Dierk Schaefers Blog

Merkwürdiger Versuch der Stadt München mithilfe einer „unabhängigen Aufarbeitungskommission“ die Fälle von Missbrauch und Trauma zu klären. – Ein Gastkommentar von Vladimir Kadavy

„München leuchtete“, schrieb Thomas Mann in seiner Erzählung „Gladius Dei“. Gladius Dei heißt: Schwert Gottes.

Ob München immer noch leuchtet, beleuchtet Vladimir Kadavy in seinem Kommentar:

Die Stadt kommt nicht zu Potte

Wie man es auch nennen mag: Entschädigung oder Kompensationsleistungen. Die sollte es bereits ab Mitte 2021geben. Über Erst-Zahlungen ist die Stadt nicht hinausgekommen.

Nun sollen die abschließenden Zweit-Zahlungen von einer Kommission abhängen. „Sie soll die Aufarbeitung wissenschaftlich betreuen. Man ist aber noch auf der Suche nach Fachleu­ten.“

Währenddessen werden wir, die überlebenden Betroffenen älter und warten seit Januar 2021 darauf, dass die Stadt zu Potte kommt. Zahlungen waren immerhin schon zur Jahres­mitte 2021 durch die Stadt angekündigt, aber erst im Spätherbst 2021 nahm das von städti­schen Angestellten durchtränkte aufarbeitende Gremium seine „unabhängige“ Tätigkeit auf, – während Jugendamt und Stadtrat darauf warten können, dass wir abtreten. Darauf besteht angesichts des Altersdurchschnitts der Betroffenen (plus minus 75 Jahre) und der Proble­ma­tik, eine wissenschaftlich aufarbeitende Institution zu finden, eine berechtigte Hoffnung. Einer meiner missbrauchten Verwandten ist bereits tot, ein anderer schwer erkrankt, zwei weitere aus dem Umkreis unserer Recherchegruppe sind in einem desolaten körperlichen und psychischen Zustand. Es findet also ein edler Wettstreit zwischen Altern und Hinauszögern statt. Dreimal darf man raten, wer aus diesem Wettkampf als Gewinner hervorgeht. Darum also auch kein Wort über transgenerationelle Lösungen, d. h. Zahlungen an Angehörige. Das scheint nicht mal angedacht worden zu sein.

Wie steht es mit den in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen, Herr Raab?

Ignaz Raab, pensionierter Kriminalbeamter, ist Vorsitzender der Münchner städtischen Aufarbeitungskommission. Ihn befragte Bernd Kastner, Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, am 8. Mai 23 nach den in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen:

„Wann wird über die endgültigen Summen entschieden?“ – „Noch ist offen, ob wir dafür den Abschluss der wissenschaftlichen Aufarbeitung abwarten.“

„Die hat immer noch nicht begonnen?“ – „Eigentlich sollte sie schon im letzten Sommer starten…..“

In dieser Art geht es weiter[1].

Was ist, wenn die Leute sterben?

Kastner hätte auch fragen können: Wie haben Sie bisher im Aufarbeitungsgremium die Zeit seit 2021 verbracht? Wenn in der Zwischenzeit schon viele gestorben sind, könnte sich die Stadt die Auszahlung der Zweitsumme ja sparen?

Weit gefehlt! Dazu Ignaz Raab: „Kürzlich haben wir an einen Betroffenen Soforthilfe ausgezahlt, und jetzt kam die Nachricht, dass er gestorben ist. Daran schließt sich die Frage an: Muss die Sofort­hilfe zurückgezahlt werden? Das muss der Staat einheitlich klären. Ich wünsche mir, dass es ins Erbe geht.“

Dafür sind wir Betroffene und unsere Angehörigen dem Vorsitzenden der Städtischen Auf­arbeitung sehr dankbar. Diese Frage, die er hier aufwirft, kann natürlich nur geklärt werden, wenn jeder Betroffene gegenüber der Stadt nachweisen kann, dass er noch unter den Leben­den weilt. Ich sehe schon der Zusendung eines Formblattes entgegen, auf dem ich bestätige, dass ich noch nicht tot bin.

Der Oberaufklärer der Stadt räumt ein, dass solche Zahlungen grundsätzlich steuerfrei gestellt werden könnten, was aber seit Bestehen der Ausschussarbeit in zweieinhalb Jahren nicht voll­ständig geklärt ist: Hier brächte eine rasche Information der Überlebenden bzw. noch unter uns Weilenden rasche Hilfe.

Tja, so viel hätte gemacht werden können, was man der Öffentlichkeit besser vorenthält.

Die Stille der städtischen Aufarbeitung

„..um die städtische Aufarbeitung […] ist es ruhig geworden. Woran liegt das?“ „Wir arbeiten im Stillen, ohne mediales Aufsehen.“

Das mit der Unabhängigkeit, der Verschwiegenheitsverpflichtung und der aufarbeitenden Stille hat schon seine Vorteile. Endlich erschließt sich mir die Bedeutung der Unabhängigkeit des Ausschusses. Dazu gehört auch das Warten bis biologische Lösungen im Bündnis mit dem Verstreichen der Zeit dafür sorgen, dass die Arbeit des Ausschusses im Sande verläuft. So nicht nur meine Wahrnehmung.

Der Ruf nach dem Staat

Dass Herr Raab eine Intervention des Staates zur Aufarbeitung der Verbrechen sexuellen Missbrauchs fordert, ehrt ihn, aber was ist denn nun mit der Stadt? Was meint er denn eigentlich? Vielleicht kann man ihm nahebringen, dass auch die Stadt Staat ist. Kommunen unterliegen dem staatlichen Verwaltungsrecht. Insofern appelliert Herr Raab hier an die Aufarbeitung des Ausschusses, dem er vorsitzt. Ob er das wohl gemeint hat?

Soweit der Gastkommentar.

Wann wohl das Schwert Gottes zuschlägt?

Bei einem Spaziergang sah ich, dass es in München tatsächlich leuchtet: Der Erzengel Michael kämpft auf leuchtend goldenem Hintergrund. Er führt zwar kein Schwert, dafür aber eine Lanze. Ist es eine für Gerechtigkeit? Photo: Dierk Schäfer


[1] Hier der Link mit eingeschränktem Zugang, über den Sie im zweiten Schritt das ungekürzte Interview aus der SZ aufrufen können: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-missbrauch-kinderheime-aufarbeitung-ignaz-raab-1.5844370?reduced=true

Vereidigung – eine Schnittstelle zwischen Staat und Kirche

Junge Polizeibeamte werden zu Dienstbeginn feierlich auf das Grundgesetz vereidigt. Bei der Feier zugegen sind zudem Angehörige der Polizeibeamten, politische Vertreter der Kommune und des Landes, auch die Bundeswehr war regelmäßig vertreten und die Lokalpresse. Der Innenminister hielt eine Ansprache, soweit er nicht verhindert war.

Von uns Polizeipfarrern[1] wurde erwartet, im Berufsethischen Unterricht noch vor der Vereidigung das Thema zu behandeln. Inhaltliche Vorgaben gab selbstverständlich nicht[2].

Die aktuelle Diskussion über Polizeieinsätze gegen Demonstranten der „letzten Generation“

ließen mich Rückschau halten. Von Stichworten wie Wackersdorf oder Tiefflieger abgesehen ist meine Vereidigungsansprache noch aktuell:


[1] Wir Pfarrer (evangelisch&katholisch) wechselten uns in dieser Aufgabe ab.

[2] So etwas habe ich in meiner gesamten Berufslaufbahn als Pfarrer nie erlebt, von niemandem.

Die Welt steht in Flammen

Der erste Weckruf war 9/11

Der zweite Putins Angriff auf die Ukraine

Und im Hintergrund der Gelbe Riese mit Anspruch auf die Weltherrschaft.

Der Angriff auf die World Trade Towers war die symbolische Kriegserklärung an die „freie Welt“. Die programmatische Grundhaltung finden wir im Begriff „boko haram – Westliche Bildung ist Sünde“. https://de.wikipedia.org/wiki/Boko_Haram Man muss wohl Moslem sein, um diesen Angriff zu verstehen, man muss militanter Islamist sein, um ihn gutzuheißen und zu unterstützen, denn diese Gedankenwelt ist uns fremd, findet jedoch Resonanz in den  islamischen Ländern Afrikas und Asiens. Auch der religiös abseitsstehende Iran ist trotz aller Gegnerschaft zu den sunnitischen Moslems hier einzuordnen. Das westliche Denken ist bedroht, aber nicht angekränkelt, auch – oder gerade, weil – es immer wieder islamistisch begründete Terrorangriffe gibt.  Aber: Pakistan ist Atommacht und der Iran wohl bald.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat nicht nur territoriale Ziele: „Russki Mir (deutsch Russische Welt) ist eine Ideologie der kulturellen Totalität des Russischen. Das Konzept ist von zentraler Bedeutung für die gegenwärtige neoimperialistische Außenpolitik Russlands. Von Wladimir Putin wurde der Begriff ab 2001 öffentlich verwendet und bildet heute einen Baustein des Putinismus. Hieraus leitet er ideologische, politische, identitäre und geopolitische Standpunkte ab, die explizit auch Russen in der Diaspora, vor allem dem Nahen Ausland, aber auch deren Nachkommen sowie ganz allgemein Russischsprecher einschließen. Die Russische Welt ist hiernach die russische Einflusssphäre und umfasst alle Gebiete, in denen das Russische präsent ist.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Russki_Mir)  

Diese Position wird von Patriarch Kyrill I. flankiert. Er „nannte in Moskau die russische Invasion einen Kampf gegen die „Sünde und liberale Ausländer“, … Russische Soldaten hätten die Aufgabe, die ukrainische Nation vom Boden der Erde zu tilgen. Sollten sie dabei sterben, würden sie von ihren Sünden freigesprochen.“ Damit „betrieb die  ROK eigentliche Kriegspropaganda und rechtfertigte theologisch den Angriffskrieg auf die Ukraine mit dem Überfall ab 24. Februar 2022.“ ( https://de.wikipedia.org/wiki/Russisch-Orthodoxe_Kirche#Position_im_Russisch-Ukrainischen_Krieg )

Zwei erklärte Feinde der liberalen Welt: der islamistische und der russische. Im Unterschied zur islamistischen Bedrohung hat die russische im Westen Unterstützer gefunden. Sie drängen die Ukraine zu Verhandlungen und stärken die russische Position. Armin Nassehi spricht von der „Rückkehr des Feindes“. ( https://www.zeit.de/kultur/2022-02/demokratie-bedrohung-russland-ukraine-krieg-wladimir-putin?utm_referrer=https%3A%2F%2Ft.co%2F ) Damit hat er die Weltlage gut auf den Begriff gebracht. Die Rückkehr des Feindbegriffs bedeutet das Ende einer Illusion. Der Feind hat den liberalen Gesellschaften den Krieg erklärt, einen totalen Krieg, nicht nur militärisch. Seine Vorboten sind schon unter uns.  Jan Fleischhauer schreibt im Focus, er „sehe in Wagenknechts Augen und … sehe das schwarze Herz der Leninistin“. (https://www.focus.de/politik/deutschland/schwarzer-kanal/die-focus-kolumne-von-jan-fleischhauer-das-lachen-der-alice_id_186708225.html).

Das Schwarze Herz. Von den Morden, den Vergewaltigungen, der Zerstörung der ukraini­schen Krankenhäuser ist im „Manifest für den Frieden“ nicht die Rede.

„Das Fehlen jeder Empathie hat einen Vorzug: Es erlaubt einem, völlig unbeeinträchtigt von Mitleid durchs Leben zu schreiten.“ (Fleischhauer). Genau das unterscheidet uns von unseren Feinden, auch wenn die westliche Welt nicht so golden ist, wie sie glänzt: Wir müssen und werden diesen uns erklärten Krieg gewinnen.

Zunächst tragen die Ukrainer die Blutlast. Wir sind in ihrer Schuld.

Denk ich an Kirche in der Nacht …

wie es weitergeht, wissen Sie. Auch wenn da Kirche steht statt Deutschland.

Doch warum Kirche? Warum schreibe ich das? Noch dazu als Pfarrer.

Weiter mit dem PDF:


Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 4 von 4, „Was nicht in der Studie steht“- Die Autorinnen belassen den unwissenden Leser in schandbarer Unwissenheit.

Diese „Rezension“ begann mit einem drastischen Beispiel das nicht in der Studie genannt wird und auch keine vergleichbaren Vorkommnisse. Doch die gab es und man hätte sie unschwer finden können, wenn man wenigstens gegoogelt hätte. Dieses Versäumnis wiegt schwer, weil die Autorinnen aus ihren früheren Untersuchungen wussten, dass Misshandlun­gen und auch Missbräuche zumindest punktuell zu diesen „totalen Institutionen“ gehörten, in denen die Schutzbefohlenen der Willkür des zumeist nicht pädagogisch ausgebildeten Personals ausgeliefert waren.

Hier das PDF:

Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 3 von 4: Die Bewirtschaftung der Bedürftigkeit

Seid klug wie die Schlangen[1] … auch bei den Finanzen.

Am Beginn stand die Idee vom barmherzigen Samariter, der einfach nur half.[2] Er sah sich zuständig im Gegensatz zu den Amtspersonen und (Schrift-)gelehrten. Der von ihm bezahlte Wirt gehörte sozusagen schon zu einem rudimentären Hilfesystem. Und wenn man das ausbaut?

Dann kommt man in der Moderne zur Bewirtschaftung der Bedürftigkeit.

Das Stephansstift ist ein Beispiel für die Geschichte so mancher der heutigen Sozialkonzerne. Die Autorinnen haben in ihrer Studie die Geschichte des Stifts ausführlich beschrieben[3], allerdings sehr unkritisch. Zwar sind sie nur bedingt zu kritisieren. Bilanzen lesen zu können gehört m. W. nicht zu den Studieninhalten von Historikern. Da müssen Spezialisten ran. Aber man sollte seine Grenzen bewusst wahrnehmen und dann Spezialisten heranziehen.

Das habe ich getan, denn auch ich kann keine Bilanzen lesen. Udo Bürger[4] hat sich die Bilanzen des Stephansstifts angesehen und damit wesentlich zu diesem faktengestützten Narrativ vom unaufhaltsamen Aufstieg dieser Einrichtung beigetragen.

Doch einige Fragen tauchen auch dem Laien auf: Warum, zum Beispiel, ist den Autorinnen die Expansion vom Stephansstift von seinen Anfängen bis hin zur Größe der „Dachstiftung“[5] keine Frage wert gewesen? Sie kannten die Bedingungen der Gemeinnützigkeit. Sie sind steuerfrei und dürfen deswegen keine Gewinne erwirtschaften.

Den so naheliegenden Fragen soll hier ansatzweise nachgegangen werden.

Da die Software von „wordpress“ wie wild die Formatierungen wechselt, folgt hier, nach den ersten Fußnoten, wieder die PDF-Version.

Demnächst geht es weiter mit dem abschließenden Teil 4 von 4.


[1] Jesus Christus spricht: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16).

[2] Das war eine Idee. Sie funktionierte nur bei reichen Geldgebern als Absicherung für das Jenseits.

Beispiele:

„Ich, Nicolas Rolin, … im Interesse meines Seelenheils, danach strebend irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen, […] gründe ich, und vermache unwiderruflich der Stadt Beaune ein Hospital für die armen Kranken, mit einer Kapelle, zu Ehren Gottes und seiner glorreichen Mutter.“

Oder die Fuggerei: Für das Wohnrecht gilt noch heute, Gebete für die Stifterfamilie zu sprechen:  „täglich einmal ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Stifterfamilie Fugger. https://de.wikipedia.org/wiki/Fuggerei

Abgesehen von solchen Beispielen sah die Realität meist anders aus, wenn es keine vertragliche Verpflichtung für die Versorgung von Bedürftigen gab.( https://de.wikipedia.org/wiki/Altenteil, https://www.proventus.de/blog/aktuelles/altersvorsorge-damals-und-heute.html

[3] Die Seitenanzeigen in diesem Teil beziehen sich auf die Studie. Sie sind auch in Teil 2 von 4 in diesem Blog zu finden: https://dierkschaefer.wordpress.com/2022/09/25/eine-jubeldenkschrift-zum-firmenjubilaum-das-stephansstift-hannover-teil-2-von-4/

[4] Name verändert. Ich beanspruche Quellenschutz.

[5] Vorab das Organigramm: https://www.dachstiftung-diakonie.de/fileadmin/user_upload/20210715_Dachstiftung_Diakonie_Organigramm.pdf

Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 2 von 4

Die Studie von Winkler/Schmuhl

Nach Vorwort, Dank und Einleitung geht der Gang chronologisch durch die Geschichte des Stifts. Ich folge dieser Gliederung und gebe die Inhalte in groben Zügen wieder.

Es geht um den Zeitraum von 1869 bis 2019. Schon der Beginn war turbulent: zeit- und sozialhistorisch, wie auch kirchengeschichtlich.

Zur Zeitgeschichte: Ich bin in Hannover aufgewachsen und zur Schule gegangen. Der „Übergang“ vom Königreich Hannover zur preußischen Provinz (https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Langensalza )  war in der Schule nie ein Thema. Dass wir zwar Beutepreußen, aber derb lustig waren, kannten wir nur aus dem verballhornten Lied von den lustigen Hannoveranern: „und haben wir bei Langensalza die Schlacht auch verloren, dem König von Preußen, woll’n wir was scheißen, einen großen Hucken vor die Tür, lustige Hannoveraner, das sind wir.“

Nun ja, von den großen Zügen der Regionalgeschichte blieben wir unbeleckt. Unsere Lehrer wussten‘s wohl nicht besser. Auch unserem Religionslehrer war wohl manches unbekannt, so auch die ernsthaften Rangeleien zwischen Landeskirche und „Innerer Mission“ zu dieser Zeit. Mir bis dato auch.

Die Zeiten blieben turbulent. Hervorgehoben sei hier zunächst die enge Verbindung (man kann es auch Durchseuchung nennen) zwischen den Diakonen (reichsweit) und den Nazis und besonders der SA. Diakone waren auch Wachpersonal in den KZs („Das ist unser Dienst, Herr Pastor, stehen und warten, dass man einmal auf einen Menschen schießen darf. Sind wir darum Diakone?“). Und nach WKII stieg das Stephansstift wie ein Phönix aus der Asche zu ungeahnten Höhen auf.

Hier der Volltext dieses Teils meiner Rezension.

Eine Jubeldenkschrift  zum Firmenjubiläum –  Das Stephansstift Hannover, Teil 1/4

Mehr als eine Rezension[1]:

1          Vorwort

[Ich] beginne mit meiner Zeit im Kinderbordell Stephansstift. Ich war von 1963 bis 1964 „nur“ 10 Monate im Knabenpuff der warmen Brüder. [2]

Das ist ein ungewöhnlicher Beginn für eine Rezension, denn das Zitat ist im vorgestellten Werk (im folgenden „Studie“ genannt) nicht zu finden, auch keine Passagen, die nur annä­hernd das wiedergeben, was der ehemalige „Zögling“ berichtet.

Es stellt sich jedoch die Frage, wie es zu dieser Auslassung der Autorinnen[3] gekommen sein könnte.

Da es sich hier zunächst um eine Rezension (Teil 2, Die Studie) handelt, werde ich die notwendigen Ergänzungen zur Studie an das Ende stellen (Teil 4, Was nicht in der Studie steht). Doch der Leser sei von Beginn an auf diesen erstaunlichen Makel hingewiesen.

Ein weiteres Desiderat ist die Suche nach den Wegen, die es ermöglich(t)en, dass eine gemein­nützige GmbH, die steuerbefreit/steuerbegünstigt keine Gewinne erwirtschaften darf, von kleinen Anfängen zur heutigen wirtschaftlichen Größe gelangen konnte. Doch dieser Frage ist man anscheinend bisher für noch keinen der prosperierenden wohltätigen Sozial­konzerne nachgegangen. (Teil 3, Seid klug wie die Schlangen.)

125 Jahre Stephansstift / [Hrsg.: Stephansstift, Hannover-Kleefeld]Schließlich stellen sich bei der Beschäftigung mit der Studie der Autorinnen weitere Fragen. Warum kam es überhaupt zu dieser umfassenden Studie?

Da die von Word-Press angebotene Software mir in der Anwendung zu große Probleme bereitet, folgt hier die Datei im pdf-Format.

Ein virtueller Stolperstein für Familie Heymann[1]

Hannover stolpert über nicht verlegte Stolpersteine – Die Entwicklung einer ehrbaren Provinzposse.


Stolpersteine bilden das flächenmäß größte Kunstwerk der Geschichte. Der Künstler Demnig hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, an jüdische Opfer des Nationalozialismus zu erinnern und sie damit zu ehren. https://de.wikipedia.org/wiki/Gunter_Demnig  Vor ihrem letzten Wohnsitz kniet er nieder und verlegt eigen­händig quadratische Steine im Pflaster. Sie tragen auf einer Messingplatte die Namen, Geburtsdatum, und, soweit bekannt, Verbleib und Todesdatum dieser Menschen, „ermordet in …“. Eine grandiose Idee. Freiwillige #diepolierer, halten diese Messingplatten blank und leuchtend sichtbar. Die Steine werden gestiftet und bei der Verlegung formiert sich ein kleiner Kreis von Men­schen; sie wollen die Erinnerung wachhalten und es gibt auch eine kleine Ansprache zur Würdigung der Toten; manchmal sind es ganze Hausgemeinschaften, die in den Tod geschickt wurden.

Warum nur virtuell, warum im Netz?

Nach offizieller Gedächtnispolitik der Stadt Hannover werden nur Juden gewürdigt, die tat­sächlich ums Leben gebracht wurden[1]. Wer sein Leben durch Flucht retten konnte, ist eines Stolpersteins nicht würdig, es sei denn, Hinterbliebene beantragen einen.

 

Das Kapitel 1 über das Stolpern der Stadt (1.1 bis 1.10) ist nur peinlich und man kann es getrost überschlagen und gleich runterscrollen zu:

„3 Ungehaltene Rede zur Verlegung eines Stolpersteins für die Familie Heymann“

1 Das Stolpern der Stadt

1.1 Vor schon längerer Zeit beantragte ich per Mail bei den zuständigen Personen der Stadtver­waltung einen Stolperstein für die Familie Heymann. Der Antrag blieb ohne Antwort.[2]

1.2 Von einem Freund erfuhr ich dann von der merkwürdigen Stolperpolitik der Stadt Hanno­ver und legte resignierend den Vorgang beiseite. Doch viele Monate später mailte mir dieser Freund, es gebe wohl doch eine Möglichkeit. Also ein zweiter Versuch. Diesmal wollte ich nichts falsch machen.

1.3 Ich schrieb am 8. März 2022 an die „Geschäftsstelle Städtische Erinnerungskultur“, nannte die mir bekannten Daten der Familie Heymann und fügte hinzu: „Ich habe diesen Antrag vor langer Zeit schon einmal bei Herrn Dr. K. gestellt. Damals blieb ich ohne Antwort. Mag sein, dass ein Mail nicht die angemessene Form gewesen ist, mag aber auch sein, dass anscheinend nur ermordete Juden einen Stolperstein bekommen sollten und Anträge keine Beachtung finden. Darum ein zweiter Anlauf, der nun­mehr Erfolg haben sollte.“

Also nicht per Mail, sondern per Brief und mit vollem Ornat meiner drei Universitäts­ab­schlüsse und, vielleicht eher ausschlaggebend, mit Veröffent­lichung im Verteiler von Jürgen Wessel.

„Sehr geehrte Frau S, wie ich über Herrn Jürgen Wessel erfuhr, sind Sie zuständig für Anträge auf Stolpersteine für von den Nationalsozialisten verfolgte Personen mit jüdischem Hinter­grund. In Hannover werden inzwischen auch Stolpersteine für Personen verlegt, die ihrer Vernichtung durch Flucht entkommen sind. Die Familie Heymann konnte flüchten …“

Diesmal kam die Antwort prompt, aber nicht von Frau S., sondern von Dr. G, eine Etage höher. – Eine freundliche Absage: „vielen Dank für Ihren erneuten Antrag zur Verlegung von Stolpersteinen für die Familie Theodor Heymann in Hannover. Bedauernswerterweise müssen wir Ihnen mitteilen, dass in der Stadt Hannover Stolpersteine grundsätzlich nur für während der Zeit des Nationalsozialismus Ermordete und gewaltsam zu Tode gekommene Menschen verlegt werden. Aus Respekt vor den (nächsten) Hinterbliebenen können aber auch für über­lebende bzw. emigrierte NS-Verfolgte Stolpersteine verlegt werden, sofern dies der ausdrück­liche Wunsch der Angehörigen ist. Vor diesem Hintergrund können wir Ihrem Antrag aktuell leider nicht entsprechen. Vielleicht können Sie aber noch Verwandte ausfindig machen, die eine Verlegung wünschen. Wir würde das auf jeden Fall begrüßen.“

1.4 Ich kündige die Verlegung eines Stolpersteins im Netz an[3]:

„Lieber Jürgen, die Absage hat mich eigentlich nicht gewundert, nur kam sie diesmal von einer höheren Etage. Nun, ich spare Kosten. Doch die Stadt vergisst, dass man über verlegte Stolpersteine achtlos drüber­latschen kann, über virtuelle nicht, die eignen sich zum Werfen.

Die Heymanns werden also einen Stolperstein im Netz bekommen.

Titel: Hannover stolpert über nicht verlegte Stolpersteine.

Es wird ein grundsätzlicher Artikel werden.“

1.5 Darüber stolperte Dr. B., „Direktor des ZeitZentrum Zivilcourage und in dieser Funktion auch Leiter der Städtischen Erinnerungskultur.“ Das Ganze, wie schon in der Absage von Dr. G.  unter dem Briefkopf des Oberbürgermeisters.

Zunächst lobt er mein Engagement, bleibt aber bei der Absage: „Wir vertreten weiterhin die Ansicht, dass Stolpersteine eine herausgehobene Ehrung für Menschen sein sollten, die unmit­telbar aufgrund der Verfolgung im Nationalsozialismus zu Tode gekommen sind. Für Über­lebende verlegen wir Stolpersteine daher nur auf Wunsch von Angehörigen.“ … „Über die Frage der Verlegung von Stolpersteinen für Überlebende gibt es inzwischen bundesweit unter­schiedliche Standpunkte, so dass sich auch in den einzelnen Kommunen unterschiedliche Vorgehensweisen entwickelt haben.“

Bautz, der Stolperer liegt auf der Nase. Denn müsste er nun sagen, warum Hannover so und andere anders. Tut er aber nicht, sondern stolpert weiter:

1.6 „Wie Herr Dr. G. betont hat, würden wir es sehr begrüßen, wenn Sie Kontakt zu Angehö­rigen der Familie Heymann herstellen könnten, so dass für die Familie Stolpersteine verlegt werden können.“

Wenn ich davon absehe, dass er mir seine Aufgabe zuschieben will, heißt das doch: die Ange­hörigen der Familie Heymann, Juden also, sollen sich tummeln, damit Juden einen Stolper­stein bekommen können, der anderswo auch ohne speziell jüdisches Engagement möglich wäre[4]. So ist das mit dem Stolpern: Man meint sich noch auffangen zu können, dann liegt man krachend auf der Nase. Doch er will sich – und die Stadt – wieder aufrichten und klagt:

1.7 „Etwas irritiert bin ich über den Ton und die Unterstellungen, die in den Mails von Ihnen und Herrn Wessel erkennbar sind. Ich weiß nicht, wie bei Ihnen der Gedanke aufkommen kann, dass für die Stadt Hannover nur ermordete Juden „gute Juden“ sein sollen. Das Schick­sal aller Verfolgten steht im Zentrum der Tätigkeit der Städtischen Erinnerungskultur, das ist unschwer an unseren zahlreichen Veranstaltungen, Veröffentlichungen und weiteren Akt­iv­itäten zu erkennen. Differenzierung ist dabei jedoch ebenso wichtig. Daher verstehen wir die Stolpersteine weiterhin in erster Linie als Würdigung derjenigen Menschen, die das schlimm­ste Verfolgungsschicksal erlitten haben, nämlich den Tod. Ebenso habe ich auch den Zusam­menhang mit der Ankunft von Flüchtlingen heutzutage nicht verstanden. In Hannover sind zahlreiche Stolpersteine für Menschen verlegt, die zunächst ins Ausland fliehen konnten und im Laufe der deutschen Eroberungen während des Zweiten Weltkrieges doch noch den natio­nalsozialistischen Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Dadurch wird die Tatsache gewürdigt, dass Flucht immer einen existenziellen Einschnitt bedeutet und nicht mit Rettung gleich­zu­setzen ist.“

Da liegt er schon wieder danieder. Eine Opferhierarchie! Flucht darf sein, sollte aber durch Nazi-Hand vom Tod gekrönt werden. Was ist mit denen, die sich lieber selber umbrachten, weil Flucht unmöglich war? Auch dafür gibt es Namen, beispielsweise Jochen Klepper und seine Frau. Der Gedanke, dass manche Überlebende die Toten beneideten, scheint undenkbar.

1.8 Doch er baut vor: „Sie schreiben ja über Ihre Planungen, für die Familie Heymann virtu­elle Stolpersteine zu verlegen und dies mit einem grundsätzlichen Artikel zur Verlege­praxis in Hannover zu kombinieren. Was halten Sie davon, wenn wir ebenfalls einen Artikel beisteu­ern, in dem wir die Gründe für das Vorgehen der Stadt Hannover darlegen? Dann könnte man sich dort gleich ein umfassendes Bild machen und eine Diskussion anstoßen.“

Aber ja doch, gerne, sehr geehrter Herr Dr. B!

1.9 „Vielen Dank für die schnelle Antwort. Ich will Sie nicht warten lassen. Es versteht sich von selbst, dass man in die unbequeme Rolle bei einem Paraklausithyron versetzt letztlich sich einer gewissen Polemik nicht enthält. Die werde ich auch nicht aufgeben. Zur Fairness gehört es, Ihnen nach Fertigung meines Artikels die Gelegenheit zur Darstellung der hanno­verschen Position innerhalb meines Artikels zu geben und Sie nicht auf die Kommentar­möglichkeit zu verweisen. Ich behalte mir allerdings vor, Ihre Erwiderung gegebenenfalls zu kommentieren“.

1.10 Zur Ehrenrettung von Hannover

Bevor Dr. B. hier den zugesagten Platz bekommt, will auch ich etwas zur Ehrenrettung meiner Heimatstadt Hannover sagen:

Man beachte die Adresse

Landeshauptstadt Hannover

Zentrale Angelegenheiten Kultur (41.03)

ZeitZentrum Zivilcourage

Direktion

Theodor-Lessing-Platz 1a

30159 Hannover

Mit Theodor Lessing[5] wird an herausragender Stelle, mehr Stolperstein geht nicht[6], ein han­noverscher Jude gewürdigt, der nicht nur von Nazis ermordet, sondern von der hanno­verschen Gesellschaft, seiner Hochschule und der Justiz lange vor seinem Exil „ausgesondert“ wurde. Lessing war ein selbstbewusster jüdischer Gelehrter und hatte über die engen Grenzen bürger­licher Toleranz hinweg auch sehr geärgert und herausgefordert mit seiner Berichterstattung über den Prozess gegen den Massenmörder Haarmann. [7]

2 Richtlinien der Stadt Hannover zur Verlegung von Stolpersteinen.[8]

Die Beteiligung der Landeshauptstadt Hannover an der künstlerischen Aktion „Stolpersteine“ seit dem Jahr 2007 erfolgte auf Grundlage der ursprünglichen Konzeption, nach der Stolper­steine als herausgehobene Form des Gedenkens für Opfer des Nationalsozialismus gedacht waren, die unmittelbar durch die Folgen der Verbrechen zu Tode gekommen sind. Vor jeder Verlegung eines Stolpersteins wird dabei grundsätzlich recherchiert, ob noch Angehörige der betreffenden Person leben, um deren Zustimmung einzuholen. Seit mehreren Jahren werden in einigen Kommunen auch Stolpersteine für Opfer verlegt, welche die Verfolgung überlebt haben. In der Folge wurden auch entsprechende Anträge an die Stadt Hannover gestellt. Daher wurden die Kriterien für die Verlegung im Jahr 2011 neu gefasst und dem Rat der Stadt Hannover zur Kenntnis gegeben. Die Stadt Hannover hält weiterhin grundsätzlich daran fest, dass die Stolpersteine eine besondere Form der Erinnerung darstellen, die das Gedenken an den allgemeinen Gedenkorten wie auf dem Opernplatz ergänzen. Diese besondere Form des Gedenkens sollte unserer Ansicht nach weiterhin in erster Linie den unmittelbar durch die Verfolgung zu Tode gekommenen vorbehalten bleiben. Dadurch entsteht eine differenzierte Form des Gedenkens, bei der an zentralen Orten allgemein der Verfolgung einzelner Gruppen gedacht wird, während ergänzend an die unmittelbaren Todesopfer individuell im Stadtbild durch die Stolpersteine erinnert wird. Wir halten diese Form der differenzierten Erinnerung weiterhin für gerechtfertigt. Die Verfolgung im Nationalsozialismus war für alle davon Betroffenen ein existenzieller Einschnitt. Doch während die Überlebenden die Chance erhielten, nach 1945 selbstbestimmt ihr weiteres Leben zu gestalten, bedeutete für die Todesopfer die Verfolgung das unwiderrufliche Ende.

Im Jahr 2011 wurde festgelegt, dass von der Praxis, Stolpersteine nur für durch die Verfolgung zu Tode gekommene zu verlegen, abgewichen werden kann, wenn Angehörige von Verfolgten dies beantragen. In der städtischen Erinnerungskultur der Landeshauptstadt Hannover ist die Perspektive der Verfolgten und ihrer Angehörigen seit jeher zentral, ihre Wünsche und Anliegen genießen eine herausragende Priorität. Dies ist im humanitären Aspekt des Auftrages der Erinnerungskultur begründet, nach dem die Familien der Betrof­fenen bei der Bewältigung der Folgen der Verfolgung unterstützt werden sollen, so weit es möglich ist. Daher kann Anträgen auf die Verlegung eines Stolpersteins durch Dritte nur entsprochen werden, wenn eine Zustimmung von Angehörigen derjenigen Person vorliegt, für die der Stolperstein verlegt werden soll.

Dr. B., Direktor des ZeitZentrum Zivilcourage der Landeshauptstadt Hannover“

3 Ungehaltene Rede zur Verlegung eines Stolpersteins für die Familie Heymann[9]

Als Kind kam ich regelmäßig am Grundstück Dieckbornstraße 7, Ecke Wittekindstraße[10] vorbei. Ein abgeräumtes Trümmergrundstück, so habe ich es in der Erinnerung. Ein paar Schritte weiter ging es zu Herrn Bolte, bei dem wir unsere Milch kauften.

Aus den Erzählungen meiner Mutter und meiner Oma wusste ich, dass hier die Heymanns ihren Laden hatten, eine Kolonialwarenhandlung, wie das damals hieß.[11] Man ging gern dort hin und Frau Heymann hatte auch immer gute Ratschläge zum Kochen und Backen, sie kannte sich aus. Die Heymanns waren Juden und meine Mutter kaufte dort, mit Parteiab­zeichen am Revers. Das war keine Heldentat, aber es hieß ja: Deutsche, kauft nicht bei Juden. Wenn die Judenhetze im Radio hochkochte, blieb meine Mutter eine Zeitlang weg. Wenn sie wiederkam, sagte Frau Heymann, „Nun ist auch meine letzte Kundin wieder zurück.“ Meine Mutter hat wohl nie daran gedacht, dass andere mutiger waren.

In unserem Besitz waren vier oder fünf silberne Kaffeelöffel, zwei habe ich noch. Die gab es jeweils als Jahresgabe zur Kundenbindung, wie man heute sagen würde.

Die Heymanns hatten einen Sohn, der altersmäßig zu meiner Mutter gepasst hätte; das war Anlass für scherzhafte Anspielungen von Frau Heymann.

Meine Mutter war Parteimitglied und Stenotypistin im HJ-Büro. Dort war sie unter „Kamera­den“, lauter Nazis, die kein Verständnis dafür hatten, dass meine Mutter sich 1941 kirchlich trauen ließ. Hitlers „Mein Kampf“ gab es auf dem Standesamt als Äquivalent zur Traubibel.

Trotz aller Kirchlichkeit bin ich in einer „normal antisemitischen“ Familie aufgewachsen. Mit normal meine ich das übliche Halbwissen über Juden, auch den Sprachgebrauch mit „nur keine jüdische Hast“ oder „es geht ja zu, wie in der Judenschule“. Meine Oma klagte über „die Kaftan-Juden“. Nach den Gebietsabtrennungen nach dem Ersten Weltkrieg waren wohl viele Juden aus Galizien nach Hannover gekommen[12], die in Gruppen auf dem Bürgersteig gehend keinen Platz ließen, so dass sie meinte, auf die Straße ausweichen zu müssen.

Meine Mutter hätte ganz sicher keinen Juden geheiratet, unabhängig von der Nazi-Hetze. Sie erstellte brav die Ahnentafel, um einen Unteroffizier heiraten zu dürfen[13]. An einer Stelle, zum Glück weit hinten, kam sie nicht weiter. „Da muss wohl ein Jude dringesteckt haben“, mutmaßte meine Oma. Doch meine Mutter erwies sich als hinreichend arisch.

Dieser Abstammungswahn war bereits eine Steigerung des bürgerlich-normalen Antisemi­tismus. Man hielt Distanz, wenn man auch bei Juden einkaufte oder zu einem jüdischen Zahnarzt ging – oder zu einem Geldverleiher. Diese Distanz war endemisch im christlichen Abendland, mit übelsten Verbrechen. Ich muss hier keine Geschichte des Antisemitismus ausbreiten. Doch dieser endemisch-rassistische Antisemitismus war der Nährboden für die Ermordung der europäischen Juden. Assimilation half nicht, die Aussonderung blieb. [14] + [15] Als ich mit meiner Mutter in Yad Vashem war, bekam sie einen Schwächeanfall angesichts der Berge von Menschenhaaren, Schuhen und Brillen.

Der Sohn Heymann, ich habe seinen Namen vergessen, ergatterte Ausreisepapiere für die Familie nach – Shanghai.[16] Den mir vorliegenden Daten zufolge war die Ausreise nach Februar 1939, vermutlich aber vor Kriegsbeginn.

Shanghai – so weit weg, sagte meine Oma in erschreckt-mitfühlendem Ton. „Weit von wo?“ Wie es Juden im Ghetto von Shanghai erging, lässt sich, wenn auch in Romanform, lesen in: Ursula Krechel, Shanghai, Fern von wo. Aufschlussreich ist auch die Darstellung, nach der Nazi-Deutschland über die Botschaft in Tokio versuchte, auch die geflüchteten Juden im von Japan besetzten Shanghai zu vernichten.

Die Bevölkerungsdichte im Ghetto war höher als im damaligen Manhattan. Durch japanische Soldaten unter dem sadistischen Befehlshaber Kano Ghoya streng abgeschottet, durften Juden das Ghetto nur mit spezieller Erlaubnis verlassen. Etwa 2000 Juden starben im Ghetto von Shanghai.[17]

Ob es in chinesischen bzw. japanischen Unterlagen Informationen über einzelne geflüchtete Juden aus der Zeit gibt, weiß ich nicht, doch das dürfte in diesem Zusammenhang nicht erheblich sein.

Aber hier liegt eine Aufgabe für die Stadt Hannover. Im Netz gibt es eine Fülle von Texten über das Shanghaier Ghetto und das Schicksal der geflüchteten Juden.[18] Dies sind zwar allgemeine Informationen, doch könnte man sicher an die Liste herankommen, die von Josef Meisinger[19] den Behörden übergeben wurde: Der erklärte, „er habe von Berlin den Auftrag, den japanischen Behörden die Namen aller „Anti-Nazis“ unter den Deutschen zu melden. „Anti-Nazis“ seien in erster Linie deutsche Juden, von denen 20.000 nach Shanghai emigriert seien.“

Resümee

Doch, insoweit hat die Stadt recht, andere wurden ermordet, viele fanden „ihr Grab in den Lüften“ (P. Celan). Stolpersteine zum Hören gibt es bereits[20], da mag es angemessen sein, wenn es nun Stolpersteine in den Wolken des Internets gibt für die wie auch immer „glücklich-Davongekommen.“

Aber vielleicht ändert die Stadt Hannover doch noch ihre Haltung?


[1] https://www.hannover.de/Kultur-Freizeit/Architektur-Geschichte/Erinnerungskultur/ZeitZentrum-Zivilcourage/St%C3%A4dtische-Erinnerungskultur/Stolpersteine

[2] Mein Antrag vom 24.10.2011, nachgehakt am 13. Dezember 2011

[3] Mit CC an Dr. G.

[4] Hier mag der Platz sein, etwas zu dem „Goi“ zu sagen, der sich unberufenerweise in originär jüdische Angele­gen­heiten mischt. Ich, Dierk Schäfer, bin ein Lindener Butjer, wie meine Großmutter sagte. Das können Interes­sierte nachlesen unter „Eine Kindheit und Jugend in Linden“ https://www.digitales-stadtteilarchiv-linden-limmer.de/wp-content/uploads/2020/03/Kindheit-und-Jugend-in-Linden.pdf

Meine Familie wohnt zwar seit 1967 in Süddeutschland, doch meine Verbundenheit mit Linden ist geblieben. So lud ich mithilfe von Jürgen Wessels Verteiler zu meinem 70sten Geburtstag zu einer Lindenmatinee ein.

[5] Karl Theodor Richard Lessing (* 8. Februar 1872 in Hannover; † 31. August 1933 in Marienbad, Tschechoslowakei) war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller und Publizist. Der von drei Attentätern in der Tschechoslowakei erschossene Autor gehört zu den ersten bekannten Opfern des Nationalsozialismus. https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Lessing

[6] oder doch? Ein Denkmal? Aber vor dem Rathaus steht schon eins. – Ironie an! Photo Dierk Schäfer https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/51951958319/in/dateposted-public/  –  Ironie aus!

[7] Zur lohnenden weiteren Lektüre empfehle ich nicht nur wiki, sondern auch die Biographie von Rainer Marwe­del, Theodor Lessing, 1872-1933, Darmstadt, Neuwied, 1987 „Theodor Lessings Leben ist eine Einführung in die Katastrophengeschichte dieses Landes.“

[8] Mein Artikel hat der Stadt bisher nicht vorgelegen, nur die Gliederung.

„Wenn sie auf den Artikel reagieren möchten, geht das im Kommentarteil. Sie wollten ja „ebenfalls einen Arti­kel beisteuern, in dem wir die Gründe für das Vorgehen der Stadt Hannover darlegen … und eine Diskussion anstoßen.“

[9] Diese Form der Rede hat im Unterschied zu einer tatsächlich gehaltenen den Vorteil, dass ich mich umfang­reicher – und mit Fußnoten – äußern kann.

[10] Auf dem Stadtplan von 1912 ist die Nummer schon eingezeichnet, die Ecke aber noch unbebaut. Nach der Zerstörung des Eckhauses war hier lange Zeit nur das aufgeräumte Trümmergrundstück, später dann ein Super­markt und danach ein Getränkemarkt: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/51951689376/in/dateposted-public/

[11] Heute würde man von „Tante Emma Laden“ sprechen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heutzutage dank Globalisierung kaum noch zu unterscheiden ist, was alles aus den weltweiten Kolonialreichen in unsere Läden kommt, aber die „Dritte-Welt-Läden“, inzwischen „Eine-Welt-Läden“, nicht Kolonialwarenhandlungen genannt werden.

[12] Das Jüdische Lexikon von 1927 zählt in der Übersichtskarte für Hannover Gemeinden mit 5-10.000 „Jüdische Seelen“ auf (Jüdisches Lexikon, enzyklopäd. Handbuch d.  jüd. Wissens in 4 Bd., Bd. 4 – 2 S-Z, Seite 673,  Nachdruck 1982). Der Artikel über Hannover in Bd. 2, D-H, referiert die Geschichte der Juden in Hannover, nennt aber keine damals aktuellen Zahlen.

[13] Ein erheblicher Aufwand wurde für die Ahnenpässe getrieben, viele Schreiben, um an standesamtliche Daten zu kommen, die ja lange Zeit nur in Kirchenbüchern vermerkt wurden. Einen vergleichbaren Aufwand durfte meine Mutter später treiben auf der Suche nach meinem als vermisst gemeldeten Vater.

[14] Ein SS-Mann wurde zitiert mit: „Was der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse legt die Schweinerei.“

[15] S. auch: http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Roehrbein-und-Thielen-veroeffentlichen-neues-Buch-Juedische-Persoenlichkeiten-in-Hannovers-Geschichte „Joseph Joachim: Er würde „peinliche Empfin­­dungen zeitlebens nicht überwinden“ können, wenn er in der Hofkapelle durch seine Taufe privilegiert wäre, „während meine Stammesgenossen in derselben eine demütigende Stellung einnehmen“, schrieb er verbittert.“

[16] Das Ehepaar Heymann wird in der „Liste über auswanderungsverdächtige (!) Personen“ ebenfalls aufgeführt. Die Angaben mit Verweis auf zwei Aktenvorgänge aus dem Februar 1939 lauten: „Heymann, Theodor Kolonial­warenhdl. u. Frau Rahel geb. Magnus, Hannover-Li, Dieckbornstr. 7“ Bemerkung zum Auswanderungsziel: „Nach Schanghai“.

[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Meisinger

[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Shanghai#Shanghai_als_Fluchtort_europ%C3%A4ischer_Juden

https://de.wikipedia.org/wiki/Shanghaier_Ghetto

http://www.exil-archiv.de/grafik/themen/exilstationen/shanghai.pdf

http://www.shanghaighetto.com/

http://www.shanghaighetto.com/about.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Japan#Juden_im_chinesischen_Shanghai

https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdisches_Fl%C3%BCchtlingsmuseum_in_Shanghai

https://www.zeit.de/reisen/2012-01/shanghai-juden

https://www.deutschlandfunkkultur.de/emigration-juedisches-leben-in-shanghai-100.html

https://www.fr.de/panorama/spuren-vorfahren-11053263.html

http://www.exil-archiv.de/grafik/themen/exilstationen/shanghai.pdf   

[19] Die Liste enthielt u. a. die Namen aller Juden mit deutschem Pass in Japan.

In Japan und dem japanisch besetzten China widmete sich Meisinger immer wieder der Judenverfolgung. 1941 intervenierte er bei japanischen Dienststellen und forderte sie auf, die etwa 18.000 jüdischen Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland im von den Japanern besetzten Shanghai zu ermorden. https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Meisinger

[20] https://de.wikipedia.org/wiki/SWR2_Stolpersteine_zum_H%C3%B6ren

alle Links: Sonntag, 20. März 2022

Noch ein Spendenaufruf,

Posted in Deutschland, Kindeswohl, kirchen, Krieg, Kriegskinder, Leben, Menschenrechte, Zeitgeschichte by dierkschaefer on 27. März 2022

diesmal „an alle Kirchengemeinden, Bezirkskonsistorien, Pfarrämter, kirchlichen Werke und Einrichtungen sowie an die hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Kirche“

„Noch ein Spendenaufruf“ trägt der Tatsache Rechnung,

  • dass an die beiden großen deutschen Spendenadressen nach Zeitungsmeldung bereits 250 Millionen € eingegangen sind,
  • dass Ungarn in einer ganzseitigen Anzeige in der FAZ unter dem Stichwort „Ungarn hilft“ um Spenden wirbt
  • und dass zahlreiche private Hilfeangebote gestartet sind.

Warum also noch ein Spendenaufruf?

Einerseits hat wohl nicht jeder prinzipiell Hilfewillige schon gespendet,

andererseits möchte jeder gern Gewissheit haben, dass seine Spende tatsächlich direkt bei den Flüchtlingen ankommt,

und schließlich ist ein spezieller Spenderkreis angesprochen: kirchliche Einrichtungen (und damit alle Personen), die kirchlichen Einrichtungen in Rumänien Geld für direkte Hilfe anvertrauen.

Im Aufruf, (hier als PDF beigefügt) heißt es: „Wir haben das Glück, dass unser ökumenischer Verein AIDRom sehr aktiv vor Ort ist und konkret hilft, wo die Not am Größten ist. So rufen wir hiermit zu einer schnellen und effek­tiven Spendenaktion auf, gerade weil der Flüchtlingsstrom zunimmt und jede Hilfe nicht früh genug ankommen kann. Diese Geldhilfen werden vor Ort eingesetzt für die Beschaffung von Lebensmitteln, Kindernahrung, Medikamenten, Transportmitteln, u.v.a.m.“

Bankverbindung – Spenden Sie bitte unter dem Vermerk: „Soforthilfe Ukraine” an:

BANCA TRANSILVANIA SUCURSALA SIBIU
IBAN: RO84BTRL 0330 1205 A579 5105
COD SWIFT: BTRLRO22

Dazu ein Link: https://www.evang.ro/nachricht/artikel/ekr-spendenaufruf-fuer-gefluechtete/