnen sensibler Dokumente zu verhindern“ FAZ. Hinzugefügt von mir: https://en.wikipedia.org/wiki/Director_of_Security_of_the_Defense_Establishment
[10] Jochen Stahnke, Die Massaker sollen wieder Geheimsache werden, Israels Verteidigungsministerium sperrt Dokumente über Vorgehen gegen Palästinenser 1948 / FAZ, Donnerstag, 25. Juli 2019, S. 4
[11] > Anmerkung 3
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