Was für ein Leseabenteuer!
Devianz als Schicksal? – Rezension
von Markus Löble1
„Dust in the wind
All we are is dust in the wind“
Rockgruppe Kansas (1977)
Dierk Schäfer, Theologe und Psychologe, ehemaliger Polizeipfarrer und Tagungsleiter der Evangelischen Akademie in Bad Boll, legt nun im Sommer 2021 mit „dem Schulz“ gleichzeitig „einen Schäfer“ vor. „Der Schulz“, das ist: Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Band 45 der Tübinger Schriften und Materialien zu Kriminologie (TÜKRIM)2
14 Jahre nach der verdienstvollen und prämiierten Heimkindertagungsreihe „Kinderkram“ der Evangelischen Akademie in Bad Boll 2007, die Dierk Schäfer als Tagungsleiter der Evangelischen Akademie organisiert und geleitet hat, liegt nun die kommentierte Ausgabe der autobiographischen Notizen „des Berufsverbrechers“ Dieter Schulz vor. Es ist das große Verdienst Dierk Schäfers, drangeblieben zu sein und trotz aller editorischer Rückschläge nun einen Rahmen für den schriftlichen Nachlass eines sehr bemerkenswerten Menschen – bemerkenswert wie wir alle (!) – geschaffen zu haben.
Was für ein Leseabenteuer! Viele versunkene Welten werden in diesem Band angesprochen und erscheinen sehr plastisch vor dem Auge der/s geneigten Leser*in. Dieter Schulz, geboren 1940 im ehemaligen Königsberg, erlebt als Kind Flucht und Vertreibung. Mutter Schulz flieht mit ihren Kleinkindern aus Ostpreußen, die Fluchterlebnisse werden sehr eindrücklich geschildert.
Dieter Schulz schrieb seine autobiographischen Notizen Jahrzehnte später in Haft. Er blickt auf eine Kindheit in Deutschland der 50er Jahre zurück. Kleine und große Fluchten werden ihn sein Leben lang von geographischen und emotionalen Nirgendwos in Heimen und später Haftanstalten zu immer weiteren Nirgendwos führen. Kindheit im Nachkriegsdeutschland heißt für ihn, meist keine Schule zu haben, dafür lernt er fließend Russisch und sich durchzuschlagen. Was das Leben pädagogisch versäumt oder anrichtet, bedeutet oft „lebenslang“ – für uns alle. Die blind machende „Hasskappe“ setzte sich Dieter Schulz schon als Kind und später immer wieder in seinem Leben auf. Heute kann Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie manches Mal positiv wirksam werden, viel mehr noch hätte damals moderne (Trauma-) Pädagogik in modernen Jugendhilfeeinrichtungen wirksam werden können. Es hat sich wirklich viel getan in den vergangenen Jahrzehnten. Auch dies ist ein Ergebnis der Lektüre.
Behutsam und kenntnisreich leitet Dierk Schäfer den/die Leser*in durch den Irrgarten der Notizen des Kriminellen Dieter Schulz. Es hätte immer auch anders kommen, anders ausgehen können. Dierk Schäfer ordnet und führt dort, wo es sein muss und schafft gerade dadurch Raum für seinen Schulz und seine Leser*innen. Raum für die vielen Welten eines wechselvollen Lebens in Ost- und Westdeutschland, in Kindheits-, Jugend- und später Erwachsenenwelten.
Natürlich wird beschönigt. Sehr kompetent und deshalb sehr hilfreich sind die Kommentare und Fußnoten des Kriminologen Dierk Schäfer, der er neben dem Psychologen und Theologen eben auch noch geworden ist. So ist „der Schulz“ eben auch „ein echter Schäfer“ geworden. Zwei Unbeugsame haben sich hier gefunden. Ein Buch, das auf dem Schnittpunkt dreier Berufe und Berufungen geschrieben wurde. Der Theologe, Psychologe und Kriminologe Schäfer führt hier zusammen, was zusammengehört. Eine im besten Sinne ganzheitliche Sicht auf einen Menschen und sein Leben, jedoch ganz ohne den Anspruch zu erheben, diesen dadurch zur Gänze zu erfassen. Wie sollte das in dieser kontingenten Welt schicksalhafter, zum Schicksal werdender Zufälle auch möglich sein?
So bleibt dies Buch wohltuend ohne Fazit, ohne Urteil, ohne Wertung und ist eine Fundgrube des Wissens, jederzeit staunend machend. Es lohnt, sich auf diese Lektüre einzulassen. Danach bleibt eigentlich nur eine Sache unverständlich. Warum wurden die autobiographischen Notizen des Dieter Schulz nicht wie geplant verfilmt oder konventionell verlegt?
Immerhin verdanken wir der Beharrlichkeit Dierk Schäfers nun einen überaus lesenswerten Band 45 der Tübinger kriminologischen Schriftreihe. Ein echter Geheimtipp für Jurist*innen, Kriminolog*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und – last, but not least – für alle Leser*innen, die sich dafür interessieren lassen, wie es einem erging, der 1940 in ein Kriegseuropa hineingeboren wurde, darin aufwuchs, sich immer wieder berappelte und bis zu seinem Tode 2019 versuchte, das Beste daraus und aus sich zu machen.
Dierk Schäfers Schulz liest sich unterhaltsam und pendelt immer wieder zwischen bodenloser Tragik und sehr lebendiger Komik. Erlebnisse von Grass’scher Drastik wechseln sich ab mit Schilderungen, z.B. eines Banküberfalls, die wie aus dem Drehbuch der guten alten Olsen-Bande anmuten. Der Tod eines Kardinals leuchtet in den enzyklopädisch kenntnisreichen Fußnoten ebenso auf wie „das Milieu“ rund um das hannoversche Steintorviertel. Wer mag da urteilen, wer den Stab brechen? Der Rezensent schließt zu diesem lebensprallen Buch mit Nietzsches Zarathustra: „War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!“
____________________________________________________________________________
Fußnoten
1 Dr. med. Markus Löble, FA für KJPP, Arzt für Naturheilkunde, Suchtmedizin, systemische Familientherapie (DGSF), forensische Begutachtung (DGKJP). Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Christophsbad, Göppingen
2 Dierk Schäfer: Devianz als Schicksal. Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie (TÜKRIM), Band 45, erschienen in: TOBIAS-lib-Universitätsbibliothek Tübingen, Juristische Fakultät, Institut für Kriminologie (2021). ISSN: 1612-4650; ISBN: 978-3-937368-90-0 (elektronische Version, Kostenfreier Download: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y) und 978-3- 937368-91-7 (Druckversion, 22,70 €, beim Institut für Kriminologie, z. Hd. Frau Maria Pessiu, Sand 7, 72076 Tübingen, @ maria.pessiu@uni-tuebingen.de )
Nicht für jeden ein Leseabenteuer!
Devianz ist noch nicht Schicksal, sondern Abweichung von Normen. Kinder sind geneigt, anderen etwas wegzunehmen. Unsere Gesellschaft nennt es Diebstahl und bestraft dies, wenn Deliktsfähigkeit gegeben ist. Ein 10jähriger, der in einem Geschäft etwas ohne Bezahlung mitnimmt, begeht noch keine Straftat, da verminderte Deliktsfähigkeit vorliegt. Wird das Kind erwischt, werden die Eltern zur Rechenschaft herangezogen. Sind die Eltern nicht in der Lage, ihrem Kind den Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu vermitteln, sucht sich das Kind das passende aus, je nach seinem geistigen Entwicklungsstand. Und hier ist “Der Schulz” bemerkenswert wie wir alle, doch es fehlten ihm ganz offensichtlich die Vorbilder, die ihn vorangebracht hätten. Ich hatte sie glücklicherweise und natürlich auch das Glück nicht bei jeder Devianz erwischt worden zu sein. Hinzu kam die Liebe der Familie, insbesondere meiner Mutter, die jedoch durch etliche Kinder überfordert war und uns deshalb in ein Kinderheim gab, wo wir dann auch genug zu essen und zu trinken hatten. Vor Scham konnten meine Geschwister und ich unsere Mutter über die Gewaltorgien der Erzieherinnen und Nonnen nicht informieren. Die Gewaltorgien waren damals erzieherische Praxis und Schläge wurden auch in der Schule bis Ende der 1960er Jahre geduldet. Dies war für mich das Bemerkenswerte an den professionellen Erwachsenen, ein Diebstahl und Raub für etliche ehemalige Heimkinder nötige Konsequenz und daher für mich überhaupt nicht mehr bemerkenswert. Obwohl mir Geschichten von Heimkindern vertraut waren habe ich mir einige Zeilen durchgelesen und bin an etlichen Stellen zu posttraumatische Erinnerungen gekommen, sodass ich nicht von einem Leseabenteuer sprechen kann. Es zog sich mir wie ein roter Faden durch seine Geschichte, die mangelnde Unterstützung im Elternhaus, der mangelnde Ersatz durch professionelle Erzieher, die verlogene Erwachsenenwelt (die mir mit Eintritt ins Kinderheim von einer Erzieherin sehr treffend vorgeführt wurde, in dem mir mitgeteilt wurde, meine Eltern seien tot, obwohl dies nicht stimmte, weil ich etwa ein halbes Jahr später wieder meine Mutter besuchen durfte). Was soll ein Kind mit lügenden Erziehern anfangen? Ich glaubte ihnen zunächst und verursachten dann meine Trauerarbeit, die ich jedoch nur im Verborgenen leisten konnte. Nach einigen Monaten hatte ich damit abgeschlossen und plötzlich war meine Mutter wieder da und erkannte sie auch wieder. Natürlich wäre ich gerne bei ihr geblieben, doch das Jugendamt verweigerte. Nach sechsjährigem Heimaufenthalt wechselte ich in eine Pflegefamilie, nach einem halben Jahr in eine weitere Pflegefamilie, bei der ich sechs Jahre aufwuchs. Ich durfte dabei zwei tödlich verunglückte Kinder “ersetzen”. Das war natürlich nicht erfreulich, doch ich hatte bereits früh eigene Trauerarbeit geleistet und konnte die Pflegeeltern verstehen. Sie boten mir die schulische Qualifizierung bis zum Wirtschaftsabitur. Danach absolvierte ich erfolgreich ein Studium der Betriebswirtschaftslehre (BWL).
Nach meinem Studium begann ich meine Kindheitserlebnisse zu verarbeiten und schrieb ein Buch mit dem Titel: Kinder in Geschlossenen Einrichtungen und dem Untertitel Gefühls- und geschlechtslose Wesen. Ich wollte niemanden verletzen und bediente mich der Wissenschaftssprache und –analyse. Neben BWL hatte ich auch Soziologie und Verhaltenswissenschaft studiert, die nötige psychologischen Fachkenntnisse vermittelte ich mir autodidaktisch. Das Buch erreichte noch die zweite Auflage und wurde dann vom Verlag verramscht. Mit der Erstauflage wurde das Buch auch in Staatliche Bibliotheken aufgenommen und ist dort ausleihbar. Das Thema Heimkind, gesellschaftliche Normabweichungen, pädagogisch sprach man gar von Stigmata, eignet sich kaum für eine wirtschaftliche Verwertung, sodass Film und Verlag kaum daran interessiert sind, zumal wenn es noch mit wissenschaftlichem Anspruch aufgelegt wird. Und was bringt es, seine Mitmenschen mit Schicksalen zu unterhalten? Interessiert eine Minderheit, die Masse interessiert alles rund ums Heldentum.
Die psychologische und philosophische Fachwelt weiß es schon lange: Kinder brauchen Familie, zumindest eine dauerhafte Bezugsperson; Jugendliche wünschen sich oft intensiven Kontakt zu Gleichgesinnten und wenn die eigene Familie versagt, auch Ersatzfamilien. Unser Staat klammert sich am Elternrecht und wie jüngst die Aufarbeitungskommission feststellt, geschehen in der Familie auch sexuelle Missbräuche, die im Vergleich zur Gesamtpopulation immer noch eine Minderheit sind. Wie mir ein Studienfreund erklärte, sieht er bei Eltern, die Missbräuche an ihren Kindern begehen, eine fehlende Hemmschwelle. Auch ich, der fünf eigene Kinder erzogen hat, konnte die eigene Hemmschwelle feststellen. Es ist zwar zunächst hilfreich, ohne Urteil oder Wertung seine Geschichten zu erzählen, jedoch hilft dies nicht weiter. Wenn ein Buch, dass kriminelle Geschichten enthält, als wohltuend bezeichnet wird, blieb mir der Gedanke nicht fern, dass sich jemand dieser Geschichten ergötzt und frage mich warum? Hat hier jemand unter dem Diktat des Elternrechts seinen Weg gemacht und erfreut sich nun daran, dass es ohne dieses Diktat hätte schlimm enden können? Waren doch die eigenen Eltern trotz ihrer Sanktionen die beste Wahl? Wer den Weg ohne seine Eltern (auch Ersatzeltern) gehen musste, unterliegt bereits einer Normabweichung, denn die meisten wachsen mit Eltern auf und sind daher die Norm. Unser Staat hält an diesen “Normen” fest und scheut den vermeintlichen Mehraufwand, für alle Kinder eine Familie zu beschaffen. Es hält sich offenbar auch die Doktrin, es gäbe erziehungsunfähige Kinder, die einer Familie nicht zugemutet werden können. Es bleiben Minderheiten, die “geduldet” werden und sich selbst überlassen bleiben. Das muss sich nicht wiederholen und auch hier weicht der Rezensent auf einen Sachverhalt, den mir als Katholik schon in die Wiege gelegt wurde, jedes Menschen Schicksal ist von Gott bestimmt. Das bestärkt religiöse Fachleute, ihre “Hände in den Schoß zu legen” und sich an Geschichten zu “ergötzen”. Ich empfehle das Fachbuch des Philosophen David Archard, Children Rights And Childhood, 3. Auflage 2015, das er übrigens seiner Mutter gewidmet hat. Wer mit Englisch nicht vertraut ist, kann auch meine Version in Deutsch beziehen über “Kinderrechte und Kindheitsphilosophie Dialog der Generationen”, erschienen im R.G. Fischer Verlag 2020.