Dierk Schaefers Blog

Sally Perel, der „Hitlerjunge Salomon“ ist tot.

Posted in Deutschland, Geschichte, Gesellschaft, Kinder, Krieg, Kriegskinder, Leben, Nazivergangenheit, Zeitgeschichte by dierkschaefer on 3. Februar 2023

Gern und voll Hochachtung denke ich an diesen bemerkenswerten Menschen, eine bemerkenswerte Persönlichkeit und ein bemerkenswerter Lebenslauf.

Ich habe Sally Perel mehrfach erleben dürfen, sogar mit meiner Familie und ihm einen Ausflug gemacht. Dadurch habe ich ihn mehrfach mit seiner Geschichte gehört. Seine Berichte changieren ein bißchen in der Wortwahl, sind aber in den Grundzügen überprüft: „… es wurde auch in einigen Medien behauptet, dieser alte Herr dort in Israel — damit meinte man mich — hat diese Geschichte erfunden. Um das zu beweisen, haben mich zwei deutsche Zeitschriften aus Israel nach Deutschland eingeladen, der Stern und der Spiegel. Unter anderem ist es ihnen gelungen, die Adresse des Soldaten ausfindig zu machen, der mir damals gegenüberstand und mich fragte, ob ich Jude bin. Wir haben ihn bei sich zu Hause besucht. … Die Journalisten fragten ihn: »Herr Weidemann« – so heißt er – »erinnern sie sich noch an diesen Moment?“«. Er sagte: »Ja, natürlich. Ich war mit ihm fast ein Jahr in derselben Wehr­machtseinheit.«“ https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/09/02/erinnerung-und-identitaet/ , Fußnote 1.

Da sind wir schon in seiner dritten Lebensphase. Die erste war ganz normal: Ein jüdisches Kind, – bis er aus der Schule flog, weil er Jude ist. In der zweiten Phase war er ein begeisterter Hitlerjunge, in der dritten Phase durfte er wieder Jude sein bis er nach einer inneren Quarantäne von 40 Jahren seine Geschichte erzählen konnte.

Doch was rede ich. Wer seinen Film nicht gesehen hat, lese im Anhang, was er in der Akademie berichtete, denn im Jahr 2000 referierte er auf unserer Kriegskindertagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Zu den Tagungsteilnehmern war auch meine Frau mit sämtlichen Grundkurs­schülern Religion ihres Gymnasiums gestoßen. Das war Sally Perel wichtig, er wollte junge Menschen erreichen. So kam er bis ins hohe Alter nach Deutschland und erzählte seine erstaunliche Geschichte in Schulen, denn die Jugend wollte er erreichen um sie zu wappnen gegen den braunen Ungeist, der sich schon wieder breitmachte. Als er von sechs Schülern mit dem Hitler-Arm-hoch begrüßt wurde, sagte er: Ihr wollt in die Hitlerjugend? Dann fragt mich. Ich war dort. Zum Schluss ließen sie sich sein Buch signieren.

Doch nun sein Vortrag (Quelle: Dokumentation zur Tagung „Kriegskinder gestern und heute2 vom 17. – 19. April 2000, Nr. 12/2000, ISSN 0170-5970)

Noch ein Spendenaufruf,

Posted in Deutschland, Kindeswohl, kirchen, Krieg, Kriegskinder, Leben, Menschenrechte, Zeitgeschichte by dierkschaefer on 27. März 2022

diesmal „an alle Kirchengemeinden, Bezirkskonsistorien, Pfarrämter, kirchlichen Werke und Einrichtungen sowie an die hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Kirche“

„Noch ein Spendenaufruf“ trägt der Tatsache Rechnung,

  • dass an die beiden großen deutschen Spendenadressen nach Zeitungsmeldung bereits 250 Millionen € eingegangen sind,
  • dass Ungarn in einer ganzseitigen Anzeige in der FAZ unter dem Stichwort „Ungarn hilft“ um Spenden wirbt
  • und dass zahlreiche private Hilfeangebote gestartet sind.

Warum also noch ein Spendenaufruf?

Einerseits hat wohl nicht jeder prinzipiell Hilfewillige schon gespendet,

andererseits möchte jeder gern Gewissheit haben, dass seine Spende tatsächlich direkt bei den Flüchtlingen ankommt,

und schließlich ist ein spezieller Spenderkreis angesprochen: kirchliche Einrichtungen (und damit alle Personen), die kirchlichen Einrichtungen in Rumänien Geld für direkte Hilfe anvertrauen.

Im Aufruf, (hier als PDF beigefügt) heißt es: „Wir haben das Glück, dass unser ökumenischer Verein AIDRom sehr aktiv vor Ort ist und konkret hilft, wo die Not am Größten ist. So rufen wir hiermit zu einer schnellen und effek­tiven Spendenaktion auf, gerade weil der Flüchtlingsstrom zunimmt und jede Hilfe nicht früh genug ankommen kann. Diese Geldhilfen werden vor Ort eingesetzt für die Beschaffung von Lebensmitteln, Kindernahrung, Medikamenten, Transportmitteln, u.v.a.m.“

Bankverbindung – Spenden Sie bitte unter dem Vermerk: „Soforthilfe Ukraine” an:

BANCA TRANSILVANIA SUCURSALA SIBIU
IBAN: RO84BTRL 0330 1205 A579 5105
COD SWIFT: BTRLRO22

Dazu ein Link: https://www.evang.ro/nachricht/artikel/ekr-spendenaufruf-fuer-gefluechtete/

Was für ein Leseabenteuer!

Devianz als Schicksal? – Rezension

von Markus Löble1

„Dust in the wind

All we are is dust in the wind“

Rockgruppe Kansas (1977)

Dierk Schäfer, Theologe und Psychologe, ehemaliger Polizeipfarrer und Tagungsleiter der Evangelischen Akademie in Bad Boll, legt nun im Sommer 2021 mit „dem Schulz“ gleichzeitig „einen Schäfer“ vor. „Der Schulz“, das ist: Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Band 45 der Tübinger Schriften und Materialien zu Kriminologie (TÜKRIM)2

14 Jahre nach der verdienstvollen und prämiierten Heimkindertagungsreihe „Kinderkram“ der Evangelischen Akademie in Bad Boll 2007, die Dierk Schäfer als Tagungsleiter der Evangelischen Akademie organisiert und geleitet hat, liegt nun die kommentierte Ausgabe der autobiographischen Notizen „des Berufsverbrechers“ Dieter Schulz vor. Es ist das große Verdienst Dierk Schäfers, drangeblieben zu sein und trotz aller editorischer Rückschläge nun einen Rahmen für den schriftlichen Nachlass eines sehr bemerkenswerten Menschen – bemerkenswert wie wir alle (!) – geschaffen zu haben.

Was für ein Leseabenteuer! Viele versunkene Welten werden in diesem Band angesprochen und erscheinen sehr plastisch vor dem Auge der/s geneigten Leser*in. Dieter Schulz, geboren 1940 im ehemaligen Königsberg, erlebt als Kind Flucht und Vertreibung. Mutter Schulz flieht mit ihren Kleinkindern aus Ostpreußen, die Fluchterlebnisse werden sehr eindrücklich geschildert.

Dieter Schulz schrieb seine autobiographischen Notizen Jahrzehnte später in Haft. Er blickt auf eine Kindheit in Deutschland der 50er Jahre zurück. Kleine und große Fluchten werden ihn sein Leben lang von geographischen und emotionalen Nirgendwos in Heimen und später Haftanstalten zu immer weiteren Nirgendwos führen. Kindheit im Nachkriegsdeutschland heißt für ihn, meist keine Schule zu haben, dafür lernt er fließend Russisch und sich durchzuschlagen. Was das Leben pädagogisch versäumt oder anrichtet, bedeutet oft „lebenslang“ – für uns alle. Die blind machende „Hasskappe“ setzte sich Dieter Schulz schon als Kind und später immer wieder in seinem Leben auf. Heute kann Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie manches Mal positiv wirksam werden, viel mehr noch hätte damals moderne (Trauma-) Pädagogik in modernen Jugendhilfeeinrichtungen wirksam werden können. Es hat sich wirklich viel getan in den vergangenen Jahrzehnten. Auch dies ist ein Ergebnis der Lektüre.    

Behutsam und kenntnisreich leitet Dierk Schäfer den/die Leser*in durch den Irrgarten der Notizen des Kriminellen Dieter Schulz. Es hätte immer auch anders kommen, anders ausgehen können. Dierk Schäfer ordnet und führt dort, wo es sein muss und schafft gerade dadurch Raum für seinen Schulz und seine Leser*innen. Raum für die vielen Welten eines wechselvollen Lebens in Ost- und Westdeutschland, in Kindheits-, Jugend- und später Erwachsenenwelten.

Natürlich wird beschönigt. Sehr kompetent und deshalb sehr hilfreich sind die Kommentare und Fußnoten des Kriminologen Dierk Schäfer, der er neben dem Psychologen und Theologen eben auch noch geworden ist. So ist „der Schulz“ eben auch „ein echter Schäfer“ geworden. Zwei Unbeugsame haben sich hier gefunden. Ein Buch, das auf dem Schnittpunkt dreier Berufe und Berufungen geschrieben wurde. Der Theologe, Psychologe und Kriminologe Schäfer führt hier zusammen, was zusammengehört. Eine im besten Sinne ganzheitliche Sicht auf einen Menschen und sein Leben, jedoch ganz ohne den Anspruch zu erheben, diesen dadurch zur Gänze zu erfassen. Wie sollte das in dieser kontingenten Welt schicksalhafter, zum Schicksal werdender Zufälle auch möglich sein?  

So bleibt dies Buch wohltuend ohne Fazit, ohne Urteil, ohne Wertung und ist eine Fundgrube des Wissens, jederzeit staunend machend. Es lohnt, sich auf diese Lektüre einzulassen. Danach bleibt eigentlich nur eine Sache unverständlich. Warum wurden die autobiographischen Notizen des Dieter Schulz nicht wie geplant verfilmt oder konventionell verlegt?

Immerhin verdanken wir der Beharrlichkeit Dierk Schäfers nun einen überaus lesenswerten Band 45 der Tübinger kriminologischen Schriftreihe. Ein echter Geheimtipp für Jurist*innen, Kriminolog*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und – last, but not least – für alle Leser*innen, die sich dafür interessieren lassen, wie es einem erging, der 1940 in ein Kriegseuropa hineingeboren wurde, darin aufwuchs, sich immer wieder berappelte und bis zu seinem Tode 2019 versuchte, das Beste daraus und aus sich zu machen.

Dierk Schäfers Schulz liest sich unterhaltsam und pendelt immer wieder zwischen bodenloser Tragik und sehr lebendiger Komik. Erlebnisse von Grass’scher Drastik wechseln sich ab mit Schilderungen, z.B. eines Banküberfalls, die wie aus dem Drehbuch der guten alten Olsen-Bande anmuten. Der Tod eines Kardinals leuchtet in den enzyklopädisch kenntnisreichen Fußnoten ebenso auf wie „das Milieu“ rund um das hannoversche Steintorviertel. Wer mag da urteilen, wer den Stab brechen? Der Rezensent schließt zu diesem lebensprallen Buch mit Nietzsches Zarathustra: „War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!“

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Fußnoten

1 Dr. med. Markus Löble, FA für KJPP, Arzt für Naturheilkunde, Suchtmedizin, systemische Familientherapie (DGSF), forensische Begutachtung (DGKJP). Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Christophsbad, Göppingen    

2 Dierk Schäfer: Devianz als Schicksal. Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie (TÜKRIM), Band 45, erschienen in: TOBIAS-lib-Universitätsbibliothek Tübingen, Juristische Fakultät, Institut für Kriminologie (2021). ISSN: 1612-4650; ISBN: 978-3-937368-90-0 (elektronische Version, Kostenfreier Download: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y) und 978-3- 937368-91-7 (Druckversion, 22,70 €,  beim Institut für Kriminologie, z. Hd. Frau Maria Pessiu, Sand 7, 72076 Tübingen, @ maria.pessiu@uni-tuebingen.de  )

Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz sieht aus wie ein Schelmenroman – ist aber Realität

Das Leben von Dieter Schulz, geboren 1941, seine Lebensumstände und seine „Karriere“ bilden den Kern dieser Publikation[1]. Schon der einleitende Nachruf kündet von einem außerordentlichen Leben. Ausgangspunkt ist seine Autobiographie, geschrieben während eines 10jährigen Knastaufenthaltes und nach Aufforderung fortgeführt bis in die Zeit seines körperlichen Verfalls. Dieses Leben ist spannend. Vergangenheiten werden lebendig:

  • Das Kriegsende und die Nachkriegswirren bis 1949 in Ostpreußen, die Rote Armee und die Überlebensbedingungen der verbliebenen Deutschen. Schulz lernt in dieser Zeit Russisch, die Grundlage für die erfolgreichen Schiebergeschäfte des 10/11-jährigen (!) später in der DDR.
  • Seine Heimkarriere begann eher zufällig am 17. Juni 1953. Doch was für eine Karriere, bestimmt durch die Unfähigkeit der Heimerziehung in der DDR und abenteuerliche Heim-Fluchten, spannend erzählt.
  • Im Westen, vom Vater abgeschoben, muss er sich durchkämpfen, bekommt eine erstklassige Kellnerausbildung, doch der Balkonsturz des schwarzen Liebhabers seiner Frau bringt ihm die erste Zuchthausstrafe ein.
  • Eher zufällig beginnt er mit akribisch geplantem Automatenbetrug, hat immer wieder Pech mit seinen Helfern, besonders mit seinen Frauen, – das auch fürderhin.
  • Schließlich misslingt ihm – auch eher zufällig – der große Coup: Ein riesiges Drogengeschäft, das er mit selbstgedruckten „Blüten“ bezahlen und dann untertauchen will. Doch ein bewaffneter Banküberfall hat mörderische Folgen.

Schulz inszeniert sich gekonnt. Lange ist man geneigt, alles zu glauben. Doch sein Sohn Sascha fügte noch ganz andere und sehr überraschende Aspekte bei und korrigiert damit das saubere Bild vom Verbrecher aus unheilvollen Verhältnissen. Doch ein Kämpfer war Schulz sein Leben lang. Klein, aber oho. Ein Aufstehmännchen.

Dieses Leben fordert kriminologische Forschung geradezu heraus. Wie kommt es zu Devianz, wie pflanzt sie sich fort? Die Publikation steht in ehrwürdiger Tradition, denn schon der Oberamtmann von Sulz am Neckar, Jacob Georg Schäffer, (1745-1814) erkannte die sozialen Missstände als Quelle von Kriminalität und wollte die noch jungen Kinder der „Janoven“ in Pflegefamilien untergebracht wissen.

Dieter Schulz als Person ist eher bedeutungslos. Zwar beschreibt er sein kleines Leben in faszinierender Weise. Doch es hülfe alles nichts. August Gottlieb Meißner (1753-1807) schrieb ganz richtig: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“

Warum also ist Schulz nicht nur für Kriminologen interessant? Er entwirft beispielhaft, lehrreich und unterhaltsam ein Sittengemälde seiner Zeit. Zwar fragt er: „War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?“ Seine Antwort lautet aber: „Mein Leben sollte nicht unbedingt als Beispiel dienen, deswegen ist mein Leben lesenswert!“


[1] Man kann sie kostenfrei herunterladen.  https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Die Druckversion (print-on-demand) kann bestellt werden beim Institut für Kriminologie der Eberhard Karls Universität Tübingen, Sand 7, 72076 Tübingen, 07071 / 29-72931, Mail: ifk@uni-tuebingen.de

Wir Insider wundern uns

„Die Geschichte der Heimkindheiten endlich konsequent aufarbeiten!“ fordert die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Situation Betroffener der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR“[1], im Folgenden Rörigkommission genannt.

Nanu? Hat Frau Vollmer nicht am „Runden Tisch Heimerziehung“ die Aufarbeitung längst besorgt? So richtig begann es 2006 mit dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ [2]. 2008 wurde der Runde Tisch eingerichtet[3], ich selber habe dort bei der „2. Anhörung“ am 2. April 2009 referiert[4] und Verfahrensvorschläge vorgestellt.[5] Mein Blog hat sich in der Folgezeit hauptsächlich mit den Heimkindern beschäftigt, so auch andere Plattformen im Netz.[6] In der Folge begannen manche Heime ihre Vergangenheit in umfangreichen seriösen Studien auf­arbeiten zu lassen. Hier seien nur zwei der vielen Publikationen von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler genannt[7]. Dazu kommen noch die Berichte über die Ergebnisse des Runden Tisches von Prof. Kappeler, ein überaus kompetenter Fachmann,  der vom Runden Tisch wohlweislich ausgegrenzt wurde.[8]

Was will die Kommission mehr?

Kann sein, dass auch sie mit den Ergebnissen des Runden Tisches nicht zufrieden ist. Da werden ihr viele, so auch ich, beipflichten. Der Runde Tisch hatte zwar auch ein paar wissen­schaftliche Arbeiten in Auftrag gegeben, doch es handelte sich bei dem Runden Tisch um einen von Beginn an eingefädelten Betrug.[9] Dort wurden die ehemaligen Heimkinder gekonnt von Antje Vollmer über den Tisch gezogen.[10] In quasi mafiöser Verbindung konnten Staat und Kirchen das für sie Schlimmste verhindern: nix da 2Eine echte Entschädigung und eine Aner­kennung der Arbeit der Kinder in Fabriken und Landwirtschaft als Zwangsarbeit. Medi­ka­mententests an Kindern kamen nicht zur Sprache, für Säuglingsheime, Behindertenein­rich­tungen und psychiatrische Unterbringungen zeigte man sich nicht zuständig. Durch ganz andere Problemlösungen im Ausland, zb gerichtliche Untersuchungsausschüsse ließ man sich nicht irritieren. Die Rechtsnachfolger der Misshandler traten in die Fußstapfen der Täter. Es hätte eine Lösung gegeben: Der Staat (die Länder und ihre Jugendämter) übernehmen die Verantwortung, zahlen Entschädigungen und refinanzieren sich bei den kirchlichen Einrichtungen. Hätte – aber genau das wollte man nicht.[11]

Wenn die Rörigkommission diese Fälle, ergänzt durch die hinzugekommenen Missbrauchsfälle, die damals kaum Thema waren, neu aufrollen will, muss sie die Erfahrungen der Heimkinder berücksichtigen: all die Untersu­chun­gen haben für sie nichts gebracht. Ihre Berichte waren nur das Rohmaterial für Wissen­schaftler, die damit ihr Geld verdienten und ihr Karriere beflügelten. Gewiss, sie gaben den Opfern Anerkennung, ihre Ergebnisse riefen bei den Rechtsnachfolgern „Betroffenheitsgestam­mel“[12] hervor, doch die waren damit glimpflich davongekommen und die Heimkinder fühlten sich abermals missbraucht. Wenn Herr Rörig mit sei­ner Kommission die Lage dieser Gruppe nach­haltig verbessern will, ist er herzlich willkom­men. Das Beweismaterial liegt vor. Neue Untersuchungen sind unerwünscht. Sie würden nur als Arbeitsbeschaffungs­maßnahme gesehen. Auch schon lange fordern die Heimkinder für sich andere Lösungen als Alters- oder Pflegeheime. Alles längst bekannt.[13]

Es mag sein, dass die Kommission vornehmlich die Missbrauchsfälle sieht, weil sich bei ihr dieser Personenkreis gemeldet hat, der zuvor nicht so sehr im Blickpunkt stand. Das Melde­aufkommen nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Piusheim macht deutlich, dass dieser Bereich noch ein großes Dunkelfeld bergen dürfte. Ich weiß, dass wir in nächster Zeit noch einiges über klerikale Pädokriminalität hören werden einschließlich der wirtschaftlichen Nutzung der Missbrauchsopfer. Das wird noch spannend. Aber …

Aber das interessiert die Öffentlichkeit nur vorübergehend. Die Heimkinder fanden sogar persönliche Beachtung in ihrem jeweiligen Lokalblatt, das sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, Opfer aus der näheren Umgebung präsentieren zu können. Es ist den Medien nicht vorzuwerfen, dass sie immer eine neue Sau durch ihre Blätter jagen müssen, denn der Skandal von heute verdrängt den von gestern. Die Leute wollen im Grunde nichts wissen, sondern nur unterhalten werden – und das ist der eigentliche Skandal.

Wenn die Rörigkommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit all den erforderlichen Vollmachten durchsetzt, wenn diese Untersuchungen die Staatsanwaltschaften nötigen, die einschlägigen Archivakten in Jugendämtern, Kirchen, Klöstern und Jugendhilfe­einrichtungen zu beschlagnahmen, und das unabhängig von der Verjährungsfrage[14], dann dürfte sie auch Unterstützung von den Opfern erwarten.

Kurz zur Verjährung: Sie ist eigentlich dazu gedacht, Rechtsfrieden zu schaffen für Uraltfälle. Eine nicht befriedigende aber letztlich befriedende Lösung. Doch hier hilft sie nicht. Die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern, den Misshandelten und den Missbrauchten stellen das wohl größte Verbrechen in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Prof. Kappeler: „Mitten im Kern des eigenen Gesellschaftssystems geschieht solches Unrecht in unvorstellbaren Ausmaß und sämtliche – verfassungsrechtlich, staatsrechtlich, verwaltungs­rechtlich! – vorhandenen Kontrollsysteme versagen; nicht zufällig!“[15] Die Zahl der Opfer ist kaum überschaubar, die „Qualität“ der Verbrechen reicht von deutlicher Benach­teiligung und Ausbeutung bis hin zu Monstrositäten grundlegender Menschen­rechtsverletzun­gen Hier kann nicht gesagt werden: „Schluss jetzt, Schwamm drüber.“ Wir werden – Verjährung hin oder her – keinen Rechtsfrieden bekommen, allenfalls Friedhofsruhe, wenn die Opfer gestorben sind – doch ihre Geschichten leben weiter.

Hinzu kommt, dass in vielen Fällen der Rechtsweg von Beginn an schuldhaft versperrt blieb: Wer sich über seine Miss­handlungen beklagte, (sei es in der Einrichtung oder bei der Polizei, den Hilfs­beamten der Staatsanwalt­schaft,) wurde nicht nur abgewimmelt, sondern zuweilen auch noch geprügelt, weil er „Lügen“ erzähle. Wer, mündig geworden, auspackte, wurde bedroht. Beispielhaft sei hier Alexander Markus Homes genannt. Sein Buch „Prügel vom lieben Gott“ erschien erstmals 1981, also vor inzwischen 39 Jahren. Und die Kirche versuchte, ihn mundtot zu machen.[16] 1999 erschien das Buch MUNDTOT.[17]von Jürgen Schubert, ein weiterer Pionier. Schließlich ist noch an Paul Brune zu erinnern. Es geht dabei nicht um das Unrecht während der Nazi-Zeit (er wurde in eine der Tötungsstationen der Kindereuthanasie eingewiesen), sondern um das in der Bundesrepublik.[18]

Mich würde auch interessieren, mit welchen Methoden die Organisatoren der Kinderbordell-Einrichtungen gearbeitet haben, um die Heimkinder für den Sexmarkt gefügig zu machen und wer abkassiert hat.

Aber: welche Bedeutung haben Opfer angesichts der mächtigeren Interessenvertreter?

Es ist gut, sehr geehrter Herr Rörig, dass Sie sich nun über die Missbrauchsfälle hinaus auf breiterer Front eingeschaltet haben. Schließlich umfasst das Spektrum missbräuchlicher Behand­lung von Schutzbefohlenen weitaus mehr als nur den sexuellen Bereich; die mensch­liche Bosheit ist bodenlos.[19]

Wir sind nun einer neuen(?) Form des sexuellen Missbrauchs auf der Spur, der Bordel­li­sie­rung von Heimkindern. Ansätze dazu gab es bereits in der Korntal-Sache; die konnten aber m.W. nicht ausreichend belegt werden. Nun hören wir von ähnlichen Vorwürfen aus Mallorca und aus dem Piusstift. Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie in Sachen Piusstift Beweis­material beschaffen könnten.

Eine andere Investigativgruppe ist mit ihren Recherchen schon weiter. Eine erste fundierte Anzeige läuft bereits. Doch wie Sie wissen sind Staatsanwälte weisungsgebunden und die Schutzlobby der Täter ist mächtig. Haben Sie einen Draht „nach oben“?

Wenn dieser Kinderbordell-Fall demnächst, wie ich vermute, in die Medien kommt, müssten Sie mit Ihrem Material bereitstehen. Denn für „Kinderkram“ ist die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums wie auch die der Politiker nicht so groß wie für Corona. Dann sollten Sie in Ihrer Funktion dafür sorgen können, dass ein Staatsanwalt mit seinem Team direkt ins Archiv marschiert, bevor dort die Akten vernichtet werden. Wie weit geht Ihre rechtliche Kompe­tenz?  Sind Sie befugt, Klage zu erheben und werden Sie es tun?

Sollte Ihnen bei der Sichtung des Materials, das ich Ihnen jetzt präsentiert habe, der Kopf schwirren, empfehle ich zur Entspannung ein Kapitel aus den Aufzeichnungen des Heimkindes Dieter Schulz. „Von Auerbachs Keller in­ den Venusberg“.[20]

Fußnoten

[1] Stellungnahme vom 23. April 2020,https://www.aufarbeitungskommission.de/meldung-23-04-2020-stellungnahme-aufarbeitung-heimkindheiten/

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schl%C3%A4ge_im_Namen_des_Herrn.Heimkinder waren vorher schon einmal Thema gewesen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ Fußnote 1.

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Runder_Tisch_Heimerziehung_in_den_50er_und_60er_Jahren

[4] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/runder-tisch-bericht-ds.pdf

[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/verfahrensvorschlage-rt.pdf

[6] Beispielhaft sei hier nur die umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit der Freien Arbeitsgruppe JHH aus Volmarstein genannt. http://www.gewalt-im-jhh.de/Grundung_der_Freien_Arbeitsgru/grundung_der_freien_arbeitsgru.html Nicht zu vergessen die stupende Aktivität von Martin Mitchell in Australien, ehemaliger Zwangsarbeiter im Moor von Freistatt bei Bethel. https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/01/freistatt_kappeler.pdf

[7] Rezensionen: Himmelsthür:https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/01/rezension-himmelsthc3bcr.pdf und Volmarstein: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/

[8] http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Kritischer_Ruckblick_2011.pdf Interessant ist, dass hier die Autoren eine mythisch-literarische Sprache verwenden: „Sie schreiben: »Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das ‚Herz der Finsternis‘« So heißt der Roman von Joseph Conrad, in dem er eine (fiktive) Expedition zum Oberlauf des Kongo, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II beschreibt. Der „Freistaat Kongo“ stand außerhalb jeglichen Völkerrechts. Seine Bevölkerung wurde millionen­fach zur Arbeit gezwungen, verstümmelt, versklavt, getötet. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6864476092/in/photolist-bss87h-bsAdtW-bstBdj-bFv4Nz-bFoukV-bFmU1D-brHiv7-bFmHZK-bFn3fv-bFn4MD-bss62f-bsAbz7-bsAeA5-bstGNY-bsAd8N-bstK9w-bFoDuR-bFmSHB-bFmPwD-bFmMWB/  Das Ganze unter dem „Deckmantel eines wortreichen humanitären Missionseifers“.

Auch ich griff –  eher unbewusst – auf solch ein mythisch-literarisches Vorbild zurück, als ich meinem geplanten Essay über die Klerikale Pädokriminalität dieses Motto voranstellte:

Willkommen im Reich des Bösen!

Lasst, die ihr reinkommt, alle Hoffnung fahren!

Ach so, nur zu Besuch …

Auch Kinder dabei? Nein? Schade.“

Hier regiert die Phantasie von de Sade, der nicht nur wegen seiner Phantasien viele Jahre seines Lebens eingekerkert war.  https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/49821171961/in/dateposted-public/ Ein Schmankerl: de Sades Schädel von Dr. Ramon nach den Methoden der Phrenologie untersucht: „Sades Schädel glich in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407841.html

[9] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/

[10] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/

[11] Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8409300786/in/photostream/

[12] Helmut Jacob, Volmarstein, prägte diesen zutreffenden Begriff.

[13] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/02/noch-einmal-ins-heim-von-den-letzten-dingen/

https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/14/wer-will-ins-heim-ins-altenheim-vom-stephansstift/

[14] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/28/schindluder-mit-dem-heiligen/

[15] http://heimkinderopfer.blogspot.com/

[16] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/09/06/alexander-homes-ein-pionier/

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/19/zweierlei-leid-heimkinder-mit-behinderung-sollen-weniger-entschaedigung-bekommen/

https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/27/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt-2/

https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/06/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt/ dort: „Hintergrund“

https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/09/22/man-hat-uns-die-religion-mit-prugeln-implantiert/

https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/15/das-system-schlug-mit-wucht-zuruck/

Hier ein sehr erhellender Auszug aus dem Buch von Homes: https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/13/wir-haben-den-kindern-immer-wieder-gesagt-dass-wir-sie-im-namen-von-jesus-christus-erziehen/

[17] http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Nachkriegsbiographie_MUNDTOT_bei_Aachener_Juergen_Schubert.html

https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/10/26/und-nun-ein-film-holle-kinderpsychiatrie-gewalt-und-missbrauch-hinter-anstaltsmauern/

https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/06/merkwurdig-die-vinzentinerinnen/

[18] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/12/26/der-fall-paul-brune/

https://www.lernzeit.de/lebensunwert-der-weg-des-paul-brune/

[19] 1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/12/21/1-weihnachtsfest-mit-2-diakonissen/

[20] https://dierkschaefer.wordpress.com/tag/kamasutra/

17 Jahre Knast gab es für Dieter Schulz. Nun ist er gestorben. Wie sollen wir ihm gerecht werden?

Die Leser meines Blogs kennen Dieter Schulz. In vielen Folgen erschien hier seine Autobiographie[1].

Man sagt gern umschreibend, jemand habe das Zeitliche gesegnet. Doch das Zeitliche segnen konnte er wohl kaum. Denn die Zeiten waren nicht gut zu ihm, und er hat entsprechend reagiert.

Hier mein Nachruf:

Nachruf auf Dieter Schulz [2]

Sein Leben begann am 27. Januar 1940 und endete am 12. Juni 2019.

Was er erlebte, was er machte, reicht locker für drei Leben aus, wie ich schrieb, und keines wäre langweilig.

Was jedoch – oberflächlich gesehen – spannend ist, entpuppt sich als terrible, als erschreckend.

»War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!« fragt Dieter selber in seiner Autobiographie und fasst damit seine schrecklichen, uns erschreckenden Kindheitserlebnisse zusammen.

Wie kann Leben unter diesen Startbedingungen gelingen?

Dass es „funktionieren“ kann, ist bei ihm nachzulesen.

Aber wie hat es funktioniert?

Nachrufe, also Rückbesinnungen auf kriminelle Karrieren sind kein Problem, wenn es sich um bedeutende Kriminelle handelt, also um Staatmänner, Feldherren, Patriarchen, auch Firmengründer. Entweder man lässt die kriminellen Passagen weg oder man schönt sie – und wenn der Nachrufer vom selben Kaliber ist, verherrlicht er sie sogar.

Doch was ist mit den „kleinen Leuten“?

»unsereins hinterlässt nur flüchtige spuren, keine
zwingburgen, paläste, denkmäler und tempel
wie heilige, herrscher, heerführer, auch keine
leuchttürme von wissen und weisheit.

irgendwo in archiven überdauern daten
unseres dagewesenseins, – kann sein, eines tags
kommt ein forscher und ergänzt mit belanglosigkeiten
das bild unserer zeit, und wir sind dabei.«

Als „klein, aber oho“ habe ich Dieter Schulz charakterisiert. Ich denke, das trifft ihn ganz gut und er hat auch nicht widersprochen – gelesen hat er‘s. Man kann es nachlesen, demnächst in den Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie. In meinem Dank für alle Beteiligten an dieser Veröffentlichung schreibe ich (und muss nun die Todesnachricht hinzufügen):

»Zuallererst danke ich Dieter Schulz für seine Autobiographie. Er hat sie als Mahnung an künftige Generationen verstanden und darin auch einen Sinn für seinen reichlich „schrägen“ Lebenslauf gesehen. Ich verwendete dafür im Mailwechsel das Sprichwort: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Aus seiner Idee einer eigenständigen Publikation ent­wickelte sich – nolens volens – eine kriminologische Fachpublikation, und Dieter Schulz musste ertragen, dass seine locker hingeschriebene und stark stilisierte Geschichte auch kritischen Augen standhalten musste mit nicht immer schmeichelhaften Schlussfolgerungen. Er hat dieses ertragen, so wie er auch – wieder nolens volens – die longue durée des Entstehungsprozesses erdulden musste, obwohl sie sich auf seine Seelenlage auswirkte: Zwischen Hoffnung und Depression. Herzlichen Dank, lieber Dieter Schulz! – Ich habe ihm diesen Dank vorweg­geschickt, obwohl noch nicht alles „in trockenen Tüchern“ ist, denn sein Gesundheitszustand ist prekär.«

Nun hat ihn wenigstens dieser Dank noch lebend erreicht.

Was bleibt von diesem Leben?

Uns bleibt seine Autobiographie als „mahnend Zeichen“, ein zum Teil schrecklicher, erschreckender aber faszinierender Rückblick.

Und seine Angehörigen soweit sie noch leben? Seine diversen Frauen? seine Kinder?

Die Frauen werden wohl kaum von seinem Tod erfahren und wohl auch nicht alle seiner Kinder. Doch wer ihn „dicht bei“ erlebt hat, kommt nicht drumherum, für sich selbst das disparate, das erschreckend/schreckliche Bild von Dieter Schulz zu würdigen, – ja, zu wür­digen! Er war ja nicht nur „der Täter“, von was auch immer. Er hat in seiner Lebensbe­schreibung auch sein Inneres offengelegt. Er konnte weinen, nachts im Bett als Heimkind, und musste am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen, Gefühle waren tabu. Bei allen Eitelkeiten verfügte er über ein hohes Maß an Selbstreflexion, auch darin konnte er rück­sichtslos sein.

Ich möchte diesen Nachruf mit zwei seiner Idealfiguren abschließen, die ihn bestimmt haben.

Da ist zunächst seine über alles geliebte Mutter. Sie warf sich schützend über ihre Kinder, wenn Tiefflieger Jagd auf die Flüchtenden machten – da wuchs in aller Bedrohung das, was wir Urvertrauen nennen. Sie „hielt uns am Kacken“ schreibt er in seiner unnachahmlichen Drastik; im Psychologenjargon steht beides für die basic needs, für die Grundbedürfnisse. Sie versteckte ihn vor VoPo und Jugendamt, aber sie griff in ihrer Erziehungsnot auch zum Aus­klopfer oder gar Schürhaken und gerbte ihm das Fell. Eine Frau, hart gemacht durch das Leben.

Auf der anderen Seite die unerreichbare Monika, sein Schwarm aus Dönschten, einem seiner vielen Kinderheime. Er sah sie nur am Fenster und verehrte sie, wie ein Minnesänger seine unerreichbare Dame. Sie zählt zu den Adressaten, die er in seiner Lebensbeschreibung nennt. Sie soll nicht alle seiner Verirrungen lesen, um kein schlechtes Bild von ihm zu bekommen.

Wir aber haben alles gelesen und müssen sehen, wie wir auf diesen krummen Linien gerade schreiben, um ihm gerecht zu werden. Er hat es verdient.


[1] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/07/inhaltsverzeichnis.pdf

[2] Die Todesanzeige wurde mir von seinem Sohn Sascha übersandt.

Dieulefit – Gott hat’s gemacht

Das total laisierte Frankreich mit seiner strikten Trennung von Kirche und Staat steckt voller Orte mit Namen von Heiligen. Wohl jeder kennt „Les Saintes Maries de la Mer“, ein Ortsname, der eine ganze Heiligenlegende erzählt.

Aber „Gott hat’s gemacht“? Da müssten doch jedem französischen Citoyen die Haare zu Berge stehen.

Mich hatte der Name schon lange gereizt.[1] In diesem Jahr habe ich bei Wikipedia nachge­schlagen, wurde noch neugieriger und bin auf der A 7 bei der Ausfahrt Montélimar/­Dieulefit abgebogen und die ca. 30 km über D 540 bis in dieses Dorf im Département Drôme gefahren.

Eher durch Zufall fand ich einen Parkplatz gleich vorm Keramik­mu­seum. Da wollte ich hin, weil dort das Denkmal für die bewundernswerte Geschichte von Dieulefit steht: „Dieulefit – wo niemand Ausländer ist“. P1020006 bd 2Von hinten sieht das Denkmal ganz bescheiden aus. Doch auch die Rückseite hat Symbolkraft: Lauter einzelne Bruchsteine, jeder steht für sich allein und zusammen bilden sie eine Abschirmung, einen Schutz.P1020010 b2

 

 

 

 

 

 

 

Für wen? Für viele Menschen:P1020004 b

Sie erinnern an ihre Geschichte. Der Ort hatte damals, in den dreißiger und vierzi­ger Jahren, etwa drei­tau­send Einwohner. Die Hälfte dieser Zahl, über 1500 Men­schen fanden in der Gemeinde und ihrer Umgebung Zuflucht vor Verfolgung. Da kamen „spanische Repu­blikaner, Resi­stants, Juden, von den Nazis oder Vichy-Verfolgte, zahlreiche Intellektuelle“.[2] All diesen gab man Schutz, versteckte und ernährte sie. Wir nennen sie im Amtsdeutsch „umF“ – unbeglei­tete minderjährige Flüchtlinge. Die wurden wie selbstverständlich in die Familie aufgenommen und gingen zur Schule. Wer sie brauchte bekam falsche Ausweise auf dem Bürgermeisteramt, auch Lebensmittelkarten wurden gefälscht.[3] „Das Internat beherbergte in jenen Jahren rund 100 Kinder, das waren doppelt so viele wie vor dem Krieg. Mehr als vier Jahre lang haben es die guten Feen von Beauvallon [die Schule] geschafft, diese Kinder von denen viele völlig mittellos waren, zu beschützen, zu ernähren, zu kleiden und einen einigermaßen normalen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten.“

Die Einwohner von Dieulefit und Umgebung haben ihr Leben riskiert für den Schutz der Flüchtlinge, denn die Nazis hätten den ganzen Ort abgebrannt und seine Bewohner liquidiert, wenn sie davon gewusst hätten, zumal sich die Bewohner und auch die Flüchtlinge aktiv am Widerstand gegen die Besatzung beteiligt haben.[4] Alle im Ort hielten dicht. Niemand wurde verraten!

Woher der Mut?

„Dieulefit ist seit den Religionskriegen eine Hochburg der protestantischen Minderheit Frank­reichs.“ „Nach Überzeugung des Historikers, Bernard Delpal, war für den erfolgreichen Rettungswiderstand die Tatsache wichtig, dass viele Schlüsselstellen im gesellschaftlichen Leben von Dieulefit damals von Mitgliedern der protestantischen Gemeinde eingenommen wurden.“ Die Hugenotten hatten ihre Verfolgungen nicht vergessen.

Es waren übrigens nicht ausschließlich eher unbedeutende Flüchtlinge. „Während der deutschen Besatzung gab es in Frankreich drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit.“[5]

Wie geht die Gemeinde mit diesem Erbe um?

„Die Gemeinde hielt es lange Zeit nicht für angezeigt, an die „selbstverständliche“ Aufnahme der Flüchtlinge zu erinnern. Die meisten waren „anonyme“ Helfer/innen, eine Nennung einzelner Namen galt als unschicklich und ungerecht. Erst nachdem die israelische Gedenk­stätte Yad Vashem einige Bewohner/innen als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet hatte[6], wurde 2008 im Rathaussaal eine Urkunde angebracht (Rue Justin Jouve). Es dauerte bis 2014, bis zum 70. Jahrestag der Befreiung der „Résistance civile et des résistants sans armes“ („dem zivilen Widerstand und den waffenlosen Widerständlern“) ein Denkmal errichtet wurde.“[7]

Nur Erinnerung?

„In den aktuellen Engagements der Bürger von Dieulefit finde man durchaus eine Resonanz der Vergangenheit, meint der Historiker Bernard Delpal und Marguerite Soubeyrans Enkeltochter weiß, dass es in Dieulefit auch heute Familien gibt, die bereit sind, illegal Ausländer ohne gültige Papiere zu beherbergen und zu verstecken.“ „Einmal im Monat veranstaltet ein sogenanntes Bürgerkollektiv eine Schweigerunde auf dem Hauptplatz der Stadt als Zeichen des Protestes gegen den Umgang mit Asylsuchenden im Land.“

 

Und der Name Gott hat’s gemacht? Die Laizisten können beruhigt sein. Es war nicht der Seigneur, der himmlische Gott, sondern ein irdischer. Madame le Maire, die Bürgermeisterin gab auf Anfrage Auskunft über den Namen: „Dieulefit. Im 12. Jahrhundert als Genesungs- und Erholungsort für heimkehrende Kreuzritter gegründet. Der Grundbesitzer stiftete den Boden für die Gründung der erforderlichen Gebäude. Im 13. Jahrhundert verschmolzen im Volk „Le Seigneur“ und „Dieu“, der ja auch „Seigneur“ genannt wird. Daraus wurde provençalisch: „Deo lou fe“, daraus „Dieu l’a fait“ und schließlich „Dieulefit“.

Doch an wen mögen die tapferen Bürger von Dieulefit gedacht haben? An einen Grundbesitzer aus dem 12. Jahrhundert? Doch wohl eher an Dieu, den Seigneur, dem sie folgten.

 

Papst Urban II [8] hatte einst mit seinem „Deus lo vult!“[9] zum Kreuzzug aufgerufen. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass kriegsmüde Kreuzritter in „Dieu l’a fait“ ihre Leiden kurieren sollten.

 

Bei uns in Deutschland steht die Abwehr von Flüchtlingen hoch oben auf der Agenda. Erinnern wir an unsere Flüchtlinge nach ’45? kein platz für flüchtlinge

Lieber nicht. Das könnte zu mehr Menschlich­keit verpflichten.

Dafür haben wir jetzt einen „Heimatminister“, Dieser Seigneur wird’s schon richten.

 

Herr, schmeiß Herz ra!

 

Fußnoten

[1] Soweit nicht anders ausgewiesen sind viele Informationen in diesem Artikel der ausgezeichneten Sendung des Deutschlandfunks entnommen und nicht im Detail belegt. http://www.deutschlandfunk.de/dieulefit-refugium-in-zeiten-der-barbarei-spurensuche-in.media.44c3176f29c3cb3c7fa9e021c983a78d.pdf

[2] Namen auf http://www.ajpn.org/commune-Dieulefit-en-1939-1945-26114.html).

[3] „Die Gemeindesekretärin Jeanne Barnier stellte falsche Ausweise her.“ – und der Vichy-Bürgermeister wusste Bescheid. Zu Jeanne Barnier: http://www.ajpn.org/juste-Jeanne-Barnier-141.html

[4] „Dieulefit war eine wichtige Basis für Fallschirmabwürfe. Hier landeten sowohl Agenten, wie auch Material. Oben in Comps war das Gelände, wo viele wichtige Offiziere des Widerstands und Zivilpersonen mit dem Fallschirm gelandet sind.“ – „Der Protestantismus hier im Dauphiné ist ein Protestantismus, der den Israeliten, wie man die Juden damals nannte, nahe stand. Diese Nähe beruhte unter anderem auf ähnlichen historischen Erfahrungen. Schließlich handelt es sich um zwei verfolgte Minderheiten. Die Protestanten waren ja während der Religionskriege und unter Ludwig XIV. verfolgt worden. Das heißt, rund 2 Millionen Menschen hatten nach dem Widerruf des Edikts von Nantes keinerlei legalen Status mehr. Sie konnten fliehen und viele haben das getan, gingen nach Preußen. Die zweite Möglichkeit war, sich zu bekehren. Und die dritte Lösung war der bewaffnete Widerstand. Diese Tradition des bewaffneten Widerstands lebte während des 2. Weltkriegs neu auf. Es gab hier ein Netzwerk von Widerstandsgruppen mit sehr starken protestantischen Traditionen und als einzelne Pastoren zum Widerstand aufriefen, da stieß das bei den Protestanten hier auf offene Ohren.“

[5] so der Historiker, Pierre Vidal – Naquet, der als Jugendlicher mehrere Monate in der Stadt verbrachte.

[6] „Neun Einwohner/innen wurden als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet: neben Jeanne Barnier und den Leiter/innen der zwei genannten Schulen die Landwirte Elie und Emilienne Abel, die Familienmitglieder von René Cassin schützten, und der Besitzer der Textilfirma von Dieulefit, Henri Morin, der Isaac Fabrikant aufnahm, dessen Eltern aus Belgien geflohen und 1942 nach Auschwitz deportiert worden waren.“ https://www.gedenkorte-europa.eu/content/list/406/

[7] https://www.gedenkorte-europa.eu/content/list/406/

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Urban_II. + https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2560206821/in/photolist-4UeJhV + https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6074437976/

[9] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6074437976/

alle Photos: dierk schäfer

 

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 41 f

moabitDieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

           die keine Kindheit war

 

Einundvierzigstes Kapitel

Mir fehlt die Ader zum rachsüchtigen Menschen.

Fantasie besaßen sie ja, was das Aussuchen eines Observierungspunktes betraf. Weil sich nun aber keine Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, weil dort ein Park ange­legt war, hatte man sich das Eisstadion zunutze gemacht. Das befand sich schräg gegenüber der Wohnung. Das Dach des Eisstadions bestand aus Zeltplane. Und da sich die Wohnung des zu Observierenden in der ersten Etage befand, konnte man mit einem guten Nachtsichtgerät genau ins Wohn- und Schlafzimmerfenster der beiden hineinschauen. Vielleicht sparten die Bullen sogar Geld dabei? Brauchten sie sich doch keine Pornofilme ausleihen.

Auch das Auto von unserem „Dummfick“ hatte man ständig im Blickfeld, welches vor dem Haus geparkt wurde. Auf diese Weise wurde die Polizei Zeuge, wie noch spät in der Nacht vom „Dummfick“ und Paule ein größeres Bündel aus dem Haus zum Auto geschleppt wurde. Nachdem die beiden das Bündel im Kofferraum verstaut hatten, fuhren sie los. So gut der Beobach­tungs­standort auch gewählt war, hatte man eines nicht bedacht. Die Hindernisse, die man zu überwinden hatte, um zum eigenen Auto zu kommen, um eine eventuelle Verfolgung aufzunehmen, dazu war ihr Standort völlig ungeeignet. Längst war der nichtsahnende Paule aus deren Sichtweite entschwunden, als das SEK[1] dort ankam wo es, bzw. sie, losgefahren waren.

Nachdem Paule und „Dummfick“ sich beraten hatten, wohin mit der Leiche, um die Leiche von Wolfgang handelte es sich schließlich, wurde der erste Gedanke wieder verworfen. Der erste Gedanke war gewesen, Wolfgang auf dem Friedhof in ein frisches Grab dazuzulegen. Der zweite Plan war dann doch vielversprechender. In der Nähe von Osnabrück hatte Paule einige Jahre seines Lebens bei einem Onkel auf dem Lande verbracht. Dort kannte er sich aus. Weitab vom Straßenrand, wo kein Hund so schnell hinkam und eventuell eine Spur aufnehmen konnte, grub man ein gut zwei Meter tiefes Loch im Acker. Die letzte Ehre, die man Wolfgang erwies, war die Tatsache, dass man ihm anlässlich des ersten Adventssonntags eine große rote Schleife um den Teppich, worin er eingepackt war, band. So weit, so gut! In den nächsten hundert Jahren hätte man Wolfgangs Überreste wahrscheinlich nicht gefunden.

Wie Reni zum Beinamen „Dummfick“ kam.

Wären da nicht die impernenten[2] Bullen gewesen, die unbedingt wissen wollten, was da so mitten in der Nacht aus dem Haus geschleppt worden war. Selbstverständlich bereiteten sie sich gründ­lich vor, bevor sie am nächsten Tag an der Wohnungstüre von „Dummfick“ klingelten. Sie hatten im Vorfeld recherchiert, dass die Adelige noch nie etwas mit der Polizei zu tun hatte. Solch unbe­darfte Bürger konnte man viel leichter überrumpeln als einen gewieften Verbrecher wie Wolfgang. Doch der war nun schon tot und Reni allein zu Haus. In dem Moment, wo Reni den Bullen die Türe öffnete, hatte sie sich von mir den Beinamen „Dummfick“ [3] verdient. Die Überrum­pelungs­taktik der Bullen bei unbescholtenen Menschen besteht darin, sobald die Türe geöffnet wird, einen Fuß dazwischen zu stellen, damit man ihnen nicht wieder die Türe vor der Nase zuknal­len kann, sobald sie sich mit ihren Polizeimarke ausgewiesen haben. Knallhart sagte man ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht leugnen könne, in der vergangenen Nacht mit einem Mann zusammen Waffen aus der Wohnung getragen zu haben, um sie woanders zu verstecken. „Wie? Waffen? Wir haben die Leiche von Wolfgang Dietrich aus der Wohnung entfernt!“ So hübsch wie die echte Blondine war, so gut sie im Bett war, wie Wolfgang geprahlt hatte, zu einem Zeitpunkt, als er das alles noch lebend genießen konnte, so blöd war sie auch. Deshalb auch, warum ich sie fortan nur noch „Dummfick“ nannte. Bereitwillig zeigte Dummfick dann auch den Ort, wo sie Wolfgang verbuddelt hatten. Dass die Bullen sie deshalb gleich mit an den Arsch kriegen würden, hatte sie gar nicht bedacht. Wie auch? Sie war ja von Natur aus blond! Vielleicht spielte auch ein wenig der Inzucht­adel eine kleine Rolle dabei. Irgendwo muss ja ein Grund dafür vorhanden sein, dass sich soviel Dummheit in einem Kopf vereinigte. Ihren IQ, der mal gerade knapp über Zimmertemperatur lag, bewies sie dann ja gleich nochmal der Polizei gegenüber. Bei der Durchsuchung der Wohnung fiel den Beamten auf, dass ungewöhnlich viel hi-tec, und nicht gerade von der billigsten Sorte, vorhanden war. Dummfick wurde gefragt, wer denn das teure Zeug angeschafft hätte. „Na, Wolf­gang!“ – „Wie, Wolfgang? der bezieht doch nur Arbeitslosengeld. Davon hat er das alles ange­schafft?“ – „Wieso Arbeitslosengeld? Mir hat er gesagt, er sei Bankräuber von Beruf“, ant­wortete die wahrheitsliebende Komtess. Hätte das Weib gewusst, dass ich dem Wolfgang die teu­ren Geräte für ’nen Appel und Ei besorgt hatte, hätte sie mich bestimmt auch noch in die Pfanne gehauen und ich hätte eine weitere Anklage wegen Hehlerei am Hals gehabt. Jetzt, knapp 16 Jahre später, frage ich mich noch immer, da die Bullen kein Geld gefunden haben, wo denn das Geld aus dem Bankraub abgeblieben war. Während der einen Woche, wo er noch zu leben hatte, konnte er die Summe doch nicht schon verbraten haben! Soviel Interna mir Paule später in der gemeinsamen Knastzeit auch verriet, auf diesbezügliche Fragen ging er nicht ein.

Die Staatsanwaltschaft schaffte es bei weitem nicht, innerhalb eines halben Jahres eine Anklage­schrift zu verfassen. Dummficks Rechtsanwalt stellte deshalb einen Antrag auf Haftentlassung. Das Gesetz schreibt es jedenfalls so vor. Die Anklageschrift muss vor Ablauf von sechs Monaten stehen, ansonsten muss der Angeklagte aus der U-Haft entlassen werden. Paule gab mir auf dem Hof die Begründung zu lesen, mit der man diesen Antrag auf Haftentlassung im Falle von „R von K“[4] ablehnte. Besagte Person stand unter dem dringenden Tatverdacht, Beihilfe zum Mord gelei­stet zu haben. Im Falle, dass man „R von K“ bis zur Verhandlung auf freien Fuß setze, stehe zu befürchten, dass sie sich weiterhin in Unterweltskreisen bewegen würde. Diese Vermutung sei dadurch bestätigt, dass sie laut eigener Aussage zunächst mit dem Berufsverbrecher Wolfgang Dietrich, dann mit dem gefährlich eingestuften Bruno Reckert eine Liaison eingegangen sei, zu dessen weiteren Bekanntenkreis auch der Mitangeklagte Paul M … und andere Unterweltgrößen gehörten. Einige dieser Sätze sind bei mir haften geblieben. Das übrige übliche Bla Bla, mit vielen Paragraphen gespickt, habe ich vergessen.

Der Polizei reichten die dürftigen Angaben.

Eigentlich hätte ich ja das Kapitel, was diese Tussi betraf abhaken können. Wäre ihr Name nicht Monate später wieder aufgetaucht. Nämlich in meiner Anklageschrift betreffs des Bankraubes in Eisenhüttenstadt. Dass es überhaupt zu der Anklageschrift kam, dabei hatte eben Dummfick einen kleinen Anteil. Natürlich hatte man sie bei den Vernehmungen ausgepresst wie eine Zitrone. Sie musste ja so einiges über die Aktivitäten von Wolfgang und Bruno Reckert wissen. Was sie wusste plauderte sie natürlich auch aus. In der Hoffnung ihren eigenen Arsch dadurch zu retten. So gab sie auch an, dass Wolfgang mit anderen, aber ohne Bruno Reckert, mit dem hätte sie sich ja an diesem Tage verlobt, in die Ex DDR gefahren sei, um seinem Beruf als Bankräuber nachzugehen. Auch dass Wolfgang dabei sehr erfolgreich gewesen sein müsse, da er eine große Summe Geld vorzeigen konnte. In dem Knastbetrieb, wo ich arbeitete, zeigte mir ein Mitgefangener einen Artikel im Stern. Die Überschrift lautete: „Die Spur des Bruno Reckert führt bis in die neuen Länder“. Na und? Was ging mich das noch an? Ich hatte doch mit dem kein Ding zusammen gedreht. Mir kam gar kein Gedanke, dass in Wirklichkeit Harry, Wolfgang und ich damit gemeint sein könnten. Wie bei den Medien so üblich wurde hier etwas aus dem Zusammenhang gerissen. Hätte die Presse allerdings korrekt berichtet, dass Bruno lediglich eine seiner Waffen, nämlich besagter Magnum Revolver, an uns verliehen hatte, wären bei mir sämtliche Alarmglocken angeschlagen.

Der Bankraub an sich war höchstwahrscheinlich bei den zuständigen Stellen schon längst in der Ablage gelandet. Doch als die Polizei in dem Mordfall zu ermitteln begann, den Hinweis von Dummfick erhielt, verfolgte man natürlich auch diese Spur. Einen bewaffneten Raubüberfall auf­geklärt zu haben, machte sich immer gut in der Personalakte und war einer Beförderung sehr dienlich. Die gelegte Spur von dem Weib war brandheiß. Konnte man diese doch auf einen bestimmten Tag einkreisen. Der Polizei reichten die dürftigen Angaben der Blondine, um letzt­endlich auch auf Harry und mich zu kommen. Endlich konnten die Bullen ihr weniges Hirn benut­zen, um Zusammenhänge zu konstruieren. Noch einmal Bingo für die Polizei.

Seit sieben Monaten schon hatte ich mich wieder an den Knastalltag gewöhnt. An einem Junitag ging ich nach der Arbeit sofort zu der Beamtenloge und meldete ein ausgehendes Telefon­ge­spräch an. Als ich dann endlich an der Reihe war, mein fünfminütiges Gespräch führen zu dürfen, bekam ich auch gleich Helga an der Strippe. Obwohl ich eindeutig ihre Stimme erkannte, dachte ich zuerst, eine verkehrte Nummer eingetippt zu haben. Ich konnte nicht verstehen, was Helga da sagte. „Entschuldigen SIE bitte, ich werde IHNEN gleich antworten, ich muss nur noch meinen Besuch rauslassen!“ Einwandfrei, das war Helga am anderen Ende der Leitung. Aber was redete sie da für einen Mist. Von wegen SIE und Ihnen? Im Hintergrund ein paar Männerstimmen, dann das Schließen der Türe. Helga ließ hörbar Luft ab, als sie sagte: „So jetzt können wir reden!“ – „Was ist denn da los?“- „Stell dir vor, das war gerade die Polizei, die hier war. Deshalb konnte ich nicht anders sprechen. Die haben mich gefragt, ob du eine Schwester in Eisenhüttenstadt wohnen hast und haben auch dein Auto auf der Straße fotografiert!“ Jetzt ging bei mir endlich ein Licht auf. So hell wie Osram: Der kürzlich erschienene Sternbericht………..!

Mit sich überschlagenden Gedanken im Kopf war ich aus dem Weg zurück zu meiner Zelle. Da rief auch schon ein Bekannter aus dem Rotlichtviertel zu mir hoch; „He, Dieter, hast du schon gehört? Harry haben sie verhaftet!“ Kein noch so gut gesichertes Gefängnis kann verhindern, dass der Nachrichtendienst bestens funktioniert. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch zu mir kommen würden. Eine ziemlich unruhige Nacht hatte ich verbracht, trotzdem ging ich am nächsten Morgen zur Arbeit. Schon bald kam einer der Werkmeister an meinen Arbeitsplatz und sagte, ich solle mich bei der Oberaufsicht melden, ich hätte Besuch. Natürlich konnte ich mir denken, wer mich da besuchen wollte. „Nö, keine Lust!“ sagte ich dem Beamten. „Ich habe weder einen Besuchstermin, noch hat sich mein Anwalt angemeldet!“. Minuten später kommt der Beamte zurück. „Schulz, du musst hochgehen, dein Anwalt ist außerplanmäßig gekommen!“. Ich kannte ja bereits die Methoden hier in der Anstalt. Bei einer erneuten Weigerung würde das Rollkommando eintreffen und mich gefesselt nach oben schleppen. Bei der Oberaufsicht angekommen sagte man mir, dass ich zu Zimmer 4 gehen solle. Es gab eine ganze Reihe solcher Zimmer. Dort traf man sich mit seinem Anwalt zu einem Gespräch oder aber auch mit der Kripo, falls diese noch etwas wissen wollten.

Unser mickriger Bankraub

Zimmer Nummer 4 stand weit offen. Darin saßen gleich drei männliche Typen und weiter hinten in der Ecke, saß eine Frau hinter einer Schreibmaschine. An der Kleidung erkannte ich sofort, dass zwei der Kerle aus dem Osten kommen mussten. Der offensichtliche Westbulle stand doch tatsäch­lich auf und wollte mich mit Handschlag begrüßen. Die ausgestreckte Hand übersah ich geflissent­lich, sagte statt Guten Tag, „Oh, ich muss mich im Zimmer geirrt haben. Ich wollte zu meinem Anwalt!“- „Nein, nein, Sie sind hier schon richtig! Sie sind doch Herr Dieter Schulz?“

Ich hatte natürlich sofort die Taktik des „guten“ Bullen durchschaut. Äußerlich kehrte ich den Coo­len heraus, so tuend als würde ich so gar nicht wissen, worum es hier eigentlich ging. Ich will hier nicht das ganze Gespräch wiedergeben. Nur soviel: ich weigerte mich auf die Vorwürfe bezüg­lich Eisenhüttenstadt auch nur irgendetwas auszusagen. Somit hatte die extra dafür mitge­brachte Schreibkraft am Fenster nicht all zuviel zu schreiben. Aber dieses ausgekochte Biest hatte es faust­dick hinter den Ohren. Im Polizeidienst mit allen Wassern gewaschen legte sie mich doch rein. Wie das? Selbst ich, der ja bereits viele gemeine Tricks unseres Justizwesens kannte, fiel auf ein kleines Wörtchen herein. Ich übersah einfach ein kleines Wort von gerade mal vier Buchstaben, welches die Tippse eingefügt hatte. Im Originaltext sollte es heißen: Zu den mir am heutigen Tage gemachten Vorwürfen möchte ich keine Aussagen machen. Das wollte und konnte ich unter­schreiben. Diese hinterlistige Ziege hatte ein bedeutungsvolles Wort dazwischen gepackt, woran sich später bei der Verhandlung der Richter immer wieder festbiss. Zwischen den Worten möchte ich keine Aussagen machen, hatte sie listigerweise das Wort NOCH keine Aussagen machen, gehängt. Für das Gericht kam dieses kleine Wort NOCH einem Geständnis gleich.

Mir fehlt die Ader zum rachsüchtigen Menschen.

Mein Fehler; warum vertraute ich auch blind der blinden Justitia. Die Beweislage gegen mich und Harry war sehr dünn, was ja auch bei der langen Prozessdauer zum Tragen kam. Die meisten Mord­fälle werden viel schneller abgehandelt und verurteilt. Unser mickriger Bankraub, wo noch nicht mal eine einzige Person zu Schaden gekommen war, zog sich über fünf Monate und 25 Prozesstage hin. Zunächst einmal verlegte man mich ganz schnell in eine weit entfernte JVA. Täter­trennung nennt man so was. Wegen der dürftigen Beweislage musste man unbedingt vermeiden, dass Harry sich mit mir die Aussagen absprechen konnte. Innerhalb derselben Anstalt hätte es immer eine Möglichkeit dazu gegeben, selbst wenn man in ganz anderen Häusern untergebracht war.

Bei dem letzten Besuch in Hannover konnte ich Helga noch, mit der Genehmi­gung der Anstalts­leitung selbstverständlich, vier Blankoschecks übergeben. Ich wollte nicht, dass die Bullen mein Konto plünderten in der Annahme, dass mein Guthaben aus dem Bankraub stammte. Ebensogut hätte ich aber das Konto so belassen kön­nen. Denn Helga, von der ich geglaubt hatte, dass ich auf ihre Treue zu mir Häuser bauen könne, ließ mich schon bald wissen, dass sie sich nicht mehr als meine Ver­lobte betrachte. Nur sehr wenige Sachen aus meinem Privatbesitz durfte ein Freund von mir später noch aus dem Keller holen. Das war der Dank dafür, dass ich sie vor Gericht aus allem herausgehalten hatte. Selbst nachdem sie sich brieflich von mir losgesagt hatte, hätte ich immer noch alles bei der Polizei beichten können. Anhand von Fotos z.B. wäre img 13780 b.jpgsie überführt worden, zumindest an meinem England- als auch Amster­damreisen beteiligt[5] gewesen zu sein. Ebenso: ihre Mitwisserschaft vom Bankraub hätte ihr ein paar Jährchen gesiebte Luft eingebracht. Doch mir fehlt die Ader zum rachsüchtigen Menschen.[6]

 

 

Zweiundvierzigstes Kapitel

Neustart mit 61 Jahren

So wurden wir, Harry und ich, zu 9 bzw. 7 Jahren zum Studium von Knast und Gitterkunde verur­teilt. Ein reiner Indizienprozess, waren doch extra 2 x 2 Beamte der Kripo und zwei unterschied­liche Aussagen von Beamten der JVA Hannover geladen worden. Nach dem ersten Mal musste die Kripo zurück nach Hannover, um sich eine Aussagegenehmigung zu holen, beim zweiten Mal drucksten sie auch nur herum. Erst als ich meinem Anwalt ins Ohr flüsterte, eine ganz bestimmte Frage zu stellen, verriet sich der gerade im Zeugenstand Sitzende halbwegs. Den Rest konnte ich mir selbst zusammenreimen, was meinen schon längst gehegten Verdacht aufs trefflichste bestä­tigte. Nach der Frage, wer denn der Tippgeber [gewesen sei], der der Kripo den Hinweis auf [mich] abgegeben hatte, wurde erklärt, dass man dem Aussagenden Vertraulichkeit zugesagt hatte. Meine Frage über den Anwalt wurde dahingehend gestellt, welchem Ressort die beiden denn in Hannover zugehörten. „Falschgeld“,—- erschrocken innehaltend verbesserte er sich ganz schnell: „Banden­diebstähle, besonders Autodiebstahl“ stotterte er.

„Geldfälscher der Polizei ins Netz gegangen.“

Mir war alles klar! Bekam ich doch wenige Tage nach meiner Inhaftierung am 6.12.90 die ver­klau­sulierte Nachricht, [dass] die Produktion der Blüten abgeschlossen sei. Besonders meine Kochkünste wurden hervorgehoben, die ihm nun abgehen würden. Damit konnte er nur meinen, dass ihm finanziell die Luft ausgeht. Ein paar Tage später schon große Schlagzeilen in den Medien: „Geldfälscher der Polizei ins Netz gegangen.“ Kaufmann hieß der Dandy; mit ihm und seiner Schwester hatte ich das Ganze aufgezogen. Doch als ich wegen der Haschischgeschichte hops-genommen wurde, gingen den beiden meine Geldzuschüsse verloren, wovon sie ausschließ­lich gelebt hatten. Hatten sie sich doch außerhalb von Hannover einen Bauernhof gepachtet, damit die Schwester ihrem Hobby, Pferde, nachgehen konnte. Schon im Vorgefühl des zu erwar­ten­den Geldsegens hatten sie sich diesen Luxus geleistet. Die laufenden Kosten konnten sie nicht mehr bedienen. So machte sich denn Kaufmann auf dilettantische Weise daran, das Falschgeld zu waschen. Von Hannover über Hamburg, Bremen schlug er einen Bogen über NRW bis ins süd­deutsche Gebiet. Ausgerechnet in der Hochburg der deutschen Beamten wurde er auch prompt auf frischer Tat erwischt. Seine Masche war immer die gleiche. Er tauchte immer schon kurz nach Öffnung diverser Kaufhäuser dort als Kunde auf. Bis er in Karlsruhe auftauchte, waren einige Tage vergangen und diverse Scheinchen bei der Bundesbank aufgefallen. Großalarm! Hatte man doch im Vorfeld damit geprahlt, das neue Geld sei fälschungssicher.[7] Woher die Blüten kamen, konnte man ganz gut zurückverfolgen. So wurden sämtliche Kaufhäuser der BRD gewarnt. Kaufmann, der immer vorgab, ein Kaufmann zu sein, war ein ganz simpler Schlosser. Sein Einkommen reichte allerdings nie, sich das teure Hobby, Strichjungs, zu finanzieren. So hatte er sich schon sehr früh das Image eines Geschäftsmannes zugelegt. Diese Rolle spielte er nur zu gerne. Deshalb auch seine Auftritte mit Privatklamotten einschließlich Krawatte, und ständig wichtigtuerisch. Selbst im Knast einen dicken Akten­ordner unterm Arm. So hatte ich ihn kennen gelernt. Aber erst nach der Haftentlassung wegen der Münzgeschichte traf ich ihn draußen und ließ mich von seinem Auftre­ten blenden und einwickeln. Der Mann hatte sich in den vielen Haftjahren, die er schon hinter sich hatte, ein gewisses Pseudowissen angeeignet. Immer die gleiche Masche in den Kaufhäusern: Er kaufte sich teure Rasierwässerchen in der einen Abteilung, ebenso teure Unterwäsche in einer anderen. Weiter ging es in die Krawattenabteilung; das gleiche Spiel. Er fühlte sich sehr sicher. [Nun] hatte die Bundesbank ihre Warnungen herausgegeben und sämtliche Angestellten [waren] gleich am frühen Morgen diesbezüglich gebrieft worden. [So] ergab es sich, dass ein ziemlich gelangweilter Kaufhausdetektiv an diesem Morgen in Karlsruhe nichts anderes zu tun hatte, als den einzigen Kunden in der Abteilung zu beobachten. Er folgte Kaufmann auch zur nächsten Kasse. Erst beim dritten Einkauf klingelten beim Beobachter die Alarmglocken. Jedes Mal zahlte Detlev an der Kasse mit einem 200er. Während er den Zahlschein aus der rechten Innentasche hervorholte, [ließ er] das Wechselgeld in die linke Tasche verschwinden. Wem wäre das nicht eigenartig vorgekommen? Daraufhin bat der Detektiv Herrn Kaufmann ihm ins Büro zu folgen.

Schnell war die Polizei vor Ort. Man fand noch reichlich Zweihunderter in seinen Taschen nebst einem Schließfachschlüssel, wo sich weitere Tausende fanden. Zum xten Male wegen Betrugs vor Gericht hatte er sich sicherlich SV[8] verdient, was ihm ja bereits angedroht worden war. Um sich bessere Karten zu verschaffen, ließ [er] mich lieber über die Klinge springen, um vor Gericht einen für ihn günstigen Deal herauszuschlagen. Was ja auch geklappt hat.

Bewährungswiderruf wegen der 5-Pence Geschichte und Haschisch-Deal brachten mir im End­effekt 11 Jahre und 8 Monate Gesamtstrafe ein. Wobei ein Monat enthalten war wegen Missach­tung des Gerichts. Meine einzige Aussage vor Gericht selbst waren die Worte: „Ich weiß ja, dass sie mir nicht glauben; für den Glauben ist jemand ganz anderes zuständig: Gott !“ Erst nach zwei Jahren stand meine endgültige Strafe fest. Nachdem alle Rechtswege ausgeschöpft waren, stellte ich einen [Antrag auf] Strafzusammenzug[9]. Erst wurde der Antrag verworfen. Doch nach einer Beschwerde darüber wurde dem stattgegeben. Doch dafür war es nötig, dass ich persönlich noch mal in Frankfurt/Oder vor Gericht erschien. Ich hatte dem Gericht angeboten, einige Ungereimt­heiten des Indizienprozesses aufzuklären. Was die federführende Staatsanwältin Frau K. aus Eisen­hütten­stadt veranlasste, sofort persönlich nach Frankfurt zu kommen. Ich legte ein umfas­sendes Geständ­nis ab. Ich hatte ja nichts mehr zu verlieren. Was sie besonders interessierte war, wie wir trotz umfangreicher Sperren einschließlich der [durch die] Wasserschutzpolizei entkommen konnten und ob bei dem Überfall echte Waffen oder Attrappen im Spiel waren. Ich hatte ja selbst bei unserem Halt in dem Wald beim Geldzählen die Waffen zu Gesicht bekommen.

Es waren eine Magnum 457[10] magnum web-photo horizontalnebst einer 8mm-Pistole, geliehen von Bruno Reckert. Dem konnte ich nicht mehr weh tun; kurz bevor er aus Hamburg nach Cottbus zur Aussage eingeflogen werden konnte, verstarb dieser urplötzlich, sportlich auf der Höhe und gerade mal so erst um die 40.[11] Soweit hörte sie aufmerksam zu und machte fleißig Notizen. So gar nicht daran interessiert war sie über die Tatsache der tatsäch­lich in unsere Hände gefallenen Raubsumme. Zumindest habe ich mir durch die nachträgliche Aufklärung inform eines Geständnisses 1 Jahr und 8 Monate erspart.

Wieder zurück in die JVA Celle bezog ich wieder mein altes Wohnklo von 8,7 qm. Wegen Platz­man­gel wurden diverse Pensumarbeiten in der Zelle verrichtet. Ich hatte zusätzlich eine Nähma­schine, womit ich mein mageres Taschengeld verdiente. Kaffee und Tabak nebst einiger Zusatzkost konnten wir monatlich einkaufen. Ein Teil des Verdienstes ging zur Rücklage für die Zeit nach der Entlassung. All die Jahre im Knast gearbeitet, doch nur ein Arbeitslosengeld wurde später bewilligt, wofür ich meine Beiträge abgezogen bekam. Doch die ganzen Jahre gingen von meiner Renten­anwartschaft ab[12].

„Prominenz“ im Celler Knast

Was habe ich da in Celle für „Prominenz“ kennengelernt, von der RAF über die IRA und jede Menge Kindesmörder, Mörder im allgemeinen, schließlich saß kein Gefangener in Celle ein, der weniger als 8 Jahre abzusitzen hatte: Winter, an denen der Atem an den Wänden gefror, Hitze­som­mer wie in einer Sauna, keine Ventilatoren mehr im Celler Handel zu erhalten.

Im Rahmen der Weihnachtsamnestie kam ich schon am 21 Dezember [2002] auf freien Fuß. Ich kam zunächst einmal bei meiner Brieffreundin unter. Ich sehnte mich regelrecht nach Arbeit, und ich fand auch welche. In einem Szenelokal arbeitete ich als Koch, schwarz natürlich. Mein Sohn hatte sich wegen seinem schlechten Gewissen, all die Jahre nicht bei mir gemeldet, keine Weih­nachts­karte, geschweige denn zum Geburtstag. Hatte er doch mit Harry, der sich noch auf freiem Fuß befand, meinen „Drogenbunker“ (Wert: 75.000 DM) leergeräumt. Dieter, kein kleiner Dum­mer, spürte seinen Sohn wieder auf. Ich hatte mir im Januar ein paar Mal den Arsch abgefroren, konnte ihm eine schriftliche Nachricht zukommen lassen. In etwa, dass Blut dicker als Wasser sei, und: scheiß auf das verlorene Geld! Ich hätte für alles Verständnis und sei auch nicht mehr böse. Ich möchte nur meinen Sohn wiederhaben. Meine Telefonnummer als Unterschrift.

Vielfacher Opa!

Wenige Tage später erreichte ihn meine Nachricht. Ich machte gerade ein Mittagsschläfchen, als meine Brieffreundin mir das Telefon brachte. Mein Hals schnürte sich zu, meine Tränendrüsen waren auch beteiligt. Wann und wo wir uns sehen könnten, fragte mein Sohn. Ich konnte halb­wegs stammeln; die Adresse und bei wem er klingeln solle. Überhaupt keinen Sinn mehr, den unterbro­chenen Mittagsschlaf fortzusetzen, nachdem er gesagt hatte, dass er mit seiner Freundin ohnehin ganz in der Nähe sei. Als es klingelte raste ich zum Türspion. Aus dem Fahrstuhl trat ein echt stattlicher Mann, im Schlepptau, in seiner Begleitung eine zierliche, nett anzusehende weib­liche Person. Und noch jemand kam aus dem Fahrstuhl, ein kleiner Junge von ca. 5 Jahren, mein Enkel! Davon hatte ich deren zwei und dazu noch eine Enkelin, wie ich gleich darauf erfuhr. Mein Sohn war sogar schon verheiratet gewesen. Die Enkel allerdings hatten drei verschiedene Mütter. Dieser Schlawiner. Mein Sohn war hoffnungslos verschuldet. Bald suchte ich eine eigene Woh­nung, groß genug, wo mein Sohn samt Freundin mit einzog. [13]

Witz komm raus, du bist umzingelt

Bald schon wieder war ich meinen Job los, weil der Wirt glaubte, ich hätte zuviel Interesse an sei­ner Frau gezeigt. Seiner Statur gemäß wurde mein Sohn gerne bei einer Security-Firma ange­stellt. Durch seine Fürsprache wurde auch ich in der Firma angenommen. Witz komm raus, du bist umzin­gelt. U.a. wurde ich bei der Eishockey-Europameisterschaft in Hannover [eingesetzt], ausge­tragen auf dem Expogelände[14]. Wenig später schon wurde die CeBIT[15] eröffnet. Was heute wohl kaum noch möglich ist: ich als vorbestrafter Bankräuber wurde dazu eingeteilt (ua. weil ich mit einem schönen schwarzen Anzug bekleidet war), den Tisch zu bewachen, an dem später nach der Eröffnungsrede unser Bundeskanzler Schröder mit einer russischen Delegation Platz nahm. Erst als ich den Job gekündigt hatte, schickte man mir diverse Papiere zu, wo ich erklären sollte, nicht vorbestraft zu sein………ha..ha.

Mein Kündigungsgrund allerdings war: Während der Eröffnungsfeierlichkeiten wurde in meinem Bereich reichlich Hektik verbreitet. Im Hintergrund wurde ein riesiges Büffet aufgebaut, in unmittel­barer Nähe von mir mühte man sich ab, Tische und Stehtische für den kommenden Ansturm vorzu­bereiten. Die Menge an Personal war gar nicht so leicht zu rekrutieren. Man hatte alles genom­men, z.B. Schüler und Studenten; mein Kellnerprofiherz begann zu bluten, was ich da an Dilettan­tismus mir ansehen musste. Ein schwarzgekleideter Herr im Frack und einem gepflegten Schnäuzer versuchte etwas Ordnung da reinzubringen. Da er ein Namensschild an seinem Frack trug, fragte ich ihn geradeheraus, ob er, da ja die CeBIT mit vielen Restaurants bestückt war, ob man noch Fachleute benötige. Ich brauchte nur das Hotel zu benennen, in dem ich gelernt hatte, da schaute er auf seine Uhr, bedauerte, dass es schon zu spät sei, gab mir eine Telefonnummer, wo ich unbe­dingt am nächsten Morgen anrufen sollte. Schon bei der Personalchefin avisiert sollte ich mich sofort auf den Weg machen, wurde ich beschieden. Ich war wieder voll in meinem Ele­ment und der Verdienst war auch nicht schlecht. Nicht nur während der Messe war ich gefragt, im Laufe des Jahres gab es auf dem Expogelände reichlich Events und Betriebsfeiern. Ich meldete mich ganz brav für die Tage, wo ich einen Job hatte, beim Arbeitsamt ab, nahm noch einen zweiten Aushilfsjob als Kellner an und der Aufstieg begann mit sage und schreibe 61!!

§§§

Hier endet die in sich geschlossene und von ihm vorgelegte Darstellung des Lebenslaufs von Dieter Schulz. „Der Aufstieg begann mit sage und schreibe 61!!“, schreibt er.

Doch wie ging es weiter?

Sein Kontakt zu mir begann am 30. März 2005 mit einem Mail, da war Schulz 64 Jahre alt: „Guten Tag Herr Schaefer, wie das Leben einem so mitspielt, dachte ich erst gestern, als ich im ZDF den bewußten Bericht über Kriegskinder sah.“

Ich hatte an der Evangelischen Akademie Bad Boll zu der Zeit insgesamt drei „Kriegskinder­tagungen“ organisiert. Er hatte im Netz nach Schicksalsparallelen gesucht und war dabei auf mich gestoßen. Ich ging auf ihn ein und erfuhr von seinem Manuskript. Der Mailwechsel hatte mich neugierig gemacht und ich hatte gemerkt, dass Dieter Schulz Gesprächspartner suchte. Er war, wie er schrieb, in einer „Depri-Phase“. Zwei Dinge halfen ihm, da rauszu­kommen. Der Kontakt mit mir und die Aussicht, sein Leben in einem Buch, vielleicht gar in einem Film darzustellen, und dann seine „Wahlfamilie“ in Königsberg. Dort wollte er sein Leben beschließen. Dazu mehr im Anhang.

Am 12. August 2005 lernten wir uns aus Anlass eines Gesprächs mit den Dokumentarfilmern Dr. Krieg und seiner Frau Monika Nolte in Köln persönlich kennen. Ich hatte ihm am 9. August gemailt: „Dr. Krieg übernimmt Ihre Fahrtkosten. Ich stehe ab 14:12 h am Aufgang zu Gleis 10 und halte eine blaue Kriegskinder-Dokumentation, die Sie ja kennen, in der Hand. Dann fahren wir gemeinsam mit der S-Bahn nach Deutz. Ich melde uns für spätestens 15:15 bei Dr. Krieg an, dann haben wir noch ein bißchen Luft, uns vorher persönlich kennenzu­lernen.“

Er war zu dieser Zeit „voll-fit“; wir sprachen lange miteinander und er erzählte von seinem Leben nach der Niederschrift seiner 111-Seiten-Autobiographie. Wir bekamen einen Einblick in das Milieu von Unterschichtkriminalität und staunten. Das wollten wir natürlich als Fort­set­zung der bisherigen Biographie für ein Buch- und Filmprojekt haben. Schulz sagte zu und lieferte bis hin zu dem hier mit Kapitel 42 abgeschlossenen Teil. Das Filmprojekt mit Dr. Krieg lief an, eine Fahrt mit Dieter Schulz nach Königsberg mit Einsatz der Handkamera und Recherchen nach im Text genannten Personen. Alles sehr erfolgreich. Doch Dr. Krieg konnte keine Geldgeber für den geplanten Doku-Film auftreiben und ich keinen Verlag für das Buch.

Das 42. Kapitel konnte Herr Schulz nur unter Mühen schreiben, denn er hatte zu diesem Zeitpunkt zwei Schlag­anfälle hinter sich, war seit 2007 auf einen Rollator angewiesen und konnte nur einhändig tip­pen. Er mailte es mir am 24.8.2011. Der Gesundheitszustand (bei klarem Kopf) erklärt die durchgängige Kleinschreibung in seinem Mail und wohl auch die sonstigen Ausfallserschei­nungen schon zum Zeitpunkt der Abfassung seines Mails. Es machte ziemlich viel Mühe, dieses Mail werkgetreu zu überarbeiten. Inzwischen sitzt Dieter Schulz nach mindestens dem dritten Schlaganfall im Rollstuhl und in Telefongesprächen habe ich oft Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Dann blieb das Projekt trotz mancher Versuche einen Verlag zu finden erst einmal liegen; schließlich kam ich auf die Idee, es kapitelweise hier im Blog zu veröffentlichen. Dieter Schulz stimmte zu – und meine Arbeit begann im Juli 2016. Sie ist noch nicht abgeschlossen.

Wie soll es weitergehen?

Geplant ist eine PDF-Gesamtfassung mit Vor- und Nachwort sowie einem Materialanhang hier im Blog; wenn’s klappt bis Ende des Jahres. PDF deshalb, weil die typographischen Möglichkeiten in meinem Blog nicht zufriedenstellend sind. Vielleicht wird es auch ein echtes eBook oder ein Buch in einer krimino­lo­gischen Reihe geben. Toll wäre es, wenn sich jemand aus dem Bereich Sozialpsychologie­/Psy­chologie/Kriminologie finden ließe, der am Beispiel von Dieter Schulz eine Masterarbeit zu Fragen krimineller Karrieren verfasst. Das wäre zwar das sprichwörtliche weite Feld, das aber abzugrenzen wäre. Auch der Mailverkehr mit Dieter Schulz ist eine wahre Fundgrube wie auch einiges aus seinem Besitz, mir von ihm zur Verfügung gestellt.

cover mit umriss

 

 

Das „Cover“ aber steht schon und wird bei Veröffentlichung der Gesamtausgabe hier im Blog wieder auftauchen.

 

 

 

 

 

 

Mir hat der Lebenslauf von Dieter Schulz die Augen geöffnet für meine oft unverdienten Chancen im eige­nen Leben und ich habe Respekt gewonnen für seine Lebens­leistung, auch wenn sie über weite Strecken hinweg eine kriminelle war.

Dierk Schäfer

Fußnoten

[1] Dieter Schulz benutzt SEK (Spezialeinsatzkommando) https://de.wikipedia.org/wiki/Spezialeinsatzkommando stets in maskuliner Form. Das hat mich gestört. Ich war 15 Jahre Polizeipfarrer und habe mit SEK und MEK https://de.wikipedia.org/wiki/Mobiles_Einsatzkommando gearbeitet. Ich hab’s verbessert.

[2] Natürlich die „impertinenten“ Bullen. https://de.wikipedia.org/wiki/Impertinenz Ich hab’s nicht verbessert, weil Schulzes Umgang mit Fremdwörtern zuweilen an die sympathische Figur des „Bräsig“ aus Fritz Reuters Ut mine Stromtid erinnert.

[3] Dieter Schulz benutzt in grimmiger Überzeugung für Reni, Freifrau, Renate von … die Bezeichnung „Dummfick“. Immerhin hat schließlich ihre unbedachte Äußerung gegenüber der Polizei zur Aufklärung des Bankraubs und seiner Verurteilung geführt, auch wenn er mit der Mordsache nichts zu tun hatte. „Ich nenne sie nur noch Dummfick“, sagte er mit viel Affekt in der Stimme bei unserem Gespräch in Köln. Im Folgenden werde ich die Anführungszeichen bei Dummfick weggelassen.

[4] Die Initialen mit Adelstitel.

[5] Helga auf der steilen Treppe des Amsterdamer Drogenlieferanten. Photo aus dem Besitz von Dieter Schulz.

[6] Dazu mehr im Anhang der Gesamtausgabe

[7] „Der neue Schein ist zwar computerlesbar und automatensicher, aber in puncto Kopierer ist er schlechter als der alte.“ Hier wird auch der Komplize Wolf-Detlev Kaufmann erwähnt: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488254.html

[8] Sicherheitsverwahrung

[9] § 55, Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe https://dejure.org/gesetze/StGB/55.html

[10] http://smith-wessonforum.com/s-w-hand-ejectors-1896-1961/132608-big-magnum-bigger-magnum.html

[11] Im Telefongespräch zweifelte Dieter Schulz einen natürlichen Tod an und meinte: Der wurde gestorben.

[12] Noch heute werden Strafgefangene für ihre Arbeit im Gefängnis um ihre Rentenansprüche betrogen.

[13] Mail vom 5. Oktober 2007: Das Neueste ist: ich bin mit meinem Sohn in ein Haus in Wunstorf eingezogen. Einer meiner größten Fehler des Lebens! Ich bin schon wieder auf der Suche nach einer Bleibe. Das haut heutzutage einfach nicht hin, drei Generationen unter einem Dach.

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Expo_2000

[15] https://de.wikipedia.org/wiki/CeBIT

Inhaltsverzeichnis _Inhaltsverzeichnis

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 39 f

logo-moabit-kDieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

       Eine Kindheit,

       die keine Kindheit war

Neununddreißigstes Kapitel

Banküberfall erfolgreich abgeschlossen – wohin mit dem Geld?

Dieser gehirnbenebelte Idiot war drauf und dran unsere Aktion vorzeitig zu beenden. Wollte er doch auf den Polizeiwagen ballern, der sich auf der in Gegenrichtung befindlichen Fahrbahn mitten in einem Stau befand. Es ist doch ganz natürlich, dass man in einer Stadt mal einem Poli­zeiwagen begegnet. Wäre unser Auto schon zur Fahndung ausgeschrieben, hätte man irgendwo Straßensperren errichtet,  unmittelbar nach dem Raub die Ausfallstraßen aus Eisenhüttenstadt heraus. Ich zweifelte ja gar nicht daran, dass er mit seinem Ballermann mit einem gezielten Schuss den Motor des Polizeiautos außer Gefecht setzen könne. Nur würde das dann wirklich eine Jagd auf uns auslösen. Mit diesen Argumenten konnte ich ihn dann doch noch wieder beruhigen. Wolfgangs Hektik musste ich dann noch ein zweites Mal unterbinden. Kurz vor dem ehemaligen Grenzübergang Marienborn/Helmstedt hörten wir das typische Geräusch, welches Polizeiautos so an sich haben, wenn sie schnell zu einem Einsatzort müssen. Wieder hatte Wolfgang seinen Schieß­prügel zur Hand das Seitenfenster heruntergedreht. Ob er denn meine, die Polizei sei so doof, sich mit Martinshorn anzumelden, wenn sie drei bewaff­nete Bankräuber im Begriff sei fest­zunehmen? Wahrscheinlich, wovon wir dann auch schnell überzeugt wurden, wären die zu einem Autobahnunfall unterwegs. Kein Wunder, dass Wolfgang überall Gespenster sah. Wann war er schon mal mit einem Auto unterwegs gewesen? Zumindest in den letzten 20 Jahren. Wieder gelang es mir Wolfgang zu beruhigen.

Sie habe sich neu verlobt.

Sehr bald steckten wir in einem Stau. Wir erreichten gerade noch so eben die Autobahnraststätte Marienborn, ergatterten einen der letzten noch freien Parkplätze. Den so erzwungenen Aufenthalt nahmen wir dann auch gleich für eine Nahrungsaufnahme, die erste seit dem Frühstück. Wolf­gang, inzwischen ganz euphorisch, nutzte die Fahrtpause dazu, seine adelige Freundin in Han­nover anzurufen. Er kündigte an, recht bald wieder zuhause zu sein. Sie solle, falls Gäste in der Woh­nung wären, diese wegschicken. Sie beide hätten allen Grund eine kleine Privatfeier zu starten. Wie ich erst viel später erfuhr, hatte Reni gar nicht daran gedacht ihre Gäste weg zu schicken. Im Gegenteil. Sie konfrontierte ihren Verlobten mit der Aussage, dass sie sich neu verlobt hätte. Und zwar mit seinem ehemaligen Knastbruder Bruno Reckert. Sie erinnern sich? Das war der meistge­suchte Verbrecher von Deutschland zu der Zeit, weil er sich mit einer Waffe aus der JVA Lingen selbst entlassen hatte. Wolfgang nahm diese Kündigung gelassen hin. Voller Stolz zeigte er den Anwesenden seine Beute und meinte, dass er ein paar Tage brauche, um sich selbst eine Woh­nung zu suchen. Diese authentischen Insider-Informationen erhielt ich später in der JVA Celle von einem der an diesem Abend Anwesenden. Paule traf ich dort wieder, weil er 15 Jahre sitzen musste und im Anschluss an die 15 Jahre noch einmal LL[1]. Die 15 Jahre Höchststrafe für die Überfälle, die er gemeinsam mit Bruno Reckert begangen hatte. LL gibt es nur für Mord! Aber darauf komme ich noch zurück.

Am 20ten November 1990, einem Freitag, waren wir 13 Stunden nach dem Banküberfall wieder in Hannover. Für den kommenden Sonntag hatten wir ausgemacht, dass ich ihm[2] 200 Gramm Haschisch vorbeibringen würde. Für seinen jüngeren Bruder, der bei der Bundeswehr diente. Schon bei diesem Besuch merkte ich, dass zwischen Wolfgang und Reni nicht alles so war, wie bei mei­nen früheren Besuchen. Ich sprach ihn deswegen an, als wir eine Weile alleine im Wohnzimmer saßen. Wolfgang meinte nur, dass er mich die Tage anrufen würde. Er wollte sich dann mit mir treffen und alles erklären. Es kam aber zu keinem weiteren Treffen.

An jenem Freitagabend setzte ich Harry in seinem geliebten Rotlichtviertel ab. Er überredete mich, doch wenigstens einmal auf unseren gelungenen Coup anzustoßen. In einer von ihm bevorzugten Bar bestellte er zwei Bier für uns und fragte natürlich die anwesenden Animierdamen und den Wirt selbst, ob sie mit ihm was mittrinken würden. Natürlich ließen die sich nicht großartig bitten. Wofür waren sie schließlich Animierdamen? Harry, der von mir vornehmlich kleine Scheine von der Beute erhalten hatte, holte selbstverständlich einen von den wenigen Zweihundertern heraus und zahlte seine Zeche sofort. Alle sollten sehen, dass er wieder einmal ein Vollstecker[3] war. Dementspre­chend war er auch mit dem Trinkgeld mehr als großzügig. Ich nuckelte man gerade aus Höflichkeit an meinem Bier. Harry dagegen hatte seine Flasche mit fast einem Zug geleert. Und schon hieß es für ihn eine neue Runde. Für alle versteht sich. Ich selbst lehnte dankend ab. Ich musste ja noch Auto fahren. Ich durchschaute sein Spielchen. Wieder zahlte er aus der Tasche, wo sich die Zwei­hunderter befanden. Diese Großkotzigkeit schien man hier am Steintor von Harry schon zu kennen. Allen war klar, dass Harry wieder ein größeres Ding mit Erfolg abgezogen hatte. Ich dachte gar nicht daran, mich von den Animierdamen becircen zu lassen. Anders dagegen Harry. Der hatte schon längst eines der Mädchen auf seinem Schoß sitzen und seine Finger sonst wo. Trotz aller Überredungskünste ließ ich mich nicht darauf ein, mich weiterhin von Harry einladen zu lassen. Ich wollte ganz einfach nach Hause, zu meinem Sohn und meiner Lebensgefährtin.

Wann in meinem Leben wurde ich auch schon mal belobigt?

Helga wollte natürlich eine Erklärung von mir, warum ich so plötzlich und so lange die Wohnung verlassen hätte. Sie war auch gerade erst von ihrer Spätschicht nach Hause gekommen. Mein Ver­trauen zu Helga war derzeit noch riesengroß. Hinzu kam noch, dass auch ich endlich meiner ange­stauten Freude über das Gelingen des Raubzuges Luft verschaffen musste. Ein wenig Bewun­de­rung, was meiner Seele gut tun würde, hatte ich mir verdient. Wortlos zog ich den Reißverschluss meiner Erste-Hilfe-Tasche auf und schüttete die Geldbündel zwischen uns auf die Couch. Solch einen Geldsegen hatte meine hochverschuldete Helga noch nie auf einem Haufen gesehen. Ihre schönen großen Augen, in die ich mich eigentlich verliebt hatte, wurden noch viel größer. An dem Tag, als ich von ihrem miesen Kontostand erfuhr, hatte ich ihr versprochen, dass wir zusam­men das wieder auf die Reihe kriegen würden. Mit diesem Einreden [?] konnte ich mein Verspre­chen einlösen. Zunächst einmal konnte sie gar nicht glauben, was sie da sah. Sie wollte dafür eine Erklä­rung haben. Die gab ich ihr auch, ohne etwas an der Wahrheit zu beschönigen. Ihre bewun­dernden Blicke gingen mir wie Honig herunter. Wann in meinem Leben wurde ich auch schon mal belobigt?

Am nächsten Tag schon ließ ich mich auch bei meinem Geschäftspartner im Büro blicken und konnte ihm grünes Licht für unser Vorhaben geben. Das heißt, ich konnte ihm verkünden, dass die weitere Finanzierung gesichert sei. Im Glauben daran, dass ein Geschäftspartner, mit dem ich ein viel größeres Ding abzuziehen im Begriff stand, der ja selbst ein vielfach Vorbestrafter war, den könnte ich ebenfalls einweihen, woher das Geld stammte, schenkte auch ihm reinen Wein ein. Meine Gutgläubigkeit an Menschen war eben grenzenlos. Ich unbelehrbarer Idiot lernte wohl nie aus! Ich brachte noch schnell das Haschisch unter die Leute. War ich doch nach meiner Einkaufs­reise nach Amsterdam gleich zu dem anderen Coup abberufen worden, hatte somit noch den gesamten 3-Kilo-Vorrat im Bunker. Nicht dass ich jetzt unbedingt Geld benötigt hätte. Das Warm­halten meines Großdealers in Amsterdam gehörte ganz einfach zu meinen zukünftigen Plänen in Verbindung mit den selbsthergestellten Geldscheinen. Längst hatte ich das volle Vertrauen meines Geschäftspartners in Amsterdam erworben.

Ich glaubte, ich würde fliegen.

Der Besitzer eines pikfeinen Coffee-Shops in der City von Amsterdam hatte natürlich niemals solche großen Vorräte im Haus, wie ich sie jedesmal haben wollte. Haschisch an sich war in Hol­land ganz legal zu erwerben, aber auch nur bis zu fünf Gramm pro Person. Zählte er die ersten Male noch ganz pingelig die Scheine ab, die ich ihm beim Kauf der Ware rüberreichte, so legte er später meine Geldbündel ziemlich achtlos zur Seite und bestand darauf, dass ich die Ware auch noch selbst prüfte. Ich jedoch begnügte mich damit die Qualität mit meinem Geruchssinn festzu­stellen. Einmal hatte ich aus der Wasserpfeife ein paar Züge getan. Als ich die 500 Kilometer lange Rückfahrt nach Hannover antrat glaubte ich, hinter dem Steuer meines Autos sitzend, ich würde fliegen. Ich schaffte es gerade mal bis zur Autobahn. Dann übergab ich das Steuer an Helga und legte mich auf die Rückbank zum Schlafen hin. Diese verfehlte dann auch prompt die Abzweigung in Richtung Venlo.

So wie er mir also vertraute, vertraute ich ihm, was die Qualität anging. Auf Drängen meiner Abnehmer in Hannover fuhr ich einmal an einem Sonntag nach Amsterdam. Sein Personal gab sich alle Mühe, ihren Chef aufzutreiben. Bis der dann endlich eintraf, die benötigte Ware beisam­men hatte, das Ganze schön vakuumverpackt bereit zum Transport war, vergingen Stunden. In der Zwischenzeit wurden ich und Helga hofiert wie Staatsgäste. Es wurde nicht zugelassen, dass wir in ein nahegelegenes Restaurant gingen. Der Chef persönlich besorgte uns eine Speisekarte und holte dann auch selbst das ausgesuchte Menu. In besagten Coffee-Shops wurde laut Gesetz auch kein Alkohol ausgeschenkt. Ein Bier zum Essen wurde ebenfalls aus der Nachbarschaft herbeige­schafft. Während wir uns mit Speis und Trank stärkten, drehte man wegen der übrigen Gäste die Musik auf volle Lautstärke. Die eilig herbeigeschafften Einzelteile, die für das Vakuumverpacken nötig waren, wurden im Getränkelager aufgebaut. Die laute Musik deshalb, weil der eigentliche Vorgang beim Absaugen und Verschweißen in Frischhaltefolien einen unheimlichen Krach machte. Diesem sonntäglichen Stress wollte sich mein Geschäftspartner nicht unbedingt noch einmal unter­ziehen. Deshalb gab er mir seine direkte Durchwahl-Telefonnummer. Damit konnte ich meine Bestellung schon vor Abfahrt aus Hannover durchgeben. Was den Vorteil hatte, dass alles schon säuberlich verpackt war, wenn wir dort ankamen. Längst hatte er mir das Angebot unterbreitet, doch mal eine Sammelbestellung zu machen. Bei der Abnahme von 20 Kilo und mehr würde er alles frei Haus liefern. Schon als die Sache mit der eigenen Geldherstellung Konturen annahm machte ich ihm Hoffnungen, dass ich daran arbeiten würde. Einige solvente Türken in Hannover würden mich schon länger bedrängen, für sie nicht nur Haschisch mitzubringen. Was ja auch den Tatsachen entsprach.

Ich sagte Detlev nicht, wie ich das Geld waschen wollte.

Ich gab dem Mann in Amsterdam vorsorglich schon mal einen Tipp, in welcher, wenn überhaupt, Größenordnung ich da einsteigen würde, weil ich ja das Risiko tragen würde und es sich von daher auch schon lohnen müsse. Skeptisch fragte ich ihn, ob er solch eine Menge auch bewerkstelligen könne. Er schien beleidigt zu sein. Ich bin daraufhin eine so schmale Treppe hinaufgestiegen.[4] [Die gibt es] noch nicht einmal auf einem Schiff. treppe NL 1.jpgVoller Stolz zeigte er mir sein Warenlager. Es mussten Millionenwerte sein, die er vorrätig hielt. Generös bot er mir eine Nase Koks an. Ich, keine Ahnung wie man das Zeugs anwendete, tat das, was man mir mal darüber gesagt hatte, wie man die Qualität testen könne. Ich rieb mir etwas davon aufs Zahnfleisch. „Papperlapapp! So macht man das!“. Er bereitete zwei Linien auf einem Spiegel vor und zog sich diese mit einem silbernen Röhrchen in die Nase. Beim Weglegen des Röhrchens stieß er versehentlich mit dem Ellenbogen gegen das noch fast volle Päckchen mit dem übrigen Koks. Es fiel auf den Teppichboden, verteilte sich dort. Er machte sich erst gar nicht die Mühe das Häufchen wieder in den Beutel zu kratzen. Er trat ganz einfach mit seinem Schuh drauf und verrieb es in den Teppich. Auf welche Weise ich vorhatte unser Geld zu waschen, hatte ich Detlev bisher nicht verraten. Aus welchen Gründen auch immer. Mein Plan war, auf keinen Fall mehr als 1,5 Millionen in Umlauf zu bringen. Und das möglichst gezielt an einer Stelle. Dann sollte durch drei geteilt werden und Schluss. Notfalls, so hatte ich ihm und seiner Schwester erklärt , die ja die eingetragene Geschäftsführerin war, würde ich das Kopiergerät eigenhändig zerstören. Mit jeweils einer halben Million konnte man sich sehr gut ein solides, legales Geschäft aufbauen. Können Sie sich schon denken, worauf ich abzielte?

Obwohl ich das volle Vertrauen meines Amsterdamer Geschäftspartners genoss, hatte ich mir schon längst ein Pseudonym zugelegt. Auch hatte er nie mein Auto zu Gesicht bekommen. So konnte ich ihm weismachen, dass ich aus Frankfurt käme und dort ein mehr schlecht als recht gehendes Immobilienbüro betreibe. Weshalb ich auch dieses Nebengeschäft betreibe. Im Falle, dass unser großangelegtes Geschäft zum Tragen kommen würde, hätte ich kurzfristig ein Büro in Frankfurt angemietet, ein dementsprechendes Aushängeschild angebracht und mir die Ware dorthin schicken lassen. Wie später von der Bundesbank bestätigt wurde, war unser „Geld“ wirklich gut. Es dauerte Wochen bis man dies entdeckte. Wie also sollte mein Lieferant den Betrug auf Anhieb erkennen? Er wäre damit zurück nach Holland gefahren, hätte allerfrühestens nach ein paar Tagen den Beschiss bemerkt. Wahrscheinlich wäre er sogar im Knast gelandet. Selbst wenn er so einen langen Arm gehabt hätte, mich suchen zu lassen, hätte er sich daran die Zähne ausge­bissen. Bis er oder seine beauftragten Häscher festgestellt hätten, dass es mich in Frankfurt gar nicht gab, wäre ich schon längst im „Erholungsurlaub!“

Gezielt im Knast untertauchen

Ich hatte schon lange genügend Connec­tion bei gewissen Türken aufgebaut, um zu wissen, dass es kein Problem darstellte, Marihuana, Koks und auch Heroin in dieser Größenordnung mit einem Schlag loszuwerden. Natürlich nicht zu meinem Einkaufspreis. Detlev brauchte ja nicht zu wissen, dass ich dabei mein eigenes Süppchen kochte. Mir wären dabei nämlich unter dem Strich etwa zwei Millionen übrig geblieben, während er und seine Schwester die vereinbarten Fünfhunderttau­send bekamen. Abzüglich der von mir verauslagten Unkosten, versteht sich. Sobald besagtes Geschäft abgeschlossen war, hätte ich mich, um mich vor eventuellen Verfolgern aus Holland zu schützen, beim Gericht gemeldet und darum gebeten meine laufende Bewährungsstrafe zu wider­rufen. Mit vorgeschobenen Begrün­dungen hätte man meinem Ersuchen zustimmen müssen. Ich würde meine Bewährungsstrafe resultierend aus der Münzgeschichte als Erholungsurlaub betrach­ten. Meine letzte Reise nach Amsterdam hatte ich auf zwei Krücken gehend angetreten. Schuld daran war so ein böser Rottweiler, der mir kräftig ins Bein gebissen hatte. Eine schmerzhafte aber nicht zu ändernde Tatsache. Ansonsten lief alles bestens.

Die Geschichte mit Eisenhüttenstadt, wo wir uns ein Darlehen gegen eine Sicherheit von nur 9mm[5] geholt hatten, schien längst in Vergessenheit geraten zu sein. Zumindest hatte die Polizei dort schon längst die Hoffnung aufgegeben, den Fall noch lösen zu können. Ein kleiner, beleidigter Straßendealer seines Zeichens Junkie, den ich nicht mehr für wert hielt von mir Ware zu beziehen, weil er seine Schulden bei mir nicht bezahlte, machte meine ganzen Zukunftspläne zunichte. Mit 500 Gramm Hasch im Auto fuhr ich in die City, wo ich einen Liefertermin einhalten wollte. Helga war zu ihrer Spätschicht gefahren, mein Sohn hatte sich mit seinen 15 Lenzen schon bei seiner Freundin einquartiert. Ich hatte Langeweile, fuhr deshalb schon frühzeitig in die Stadt. Wie ich so an meinen Krücken durch die Passerelle humpele, werde ich von gleich vier Zivilbullen eingekreist.

 

Vierzigstes Kapitel

Ein fast perfekter Mord, wenn Frau „Dummfick“ nicht gewesen wäre.

Mir ihre Hundemarken vor die Augen haltend verlangen sie von mir die Taschen zu leeren. Dum­mer­weise hatte ich ganz gegen meiner Gewohnheit 24 Gramm der verschiedensten Hasch­sorten in meiner Hemdtasche. Das genügte natürlich, mich gleich aufs Revier zu schleppen. Nackt ausziehen war angesagt. Jedes Teil meiner Kleidung wurde akribisch durchsucht. Dabei ließ man mich mit nackten Füßen auf den dezemberkalten Fliesen stehen. Wie „gut“ unsere Polizei geschult ist erkannte ich daran, dass sie den kleinen Zettel (vier Mal zwei Zentimeter) geflissentlich übersah. Darauf war allerdings eine holländische Vorwahlnummer und die Direktwahl meines Lieferanten vermerkt. Dadurch, dass die Schlafmützen von Polizisten diesen so wichtigen Zettel nicht weiter beachteten, konnte ich später meine Verteidigungsstrategie vor Gericht aufbauen und gleichzeitig meine persönliche kleine Rache an meinem ehemaligen Geschäftspartner auskosten, der während meiner Abwesenheit in MEINEM Büro das Schloss ausgewechselt hatte. Sie erinnern sich, dass ich erwähnte ihm zu einer Kochlehre im Gefängnis verholfen zu haben?

Ich dachte gar nicht daran, der Polizei ihre Arbeit leicht zu machen.

Den so wichtigen Zettel in meiner Brieftasche hatten die Bullen übersehen. Sie übersahen aller­dings nicht, dass sich an meinem Schlüsselbund ein Autoschlüssel befand. Sie wollten wissen, wo das Auto steht. Wusste ich doch, dass ich aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen würde, würde man das Auto durchsuchen und die 500 Gramm darin finden. Ich versuchte sie deshalb hinters Licht zu führen, behauptete, dass meine Verlobte damit zur Arbeit gefahren sei und dies nur ein Zweitschlüssel sei. Offiziell lief der Wagen ja sowieso auf ihren Namen. Leider glaubten sie mir diese Geschichte nicht. Nach etwa einer halben Stunde kamen zwei meiner Häscher triumphierend zurück zur Wache. Meinen Aktenkoffer in der Hand, worin sich die 500 Gramm befanden. Ade, du schönes, weiches Bett zu Hause!

Ich dachte gar nicht daran, der Polizei ihre Arbeit leicht zu machen. Wenn sie mich schon für ein paar Jahre einbuchten wollten, sollten sie gefälligst auch etwas dafür tun. Zunächst bemühten sie sich, einen Drogenspürhund aufzutreiben. Selbstverständlich hatten sie vor, auch meine Wohnung nach weiteren Drogen zu durchsuchen. Weit und breit war kein solcher Hund verfügbar. Nicht einmal der Zoll vom Langenhagener Flugplatz konnte ihnen helfen. So mussten die Bullen sich auf ihre eigenen Nasen verlassen. Als erstes rissen sie die schmiedeeiserne Flurgarderobe aus der Verankerung, als wir in der Wohnung ankamen. Ein zweiter stieß die Badezimmertüre mit einem Fußtritt auf, stürmte bis ans Ende zur Toilette hin, trat auch dort kräftig gegen den Klodeckel und riss fast den Wasserkasten aus der Wand. Mit den Türen des Alibertschrankes ging er auch nicht gerade zimperlich um. Dies alles geschah aus Frust darüber, dass sie mir keine ihnen genehme Aussage hatten entlocken können. Nachdem er sich im Badezimmer ausgetobt hatte, nahm er sich die Küche vor. Dort, so wusste ich, würde er pfundig[6] werden.

Der Begriff Vandalismus bekam für mich eine ganz neue Bedeutung.

Im Regal, gleich über dem Gewürzständer lag eine Zigarilloschachtel aus Blech. Darin befanden sich ein paar Gramm. Das waren kleine Bruchstücke, die von den Haschischplatten abgesplittert waren, wenn ich die Platten auf genau 100 Gramm zurechtschnitt. Die Menge war kaum der Rede wert, nachdem man ja schon 500 Gramm im Auto gefunden hatte und fiel nicht weiter ins Gewicht. Mit einer Acht an den Händen gefesselt stieß man mich im Wohnzimmer auf die Couch und erlaubte mir sogar, mir eine Zigarette zu drehen. „Hier ist bestimmt noch mehr!“ kam der aus der Küche freudestrahlend ins Wohnzimmer. Dabei wies er auf die kleinen Bruchstücke in der Blechschachtel aus der Küche. Dann begab er sich in das Zimmer, wo mein Sohn noch bis vor kurzem sein Domizil gehabt hatte. Ein anderer filzte das Wohnzimmer, wobei er sämtliche Schubladen herausriss. Noch nicht einmal den Sittichkäfig ließ er aus. Ich dagegen beobachtete angespannt, was der im Kinderzimmer anstellte. Darin stand auch unser Staubsauger. In diesem Staubsauger hatte ich als Notgroschen 5000 Mark versteckt. Würde der Bulle das Geld finden? Was würde er mit dem Fund tun? Würde er der Versuchung widerstehen, die nicht gerade uner­hebliche Summe einzustecken? Würde er so denken wie ich? Es war ja nicht davon auszugehen, dass ich ihn fragen würde, ob er die 5000 Mark gefunden hätte. Er hätte sich also gut und gerne die etwa zwei Monatsgehälter unbemerkt einstecken können. Immerhin dauerte es fast ein halbes Jahr, bis ich Gewissheit darüber erhielt, ob das Geld im Staubsauger gefunden worden war. Im Beschlagnahmeprotokoll jedenfalls stand nichts davon. Was allerdings gar nichts heißen sollte. Aber auch dieser Mann hatte eine schlechte Polizeischule besucht oder nicht gut genug aufgepasst.

Dafür aber überraschte mich der Typ aus dem Schlafzimmer. Kurz zuvor hatte ich ihn noch gefragt, ob er das bei sich zu Hause auch machen würde, nämlich sich mit den Schuhen auf meinem Bett­laken stehend räumte er den Kleiderschrank auf. Und wie. Wahllos zerrte er alles daraus hervor, ließ alles auf die Erde fallen, ohne sich zu vergewissern, ob sich zwischen den Kleidungsstücken nicht etwas versteckt sei. Der Begriff Vandalismus bekam für mich eine ganz neue Bedeutung. Seine Antwort auf meine Beschwerde, dass er mit Schuhen auf meinem Bett stand, tat er mit den Worten ab: „Das macht gar nichts. In diesem Bett wirst du in den nächsten Jahren ohnehin nicht mehr schlafen!“ Dass ich seitdem kein gutes Verhältnis mehr zu unserem Freund und Helfer aufbauen konnte, werden Sie vielleicht verstehen!?

„Bingo!“ – „Der Nikolaus war da!“

Das war aber gar nicht die angekündigte Überraschung. Erst als der Kerl meine Seite des Doppelbettes hochgeklappt hatte und eine Keksbüchse hochhielt und „Bingo!“ rief, erkannte ich den Grund seiner Freude. Bei den Kilomengen Hasch, die ich fast immer vorrätig hatte, war mir gar nicht aufgefallen, dass mir 700 Gramm irgendwie fehlten. Als der Bulle seine Trophäe in die Höhe hielt und Bingo rief, fiel mir siedend heiß ein, wieso ihm dieser Fund gelingen konnte. Tage zuvor war ich gerade im Begriff gewesen aus dem Haus zu gehen, um eine bestellte Lieferung pünktlich abzuliefern, klingelte das Telefon. Eine weitere Bestellung wurde mir angetragen. Diese musste ich dann noch abwiegen. Das nahm seine Zeit in Anspruch. Mein Pünktlichkeitswahn ließ es nicht zu, dass ich den Rest wie vorgesehen wieder zu dem eigentlichen Bunker (Bunker = Versteck) bringen konnte. So deponierte ich die 700 Gramm eben noch schnell im Bettkasten. Wo ich die 700 Gramm dann auch prompt vergaß. Keine Frage, dass sich die Fahnder darüber sehr freuten. So sangen sie dann auch auf der Fahrt zum Polizeipräsidium, wo sich auch das Haftge­fäng­nis befand. Dort verblieb der vorläufig Festgenommene bis zur Vorführung bei einem Haftrichter.

Wollen Sie auch wissen was die so erfolgreichen Fahnder sangen? Weil sich meine Verhaftung am 6. Dezember ereignete, sangen sie passend dazu: „Der Nikolaus war da!“

Ich, eigentlich aus dem Alter heraus, wo man noch an den Nikolaus glaubt, hätte mir wenn schon eine ganz andere Bescherung gewünscht, als ich sie nun serviert bekam. Bevor die Bullen meine Verhaftung mit besagtem Gesang feiern konnten, mussten sie erst noch einen Polizei Bulli bestel­len. Außer der nicht gerade geringen Menge Haschisch beschlagnahmten sie auch noch sechs originalverpackte CD Player, einige schnurlose Kopfhörer und anderes zu damaliger Zeit noch recht teures Elektro-Equipment. Einige „Kleinabnehmer“ hatten nicht immer das nötige Kleingeld, um meine Ware zu bezahlen. In der Szene war es durchaus üblich, sich mit Dingen bezahlen zu lassen, deren Herkunft nicht ganz koscher war. Was sollte das? Wenn man nicht gerade im Pleitefeuer brannte, sich Zeit lassen konnte, konnte man auch an dieser Ware seinen Reibach machen. Im Verlauf der nächsten drei Monate konnte die Ermittlungsbehörde nicht feststellen, woher die bei mir gefundenen Gegenstände kamen. Zähneknirschend teilte die Polizei mir mit, dass ich mir mein „Eigentum“ wieder abholen könne. Diese Scherzkekse! Zum einen mussten sie doch wissen, dass ich mich längst in Haft befand, ich die Sachen somit nicht abholen konnte, zum anderen sagte ich ihnen am Telefon, dass sie mir die Dinge genauso wieder in die Wohnung bringen sollten, wie sie sie mitgenommen hatten. Was also blieb ihnen übrig, mir die zu unrecht beschlagnahmten Sachen auf Steuerkosten wieder ins Haus zu schaffen.

Die Strafe? Peanuts. Doch es kam noch viel dicker.

Natürlich wurde dieses Thema später bei Gericht nochmal angeschnitten. Der Richter wollte dann schon wissen, wie soviel neue Technik in mein Haus gekommen sei. Meine diesbezügliche Erklä­rung konnte man schlecht widerlegen. Hatte ich doch im gerade wiedervereinigten Deutschland, in der Ex-DDR eine Schwester samt Kinder und Enkelkinder. Es war doch ganz natürlich, dass ich in der Vorweihnachtszeit schon mal passende Geschenke eingekauft hätte. Auch die bei meiner Fest­nahme konfiszierten 1.900 Mark musste man wieder herausrücken. Gehörte das Geld doch gar nicht mir, sondern Helga, meiner schwer arbeitenden Lebensgefährtin. Das wurde dazu auch noch glaubhaft belegt, in dem wir einen Kontoauszug vorlegen konnten. Daraus ging einwandfrei hervor, dass Helga tags zuvor 2.000 Mark von ihrem Konto abgehoben hatte. Die Strafe, die ich für diesen Geschäftszweig erhielt, waren Peanuts gegen das, was danach noch dazu kommen sollte.

„Der fast perfekte Mord“

Zwischen dem Rottweilerbiss und meiner Verhaftung geschah aber noch etwas Gravierendes. Es lagen immerhin zwischen dem Ding in Eisenhüttenstadt und meiner Verhaftung wegen Drogenbe­sitzes ganze 16 Tage. Zunächst tangierte es mich nur peripher, als mir beim Besuch in einer Rotlichtkneipe eine Zeitung vor die Nase gelegt wurde. Ich selbst war gerade aus Frankfurt zurück­gekehrt, wo ich mich schon mal nach einem geeigneten Büro umgeschaut hatte für das viel grö­ßere anstehende Geschäft. So war ich als fleißiger Zeitungsleser nicht auf dem Laufenden. Irgend­wie, wahrscheinlich durch Harrys Propaganda, war ich zu einer Nummer im Milieu gekommen. Gespannt beobachtete man mich als ich die Überschrift las.

„Der fast perfekte Mord“ stand da in großen Lettern als Überschrift. Dass der fast perfekte Mord an meinem Mittäter beim Banküberfall in Eisenhüttenstadt stattgefunden hatte, erfuhr ich erst aus dem fast ganzseitigen Artikel der Zeitung. Na und? Welche Schuld traf mich dabei? fragte ich mich. So eine enge Freundschaft hatten wir ja nicht gepflegt, als das es mich weiter belastete. An den Tod war ich schon während meiner Kindheit gewöhnt worden. Der Zeitungsartikel war wie gewöhnlich in solchen Fällen ziemlich reißerisch aufgemacht. Jedoch dachte ich nicht daran mich bei der Polizei zu melden, um einiges richtigzustellen. Es waren ja auch nur Vermutungen, die das in der Zeitung Geschilderte in gewissen Punkten hätten widerlegen können. An Wolfgangs Tod ließ sich ohnehin nichts mehr ändern. Mein Kopf war mit ganz anderen Problemen beschäftigt. Ganze acht Tage hatte Wolfgang sich an seiner Beute noch erfreuen können, während ich einen Großteil meiner Beute in das nächste Geschäft investiert hatte. Dieses Geschäft wollte gut durchdacht sein, wollte ich mich doch danach endgültig aus diesem Milieu verabschieden.

Doch wie bereits bekannt sollte es dazu nicht mehr kommen. Das Schicksal hatte eine andere Zukunft für mich vorgesehen. Die so gar nicht meinen rosaroten Träumen entsprach. Ich wurde also ins Polizeigefängnis verbracht. In einem zweiten Polizeiauto, welches zur gleichen Zeit mit uns dort eintraf, saß Helga. Weil die 700 Gramm Hasch in unserem Doppelbett gefunden wurde, hatte man sie natürlich gleichfalls in Verdacht, dass sie an dem nicht ganz legalen Drogenhandel beteiligt sei. Was im Grunde genommen ja auch stimmte. War sie doch jedesmal bei meinen Amsterdamreisen dabei gewesen, hatte selbst Bestellungen am Telefon angenommen, wenn ich nicht da war. Obwohl sie an allen Aktivitäten, einschließlich der Londonreisen teilgenommen hatte, sie auch die erste war, die von der Bankbeute wusste und davon profitierte, habe ich es geschafft, sie vor Gericht da vollkommen rauszuhalten. Ihren Dank dafür bekam ich erst später präsentiert.

Die Selbstmordgefahr ist in der ersten Haftnacht am größten.

Aus Frust darüber, dass die Bullen mir kein Geständnis hatten entlocken können, hatten sie mich trotz meiner Gehbehinderung mit auf dem Rücken gefesselten Händen durch die Stadt kutschiert. Selbstverständlich waren die Handschellen bis an den Anschlagspunkt eingerastet worden. Purer Sadismus musste dabei eine Rolle spielen, wenn sie die Kurven so nahmen, dass ich auf dem Rücksitz hin und her geschleudert werden musste. Mit den Füßen fand ich auch keinen Halt. Hatte man mir doch im Krankenhaus ganz schön viel Fleisch rund um die Bissstelle herausgeschnitten und vernäht. Jede Anstrengung tat höllisch weh. Noch saurer als sie ohnehin schon waren, wurden die mich begleitenden Bullen, als sich der Wachhabende an der Gefängnispforte weigerte, mich krückenbehafteten Neuzugang überhaupt anzunehmen. Er verlangte ordnungsgemäß von meinen Begleitern ein ärztliches Attest über meine Haftfähigkeit. Diesen konnten die natürlich nicht vor­weisen. Mit viel Überredungskunst gelang es ihnen dann doch noch den Wachhabenden dazu zu überzeugen, uns einen Raum zur Verfügung zu stellen, wo wir auf das Eintreffen eines Arztes warten könnten. Es dauerte aber eine geraume Weile, bis ein solcher auftauchte. Währendessen moserte einer der Beamten herum. Wegen der Überstunden, die er meinetwegen schieben musste, und dass er wegen mir eine Fortsetzung von „Mission Impossible“ verpasse. Was gingen mich deren Probleme an. Meine Uhr hatte seit etwa 10 Stunden begonnen von meiner 10 jährigen Haftstrafe herunter zu ticken. Dann kam er endlich. Der Arzt. Nein, nicht etwa der Notarzt. Wozu hatte man seine eigenen Polizeiärzte, der aber musste erstmal seinen Job im 30 Kilometer entfernten Neustadt am Rübenberge erledigen, bevor er zu uns nach Hannover kam. Der Arzt hatte noch nicht einmal die übliche Notfallarzttasche dabei, der löste lediglich meinen Verband am Bein, besah sich die frische Wunde, erklärte mich für hafttauglich. Jeder Laie hätte den Verband besser wieder anlegen können als es dieser Arzt anschließend wieder tat. Nach ein paar Stunden Schlaf auf der versifften Strohmatratze in der Gefängniszelle hätte ich mir aus dem gelösten Verband einen Strick drehen können. Gürtel, Schnürsenkel, alles, was zum Selbstmord tauglich war, wurde ja vorsorglich jedem Gefangenen abgenommen. Es ist ja statistisch bewiesen, dass die erste Haftnacht die selbstmord­gefährdeste ist. Wenige Stunden später, im richtigen Gefängnis, wo eine Zugangsuntersuchung Pflicht ist, schüttelten die Sanis dort nur den Kopf wegen meines notdürftigen Verbandes. Die drückenden Beweise, die die SOKO (dass eine SOKO eigens für mich installiert worden war, erfuhr ich erst jetzt!) gegen mich gesammelt hatte, machten es dem zuständigen Haftrichter leicht, sich für einen Haftbefehl zu entscheiden. Daran konnte auch der von Helga, die inzwischen schon wieder auf freiem Fuß war, alarmierte Rechtsanwalt nichts ändern.

Die vielfältigen Rückschläge, die ich in meinem bisherigen Leben bereits erlitten hatte, ließen es mich nicht ganz so tragisch nehmen, was mich nun erwartete. Es gibt im Leben nun mal keine Zeit, die man zurückdrehen könnte, einmal gemachte Fehler korrigieren kann man allenfalls in einem Diktat. Dass alles noch viel schlimmer kommen würde, daran dachte ich zu dieser Zeit überhaupt nicht. Einschließlich der noch offenen Bewährungsstrafe rechnete ich damit, die nächsten vier Jahre aus dem Verkehr gezogen zu werden. Im guten Amtsdeutsch begründet man eine Gefängnisstrafe mit dem Hinweis, dass durch die Inhaftierung die übrige Bevölkerung für eine Weile vor den Straf­tätern geschützt wird. Erst kürzlich hatte die Polizei ja wieder einen guten Fang gemacht. Sie konnte vermelden, dass der gefährliche Serienräuber Bruno Reckert wieder in das Netz des SEK gegangen war. Dass dies überhaupt möglich geworden war, lastete man meinem Mittäter Wolfgang Dietrich an. Das war auch der Grund, dass er nicht älter als 39 Jahre wurde. Sie erinnern sich? Am späten Abend des 20ten November waren wir von unserem erfolgreichen Beutezug aus Eisenhüttenstadt zurückgekehrt. Vorgesehen war aus Wolfgangs Sicht eine Feier mit seiner Verlobten. Aus seiner himmelhochjauchzenden Euphorie wurde ein Absturz der feinsten Sorte. In der Wohnung ange­kommen, bekam er statt eines Begrüßungsküsschen vor den Latz geknallt, dass Reni ihre Verlobung aufgelöst hätte, sich dafür seinen „Freund“ Bruno Reckert als neuen Verlobten auserkoren hatte. Nach wochenlanger Abwesenheit aus der JVA, einigen erfolgreichen Bank und Supermarktüber­fällen wurde Reckert ausgerechnet drei Tage nach seiner Verlobung mit dem Fräulein von K……aus seinem Versteck geholt.

Der Streit eskalierte schließlich.

Für „Paule“ war klar, dass Wolfgang der Tippgeber gewesen sein musste. In der Wohnung des adeligen Fräuleins, wo Wolfgang noch ein Bleiberecht hatte bis er etwas anderes gefunden hatte, kam es zwischen Paule und Wolfgang zum Streit. Eben wegen des Vorwurfs, der Verräter von Bruno gewesen zu sein. Der Streit eskalierte schließlich. Paule griff sich eine in der Ecke stehende Hantelstange und zog dem Wolfgang seinen Scheitel etwas nach. Das adelige Fräulein will angeblich von dem Streit nichts mitbekommen haben. Dabei spielte sich das Ganze nur knapp einen Meter vor der Schlafzimmertüre ab. Bei der Obduktion stellte man in der Pathologie auch noch Würgemale an dem Hals des Toten fest. Meine bescheidene Insidermeinung ist die, dass ich glaube, dass Reni Wolfgangs Krawatte etwas enger zog, nachdem er schon mal ganz friedlich und wehrlos auf dem Boden lag, und sie dem Wolfgang das Weiteratmen verweigerte. Paule wurde deswegen zu LL verurteilt. Reni dagegen zu nur 7 Jahren. Während die in meinen Augen jedenfalls eigentliche Schuldige keine 5 Jahre ihrer Strafe absaß, erblindete Paule im Knast. Meine letzte Information besagt, dass er bis vor drei Jahren immer noch als Blinder im Knast saß.

Und ich dachte immer das Verbrecher eingesperrt werden, um die Bevölkerung vor weiterem Unheil zu schützen. Quizfrage: Wen kann ein Blinder noch gefährden?

An dieser Stelle könnte ich ja eigentlich aufhören, über den Fortgang meines Lebensweges zu schreiben. Dafür könnte ich ein paar Hundert Seiten Gerichtsakten kopieren und dem geneigten Leser es selbst überlassen zu entscheiden, was Recht und Gesetz sind. Ich meine aber, dass ein jeder mal, vor allen Dingen diejenigen, die selbst noch nie vor Gericht gestanden haben, erfahren sollte, welche Fallstricke die Justiz zur Verfügung hat. Klar, vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Nur! Einige sind etwas gleicher!

Ich will dabei gar nicht auf Gerichtsurteile verweisen, wo die Großkopfeten aus Politik und Wirt­schaft nie eine Zelle von innen gesehen haben. Einen kleinen Zigarettenautomatenbetrüger kann man getrost ein paar Jahre gesiebte Luft verpassen. Das geht aber auf keinen Fall bei einem gewissen Grafen oder Milliardenbetrüger der Großindustrie. Die Einzigen wirklich „Prominenten“, die ich während meiner langjährigen Haftzeit kennengelernt habe, waren Männer aus der RAF, ebenso der IRA. Beide Gruppen, wovon ich einige persönlich kennenlernen und mich mit ihnen unterhalten konnte, stehen mir viel näher als die „unschuldigen“ Großabzocker. Die standen wenigstens zu ihren Taten und Ansichten. Bei mehrfachen Gesprächen mit einem gewissen Knut habe ich erst den von der Presse geprägten Ausdruck: Stockholm Syndrom[7] verstanden.

Hier darf ich noch einfügen, dass die beiden oben genannten Gruppen sich im Knast von den 15 übrigen, gemeinen Verbrechern distanzierten. Ich hatte es nur meinen Fremdsprachenkenntnissen zu verdanken, dass ich überhaupt von denen anerkannt wurde. Ohne mir teure Bücher kaufen zu müssen habe ich viel mehr von der irischen Geschichte erfahren, als ich hätte nachlesen können. Ebenso erging es mir bei dem Kontakt mit dem RAF Mann. Man möge mir meine wiederholten Abschweifungen vom eigentlichen Thema verzeihen. Doch zehnjähriges Eingesperrtsein, bedeutet noch lange nicht, dass alles spurlos an einem vorübergeht. Ereignisse finden überall statt. Ob ich nun als nackter „Wilder“ durch den Urwald husche oder mich im Großstadtdschungel bewege, so natürlich auch in einer Haftanstalt, wo es nur so von Menschen wimmelt. Menschen mit den verschiedenartigsten Charakteren. Allein das alltägliche Leben, aber insbesondere die herausra­genden Ereignisse während einer langjährigen Haftzeit, würden ein dickes Buch hergeben. So einige habe ich kennengelernt, die so gar nicht scharf darauf waren, was ihnen die Haftzeit so an Abwechslungen zu bieten hatte. Sie hängten sich einfach weg. Natürlich habe auch ich oft daran gedacht. Aber ich finde dazu gehört viel Mut. Den hatte ich nun mal nicht. Ich sitze also in U-Haft, warte darauf wie es weitergeht. In der Freistunde draußen auf dem Gefängnishof treffe ich auf Paule, erfahre die näheren Umstände, die zum Tode von Wolf­gang geführt haben und muss wieder mal innerlich über die Dummheit der Polizei grinsen, als ich von Paule erfahre wie der „Fast Perfekte Mord“ schließlich doch aufgeklärt wurde. Nicht die vielgepriesene Polizeiarbeit führte zum Erfolg. Eher würde ich dazu sagen, „Witz komm raus, du bist umzingelt.“ Natürlich stand davon kein Wort in der Zeitung, WIE der Mordfall aufgeklärt wurde. Es war wirklich der fast perfekte Mord, wäre den Bullen nicht Kommissar Zufall zu Hilfe gekommen. Oder besser noch Reni, die ich fortan nur noch „Dummfick“ nannte. Darf ich das hier näher ausführen? Ich tu es einfach, vielleicht lernen Sie ja dabei etwas über die Polizeiarbeit im Allgemeinen. Etwas weiter oben konnten Sie lesen, dass man den gefährlichen Verbrecher Bruno Reckert endlich wieder eingefangen hatte. Damit aber gab sich die Kripo nicht zufrieden. Sie wollte natürlich auch seine Mittäter dingfest machen. Alle ausgewerteten Spuren nach diversen Raubüber­fällen wiesen darauf hin, dass Bruno nicht alleine die Überfälle begangen hatte. Jetzt hieß es, die Verbrechensaufklärungsquote zu vervollständigen. Brunos Mittäter waren ja nicht weniger gefähr­lich. Außerdem hatte man bei Brunos Festnahme keine Beute noch die Tatwaffen gefunden. So observierte man schon etwas länger einen potentiellen Verdächtigen, der als Mittäter in Frage kam. Aus den Akten von Bruno Reckert, die in jedem Gefängnis fleißig vervollständigt werden, hatte das SEK recherchiert, mit wem der Bruno besonderen Kontakt im Gefängnisalltag gepflegt hatte. Weil auch deren Entlassungszeitpunkt ziemlich nahe beinander lag, hatte man ganz schnell auch den Paule in Verdacht, dem Bruno bei seiner Flucht geholfen, als ihm auch ein Versteck besorgt zu haben. Damit lagen sie gar nicht so falsch.

Fußnoten

[1] Lebenslänglich

[2] Gemeint ist Wolfgang

[3] [?] Laut Netzauskunft synonym für Gerichtsvollzieher https://www.mundmische.de/bedeutung/22878-Kuckuckskleber

[4] Photo aus dem Besitz von Dieter Schulz

[5] Gemeint ist das Kaliber der Schusswaffe

[6] Eine Freud’sche Fehlleistung? Gemeint ist fündig

[7] Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Stockholm-Syndrom

Inhaltsverzeichnis _Inhaltsverzeichnis

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 37 f

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Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

Siebenunddreißigstes Kapitel

Zwei große Dinger parallel

So sitze ich nun vor einem PC und haue wieder im Zweifingersuchsystem in die Tasten. Das fällt mir jetzt umso leichter, weil sich der Kreis bei mir zu schließen beginnt. Dass dies jemals der Fall sein könnte, habe ich mir zu Beginn meiner Aufzeichnungen noch nicht einmal träumen lassen.

Die Vertreibung aus meinem Geburtshaus in der Nähe von Königsberg. Aus Königsberg generell und meine Rückkehr dorthin. Zwar nur mit einem Visum ausgestattet hatte ich das unwahrschein­liche Glück, in das Innere unseres kleinen Häuschens in Neudamm sehen zu können. Jedoch um diesen Kreis zu schließen, muss ich hier noch ziemlich viel Aufklärungsarbeit leisten. Bin ich doch wieder einmal völlig aus der Reihe getanzt in meiner Erzählung. Alles was ich bisher geschrieben habe, schreiben werde, ist ohne weiteres von mir belegbar. Sie lesen hier keinen Roman! Nur, hier taucht bei mir die Frage auf: wollen die Menschen überhaupt erfahren, wie ein Mensch zum Ver­brecher wird? Ich meine damit das Vorspiel. Alles im Leben hat ein Vorspiel. Nicht nur beim Sex. Was wäre ein Buch ohne Vorspiel? Um zum Höhepunkt zu kommen, muss der Kopf einge­schaltet werden. Zum Vorspiel gehört meines Erachtens auch, dass ich Ihnen meine Beweg­gründe zum Verfassen dieses Buches darlege. Jetzt kann ich Ihnen ja auch gestehen, dass ich damals versäumt hatte, meinen Kopf einzuschalten, als ich mich den Vorschlag von Harry einließ. Puh! Ich hoffe, ich habe wieder die Kurve erwischt, wo ich bei meiner Erzählung aus der Bahn gekommen bin.

Geiz ist geil, sagt ein moderner Werbeslogan. 1990 war dieser Spruch noch völlig unbekannt. Ich aber war da bereits geizig. Ich sparte mir sogar das Denken. Das Nachdenken darüber, wozu ich mich da verpflichtet hatte. Mein Gewissen beruhigte ich dahingehend, indem ich mir sagte: „Dieter, du bist ja nur der Fahrer“. Eine Waffe in die Hand zu nehmen, andere gar damit zu bedrohen, war so gar nicht mein Ding. Hatte ich doch selbst schon als Kind am eigenen Leibe spüren müssen, wie man sich in solch einer bedrohlichen Situation fühlt. Ich meine damit, von einer Waffe bedroht zu werden.

Das große Projekt

Vorläufig konnte ich [mich] noch durch ein anderes Projekt ablenken, welches ich mit einem Detlev Kaufmann in Angriff genommen hatte. Dazu war allerdings eine Menge Anfangskapitel notwendig. Meine Wut darüber, von meinem Ex-Geschäftspartner reingelegt worden zu sein, war noch nicht verraucht, da traf ich in der City zufällig wieder auf einen ehemaligen Bekannten aus dem Knast und stolperte in die nächste Abzockfalle! Im Knast hatte dieser Mann schon allenthalben für Aufmerksamkeit gesorgt. War er doch der einzige Strafgefangene, der doch tatsächlich ständig mit Zivilklamotten, mit Schlips und Kragen, über die Flure lief. Fast immer trug er dabei auch noch irgendeinen Akten­ordner unter dem Arm. Mister Wichtig wurde er deshalb schon von den übrigen Gefangenen genannt. Durch Tricksereien, die er sich aus den einschlägigen Gesetzesbüchern herausgelesen hatte, hatte er sich diesen Sonderstatus übers Gericht erkämpft, dass er seine Privatklamotten auch im Knast tragen durfte. Intelligente Menschen hatten mich schon immer beeindruckt. Deshalb hatte er leichtes Spiel, mich für seine Geschäftsidee zu begeistern. Schnell hatte er gecheckt, dass ich finanziell ganz gut da stand. Für sein Vorhaben war ich genau der richtige Mann. Er hatte das Know-how, ich konnte mit einer ordentlichen Finanzspritze seine Idee verwirklichen. Wenige Tage später schon holte ich ihn mit meinem Auto vom Knast ab. Er wurde nach Verbüßung von 2/3 seiner Strafe entlassen. Im Gefängnis selbst hatte er nie eine Hand gerührt, um sich mit primitiver Arbeit etwas zu verdienen. In den letzten Monaten seiner Haft hatte er den Freigängerstatus erreicht, hatte im Büro seiner Schwester einen Job angenommen. Beinahe hätte ich umsonst vor dem Gefängnistor auf ihn gewartet. Seine Schwester hatte nämlich nie die fälligen Beiträge an die Gefängnisverwaltung abgeführt, die nun einmal erhoben werden, wenn ein Gefangener außerhalb der Anstalt arbeitet. Irgendwie schaffte er aber auch diese Hürde.

Schon am nächsten Wochenende fuhr ich mit meiner Familie, Helga, mein Sohn und dessen Freun­din nach Amsterdam. Bis nach Essen folgte uns seine Schwester mit ihrem klapprigen Ford Capri. Dort bog sie dann mit ihrem Bruder in Richtung Düsseldorf (Köln?) ab. Wir setzten unseren getarnten Familienausflug gen Amsterdam fort, während Detlev sich bei einer Spezialmesse umschauen wollte. Er hatte sich schlau gelesen. Auf besagter Messe wurden die neuesten Modelle von Fotokopierern vorgeführt. Solch ein Gerät benötigten wir unbedingt, um unsere Geschäftsidee umzusetzen. Ich hätte zu der Zeit gut und gerne jeden Tag ein Kilo Haschisch an den Mann brin­gen können, holte aber nur vier bis fünf Kilo pro Fahrt. Und das zweimal im Monat. Mein Dealer in Amsterdam wusste wohl, dass ich ohne weiteres eine größere Menge abnehmen könnte, wenn ich nur wollte. Deshalb machte er mir einen Vorschlag. Sollte ich mich dazu ent­schlie­ßen können, Mengen in der Größenordnung ab 20 Kilo abzunehmen, garantierte er mir die Lieferung frei Haus nach Deutschland. Bei solchen Dimensionen jedoch schreckte ich zurück.

Zunächst einmal durfte ich die Unkosten finanzieren, die bei Detlevs Schwester anfielen. Sie betrieb ein Übersetzungsbüro in der City von Hannover, wo in einem zweiten Raum Detlev selbst eine Zei­tung herstellte und zu vertreiben versuchte. Beide Geschäfte gingen aber nur mit sehr mäßigem Erfolg. Ich jedenfalls war von seiner Geschäftsidee dermaßen begeistert, dass ich die Unkosten des bestehenden Büros übernahm.[1] Dieses Büro war enorm wichtig, um überhaupt ins Geschäft zu kommen.

Ein Fotokopierer für 80.000,00 DM

Die erste Firma, von der Detlev den begehrten Fotokopierer beziehen wollte, machte allerdings einen Rückzieher. Die hatten natürlich bei diesem 80 000 Mark Projekt, wenn auch nur auf Leasingbasis, die Kontenbewegungen angeschaut. Hindernis erkannt, Hindernis beseitigt. Ich sorgte mit Hilfe von Helga und deren Familienmitgliedern für einen regen Geldfluss auf dem Konto von Detlevs Schwester. Ein paar Wochen später eine andere Firma, die das gleiche Kopiergerät vertrieb, und wir sollten ein derartiges Gerät geliefert bekommen. Die nächste Hürde musste noch genommen werden. Wir benötigten Spezialpapier, welches den echten DM Scheinen am nächsten kam. Gar nicht so einfach da ran zu kommen, kann ich ihnen sagen. Ab einer gewissen Prozent­zahl[2] stand das Papier überall auf dem Index, wo nicht gleich jeder bestellen konnte. Was also tun? Über unseren bestehenden Verlag als Firma eingetragen bestellten wir europaweit bei Herstel­lungs­firmen Muster ihrer Produktionspalette. Das neu herausgekommene Geld sollte ja, so laut Bundesbank, fälschungssicher sein. Irgendeine Firma hatte dann in dem Album, welches wir erhielten, ein Papier dabei, das in etwa 75 % der Kriterien erfüllte. Um aber nicht aufzufallen, bestellten wir zunächst vier verschiedene Muster in begrenzter Anzahl von Bögen bei der betref­fenden Herstellungsfirma. Bei der zweiten Bestellung waren es dann nur noch zwei verschieden­artige Papierbögen in einer schon größeren Menge. Auch diese Bestellung wurde uns anstandslos geschickt. Unsere letzte Bestellung enthielt nur noch die eine Sorte Papier, auf die wir scharf waren. Auch die von uns benötigte Menge wurde uns prompt geschickt.

Dann konnte es ja mit der Produktion losgehen, nachdem inzwischen auch der Kopierer eingetrof­fen war. Das ganze musste ich natürlich finanzieren, auch die Büromiete. Von meinen Drogenge­schäf­ten blieb mir kaum noch ein Gewinn übrig. Das alles geschah im Monat November 1990. Parallel zu meinem Versprechen, als Fahrer bei einem Banküberfall zu fungieren. Ich war zwar nicht gerade pleite, aber ein zusätzlicher Geldregen, dagegen hatte ich nichts einzu­wenden. Außerdem hatte ich ja ein Versprechen abgegeben.[3]

Bei meiner letzten Rückfahrt aus Amsterdam kommend gerieten wir in einen kilometerlangen Stau in der Höhe von Minden. Zu Hause angekommen fand ich auf dem Wohnzimmertisch einen Zettel vor. Darauf hatte mein Sohn geschrieben, dass ein gewisser Harry angerufen hätte. Er wollte es um sechs Uhr wieder versuchen. Ich solle mich bereithalten. Helga ging ins Schlafzimmer, ich dagegen blieb gleich im Wohnzimmer auf der Couch liegen. Schnurlose Telefone waren derzeit noch nicht erfunden. Nach nur knapp drei Stunden Schlaf riss mich das Telefongebimmel in die Wirklichkeit zurück. Harry stand schon mit Reisegepäck am Bahnhof und wartete darauf, dass ich ihn dort abhole. Wolfgang wartete auch schon startbereit zu Hause. Innerhalb einer halben Stunde war ich dann auch soweit, nachdem ich mir eine Dusche und Tasse Kaffee gegönnt hatte.

Das kleinere Ding

Kaum waren wir aus Hannover raus, auf der Autobahn, fragte Harry mich auch schon, ob ich was zum Kiffen mitgebracht hätte. Ich muss gestehen, ich weiß bis heute nicht, wie ich auf den Trichter gekommen war, ein kleines Sortiment von meiner Ware einzustecken, bevor ich losfuhr, die beiden abzuholen. Ich hatte acht Gramm in der Tasche, von dem am nächsten Abend wieder zurück in Hannover kein Krümel mehr übrig war. Ich selbst konnte zu dem Zeitpunkt dem Zeug überhaupt keinen Geschmack abgewinnen. Erst viel später im Knast widmete ich mich aus Gesundheits­gründen der Heilpflanze Cannabis. Ganz ehrlich! Erläuterung kommt später!

Während der Fahrt gen Osten kristallisierte sich heraus, dass die beiden weder ein bestimmtes Ziel, noch überhaupt einen Plan hatten, wo und wie der Banküberfall ablaufen sollte. Mein Vorschlag Frankfurt/Oder, wo ich mich etwas auskannte, wurde dann auch akzeptiert. Fast vierhundert Kilometer von Hannover entfernt, befuhren wir die Straßen der Stadt, hielten nach Bankinstituten Ausschau. Nicht nur die Begehbarkeit der Bank an sich musste berücksichtigt werden. Ein viel versprechender Fluchtweg war maßgeblich. Aber genau daran haperte es, wie wir bei unserer Erkundungsreise durch Frankfurt feststellen mussten. Das lag vor allem daran, dass eine Flucht­möglichkeit nur in einer Richtung gegeben war. Schließlich zog die Oder eine natürliche Grenze zu Polen. Etwas wirklich Geeignetes fanden wir in dieser Stadt also nicht. Harry und Wolfgang hatten gut reden, „dann versuchen wir es eben morgen woanders!“ Die beiden hatten ja noch nicht ein­mal soviel Geld in der Tasche, dass sie mir einen Spritkostenanteil geben konnten. Somit würde ich auch noch die Hotelkosten berappen können. Jetzt war ich nicht nur Fahrer der beiden, sondern auch noch der Versorger. Klar, dass sie auch noch Hunger hatten. Beim Haschisch­konsum bekommt man leicht einen Heißhunger. Bei der Gelegenheit, so dachte ich mir, könnte ich mich ja auch gleich mal wieder bei meiner Schwester in Eisenhüttenstadt sehen lassen. Eisenhüttenstadt[4] lag ja gleich um die Ecke.Hannover-Eisenhüttenstadt.jpg Ganze 27 Kilometer entfernt. Mein Vorschlag dorthin zu fahren wurde von den beiden angenommen. Blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig. Irgendwie waren sie ja von mir abhängig.

Bei meiner Schwester klingelte ich dann vergebens. Sie war auf Schichtdienst in der Großbäckerei der Stadt. Die Nachbarin, die uns nach vergeblichem Klingeln diese Auskunft gegeben hatte, beschrieb uns auch den Weg dorthin. Meine Schwester war erfreut, ihren Bruder wiederzusehen. Hatten wir uns doch seit 1955 nur ein paar Mal kurz gesehen. Bei der Beerdigung unserer Mutter 1973, als sie dafür ausreisen durfte, und später fuhr ich mit unserem Vater zweimal zu ihr in den Osten. 1989, als unser Vater starb, trafen wir uns auch kurz wieder. Erst die Wiedervereinigung brachte uns auch wieder näher. Welch ein Wunder also, dass sie sich von ihrem Dienst befreien ließ, eine Vertretung mobilisierte und mit uns zur Wohnung fuhr.

Sie ließ es einfach nicht zu, dass wir uns in Eisenhüttenstadt in einem Hotel einmieteten. Sie überließ uns ihr Schlafzimmer, nächtigte selbst auf der Couch im Wohnzimmer. Natürlich war in ihrer Gastfreundschaft auch ein von ihr serviertes Abendessen drin. Auf ihre Frage, was uns denn nach Eisenhüttenstadt getrieben hätte, so ganz ohne Anmeldung, erfand ich eine Geschichte, die ziemlich plausibel klang. Mit Wolfgang, der sich, wie erwähnt, gerne als Gentlemen kleidete, war meine Ausrede erklärbar. Angeblich wollten die beiden sich in Frankfurt ein Objekt ansehen, wo sie sich geschäftlich niederlassen wollten. So war es nur logisch, dass wir am nächsten Morgen wieder nach Frankfurt fahren müssten.

Nichts war vorbereitet.

Mir machte schon den ganzen Tag über während der langen Fahrt von Hannover nach Frankfurt eine Sache Kopfzerbrechen. War doch mit Harry im Vorfeld ausgemacht, dass er irgendwie an zwei Autonummernschilder kommen müsse, die an meinen Passat passen würden. Noch nicht einmal das hatte der erfahrene Knacki auf die Reihe bekommen. Ich selbst war für Diebstahl oder gar Einbruch so gar nicht geeignet, hatte ich doch zwei linke Hände, was das Technische anging. Also war mal wieder mein Improvisationstalent gefragt. War ich nicht darauf geeicht zu improvisieren?

Meiner Schwester gaukelte ich vor, zum einen, einen Verdauungsspaziergang zu benötigen nach ihrem frugalen Mahl und zum anderen wollten wir dabei noch das morgige Geschäft besprechen. „Gut!“ meinte mein Schwesterherz. Derweil würde sie für uns das Nachtlager in ihrem Schlafzim­mer vorbereiten und das Geschirr abwaschen. Es war bereits nachtdunkel draußen, als wir an diesem 19. November gegen 17 Uhr aus dem Haus gingen. Längst hatte ich erkannt, dass Harry und Wolfgang sich mehr um die Funktionalität ihrer Waffen Gedanken machten als um den ebenso wichtigen Rest, der bei einem Banküberfall von Nöten war. So langsam machte ich mir Gedanken darüber, worauf ich mich da bloß eingelassen hatte.

Zunächst einmal hatte ich eine Lösung für die fehlenden, falschen Autonummernschilder gefunden. In einer Drogerie erstand ich eine Rolle weißen Heftpflasters. Damit konnte ich das H in meinem Nummernschild zu einem I abkleben. Derzeit fuhren noch die meisten Ostautos mit ostdeutschen Kennzeichen durch die Gegend. Das I stand für Berlin. Aus den zwei Achten im Nummernschild ließen sich sehr gut zwei Dreien machen. Dann musste ich auch noch in die Tasche greifen, um den beiden je eine gestrickte Schimütze zu kaufen. Noch nicht einmal daran hatten sie gedacht, mit einer Maske in die Bank zu gehen. Das kennt, glaube ich, jeder, der schon mal einen Krimi gesehen hat. Bankräuber zieht sich seine Pudelmütze ins Gesicht, darin sind zwei Schlitze für die Augen rein geschnitten. Wenigstens hatten die beiden an Handschuhe selbst gedacht. Der Fin­gerabdrücke wegen. Sie verstehen? Jetzt glaubte ich, dass die Ausrüstung stimmte. Nur einen richtigen Plan hatten die beiden immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. Zunächst einmal taten sie, wieder bei Schwester in der Wohnung, nichts anderes, als was sie schon während des ganzen Tages getan hatten. Sie rauchten einen Joint nach dem anderen von meinem Vorrat, den ich bei mir hatte. Dazu stand noch eine große Flasche Wodka und reichlich Bier auf dem Tisch. Da ich mir als Fahrer der Verantwortung bewusst war, schlürfte ich im Laufe des Abends gerade mal an zwei dünnen Weinschorlen. Meine Schwester bat mich mal nachzuschauen, ob es wohl so recht wäre, wie sie ihr Schlafzimmer für drei zurechtgemacht hätte. Dort hatte ich schon mit Helga und meinem Sohn während der Sommerferien die Nächte verbracht. Beim Besichtigen des Schlafzim­mers fiel rein zufällig mein Blick durchs Fenster.

Nehmen wir doch ganz einfach die Dresdner Bank, direkt vor der Haustür.

Natürlich! Das war es! durchfuhr es mich wie ein Blitz. Wie schon in den Ferien konnte ich durchs Fenster einen Teil der Bank erkennen, die schon zu Ostzeiten dort ansässig gewesen war. Jetzt allerdings prangte dort in greller Leuchtschrift der Name einer bekannten Bank. Dresdner Bank!

Ich musste an diesem Abend ein zweites Mal meine Schwester anlügen. Unter einem an den Haa­ren herbeigezogenen Vorwand brachte ich die beiden noch nicht ganz besoffenen Harry und Wolfgang dazu, mir noch mal nach draußen zu folgen. Erstaunt folgten sie mir sogar gehorsam. Nicht schnurstracks auf die Bank zugehend, meine Schwester hätte uns ja sehen können, führte ich die beiden zu der Bank. Die Lage war einfach ideal für unser Vorhaben! Der Spaziergang in der frischen, kalten Novemberluft machte die vollgekifften und angesoffenen Köpfe meiner Tatgenos­sen wieder aufnahmefähig. Sofort baldowerten wir einen geeigneten Fluchtweg aus. Ich dachte gar nicht daran, direkt vor der Bank mit laufendem Motor auf meine Komplizen zu warten. Dabei hätten allzu viele Passanten in dieser kleinen Einkaufsstraße Gelegenheit, sich Einzelheiten an meinem Auto zu merken. Hinzu kam noch, dass sich die Bank am Ende einer Sackgasse befand. Vom Sommer her kannte ich die Bauweise dieser erst in den 50er Jahren aus dem Nichts erbauten Stadt. Fantasielos waren sämtliche Plattenbauten immer im gleichen Stil angelegt. Mir das Vorbild des Hauses, in dem meine Schwester wohnte, vor Augen haltend begingen wir den vorgesehenen Fluchtweg. Wie nicht anders zu erwarten, waren die vorderen Eingangstüren nicht abgeschlossen. Die aus Plastik bestehenden Schlüssel und Schlösser hätten nur allzu oft ausgewechselt werden müssen. Ins Haus zu kommen war also kein Problem. Vier oder fünf Stufen hoch, an zwei Woh­nungs­türen vorbei, vier, fünf Stufen runter, und man stand vor der Hintertür. Die auch nicht abgeschlossen war. Noch nicht einmal am späten Abend, sowie in der Nacht. Cirka 50 Meter Kiesplattenweg, und dort würde ich bei laufendem Motor und angelehnten Autotüren auf meine Kumpane warten. Soweit der erste Teil unseres Fluchtplanes, den ich so bestimmte. Die beiden, die mich ja lediglich als Fahrer des Fluchtautos engagiert hatten, waren vollauf begeistert von meinem Plan.

 

Achtunddreißigstes Kapitel

Der Banküberfall

Ich fragte mich wie die beiden nach so langer Alkoholabstinenz im Knast diese Mengen von Alko­hol vertragen konnten. Ich selbst hätte mich schon zehnmal bekotzt. Zumal ja auch noch das Dope hinzukam, welches sie sich da reinzogen. Es störte sie gar nicht, als ich sie ermahnte am nächsten Morgen fit zu sein und die Nacht um 8 Uhr zuende wäre. Ich jedenfalls entzog mich der Säufer­runde und machte lieber Matratzenhorchdienst. Meine Schwester, die ich gebeten hatte, uns gegen acht Uhr zu wecken, hatte uns einen reichhaltigen Frühstückstisch zubereitet. Als wir gegen neun Uhr aus dem Haus gingen glaubte sie, dass wir einen Termin in Frankfurt hätten. Wir erweckten bei ihr sogar den Eindruck, dass wir im Laufe des Tages wieder zu ihr zurückkehren würden. Der Ein­druck wurde noch dadurch verstärkt, indem wir unsere kargbestückten Reisetaschen bei ihr stehen ließen. Ursprünglich war ja auch vorgesehen, dass ich die beiden Bankräuber unmittelbar nach Vollendung der Tat mit der Beute an der Hintertür meiner Schwester absetzen würde, ich selbst in Kauf nahm, in eine Kontrolle zu geraten. Was konnte mir schon passieren, wenn man bei mir im Auto weder einen zweiten Mann noch eine Geldbeute vorfand? Am Abend, als dieser Plan in mir reifte, hatte ich weder die Jahreszeit noch einen anderen Umstand in Erwägung gezogen. Ich wunderte mich nur dass meiner Schwester der Gestank nicht auffiel, den die beiden Kiffer in ihrem Wohnzimmer hinterließen.

„Armoured!“ stand ganz groß an der Seite des Wagens.

Gleich nach den zwei Brötchen drehten die beiden sich eine Tüte, um sich aus der realen Welt zu beamen. Durch eine große Toreinfahrt erreichten wir das Innere des Karrees, wo sich die Bank befand. Allerdings die Rückseite der Bank, was ja auch so vorgesehen war, damit niemand sehen konnte, aus welchem Auto die Bankräuber ausgestiegen waren. Vorher waren wir noch zu dem Sportflugplatz etwas außerhalb der Stadt gefahren. Dort, völlig abgeschieden, beklebte ich mein Nummernschild wie oben beschrieben mit dem weißen Heftpflaster um eine ganz andere Nummer vorzutäuschen, den Wagen fuhr ich über eine Regenpfütze, bespritzte mit dem Schlammwasser das auffallend weiße Heftpflaster ordentlich mit dem Schlamm, um das ganze echt wirken zu lassen. Danach konnte man selbst bei genauerem Hinsehen nicht mehr erkennen, dass an dem Num­mern­schild manipuliert wurde. Alles sah schön echt aus. Unser vorgesehener Zeitplan wurde dann aber ganz ordentlich durcheinander gebracht. Gut vorbereitet, die Pudelmützen waren für einen derartigen Novembertag ohne weiteres angebracht, fuhr ich also in die Nähe der Bank. Fragte die beiden noch mal, ob sie sich den Fluchtweg auch gut eingeprägt hätten, den sie zu Fuß zurück­legen müssten, bevor sie mein Auto erreichten, da erwartete uns auch schon eine Überraschung. Am Hintereingang der Bank, die wir vorhatten um etwas Bares zu erleichtern, stand ein Geldtrans­porter. Was solch ein Gefährt zu bedeuten hatte, wusste jedes kleine Kind. Es stand ja auch ganz groß an der Seite des Wagens: „Armoured!“ Wir konnten dies im Vorfeld ja nicht ahnen, dass gerade um diese Zeit bewaffnete Geldabholer mit einem gepanzerten Wagen vor Ort sein würden. Mit Sicherheit wäre es zu einer Schießerei gekommen, wären meine Kumpels jetzt von vorne in die Bank eingedrungen, um abzukassieren. Also hieß es warten. Um ihr Herz wieder aus der Hose zu holen, baten sie mich, ihnen doch ein Mutwässerchen zu besorgen. Um nicht unnötig aufzufallen, fuhr ich zunächst einmal in eine Seitenstraße und holte vom Kiosk gegenüber der Bank eine Fla­sche Wodka. Ohne dass ich mich daran beteiligen musste, schafften die beiden in Null­kom­ma­nichts die Flasche zu leeren. So nebenbei sorgten sie auch noch dafür, dass meine acht Gramm Haschisch so langsam zur Neige gingen. So langsam fragte ich mich, ob wohl alle Bankräuber sich derart betäubten, bevor sie trauten eine Bank zu überfallen. Tags zuvor hatte ich ja auch noch versucht, den beiden ein paar Sätze in russischer Sprache einzupauken, um den Eindruck zu erwecken, hier seien Osteuropäer am Werk. Selbst wenn mir dies Tags zuvor gelungen wäre, ich glaube kaum, dass sie bei ihrer Aktion noch dazu in der Lage gewesen wären. Bei der Gerichtsver­handlung erfuhr ich erst, dass Harry zwei Anläufe benötigte, um über den Bankschalter zu jumpen. Seine Koordinationsfähigkeit hatte um einiges gelitten. Ich hatte den beiden auch klargemacht, dass sie sich auf keinen Fall länger als zwei Minuten in der Bank aufhalten dürften. Diese Zeit hatte ich ihnen vorgegeben, weil ich die Strecke zum einzigen Polizeirevier abgefahren hatte. Unter den allergünstigsten Umständen, die man immer in Betracht ziehen musste, konnte die Polizei in zwei­einhalb Minuten am Ort des Geschehens eintreffen. Das war jedenfalls meine Überlegung.

Auch das noch! Eine ganze Horde Kindergartenkinder.

Zunächst aber kam ich noch einmal in Bedrängnis. Der Geldtransporter war weggefahren, ich hatte die beiden abgesetzt, wollte zum vereinbarten Treffpunkt fahren. Beim Begehen am Abend war die Absperrung noch nicht vorhanden. Aber jetzt! Im Zuge des Geldflusses im Rahmen Wie­der­aufbau Ost war man dabei, auch in Eisenhüttenstadt die maroden Häuser zu sanieren. Aus­gerechnet auf unserem Fluchtweg war die Sanierung in vollem Gange. Angefangen hatte man damit, die von Bäumen bewachsenen Flachdächer zu entrümpeln. Unten, auf dem Plattenweg, hatte man vorsorglich abgesperrt. Was ja auch der Vorschrift entsprach. Nur ich musste jetzt wie ein Verrückter kurbeln, um auf diesem engen Weg wenden zu können. Hatte ich doch lediglich zwei Minuten und ein paar Sekunden laut meiner eigenen Vorgabe Zeit, den vereinbarten Treffpunkt zu erreichen. Geschafft! Dann aber kam mir zu allem Überfluss auf meinem Umweg auch noch eine ganze Horde Kindergartenkinder entgegen. Zu meinem Glück hatten die Betreuerinnen ihre Kinder aber gut im Griff. Schnell machten die Gören mir bereitwillig Platz. Mir kam das ganze wie eine Ewigkeit vor. Dennoch musste ich noch eine unendliche Weile auf meine Kumpane warten. Im Rückspiegel sah ich sie auf unser Auto zu rennen. Soweit schien ja alles bestens geklappt zu haben.

Plan B war angesagt.

Rein ins Auto und ab! Kaum hatte ich den Wagen in Fahrtrichtung rangiert, da kam mir auch schon das nächste Hindernis entgegen. Den schmalen, asphaltierten Weg im Inneren des Karrees versperrte eine Frau mit ihrem Kinderwagen. Während sie sich nur sehr langsam dazu bequemte an die Seite zu fahren, traten mir die Schweißperlen auf die Stirn. Mich wie vorgesehen auf dem Weg zum Haus meiner Schwester befindend musste ich feststellen, dass jetzt ganz andere Umstände herrschten, als ich sie vom Sommer her in Erinnerung hatte. Die im Sommer grünen Bäume und Büsche im Karreebereich boten in dieser Jahreszeit überhaupt keine Deckung mehr. Längst hatte ich bemerkt, dass uns die Arbeiter auf dem Dach sehr gut mit ihren Blicken verfolgen konnten. Den Plan, die beiden hinter dem Wohnhaus meiner Schwester abzusetzen, konnte ich getrost ad acta legen. Plan B war angesagt. Einfach so, aus dem Bauch heraus!

Zwei Torbogen von meiner Schwester entfernt fuhr ich, dabei eine Unterbodenwäsche meines Wagens kostenlos in Kauf nehmend, mit Karacho auf die John Scheer Straße. An der Kreuzung, wo sich auch das Städtische Krankenhaus befand, parallel zu der Straße wo, wenn überhaupt, um diese Zeit längst die Polizei zum Tatort unterwegs sein musste, fuhr ich diesen entgegen. Ein paar hundert Meter weiter hatten wir auch schon die Peripherie der Stadt erreicht. An der Kreuzung warf ich einen Blick nach rechts, wo sich das Polizei- und Gerichtsgebäude befand. Dort konnte ich keine irgendwie gearteten Aktivitäten feststellen. Ich jedenfalls bog nach links ab. Wie später aus den Gerichtsakten ersichtlich traf die Polizei erst nach 12 Minuten bei der Bank ein. Meine Güte. Hätten wir das gewusst, wir hätten noch in die Hinterräume der Bank eindringen können und dort weitere Hunderttausende, die gerade aus dem Nachttresor zusammengezählt wurden, mitnehmen können. Oder doch nicht? Meine so angeblich cleveren Kumpane hatten ja noch nicht einmal an eine Plastiktüte gedacht, worin sie ihre Beute verstauen konnten. So gab ich ihnen in letzter Minute mein Verbandskissen aus dem Auto. Dieses musste ich aber vorher noch leeren. Stellen Sie sich mal vor, ich wäre in eine Verkehrskontrolle geraten und hätte dieses notwendige Utensil nicht vorweisen können. Das hätte mich mindestens 10 Mark Geldstrafe gekostet. Zum Glück gerieten wir in keine Verkehrskontrolle. Noch in Sichtweite der Stadt überquerten wir einen kleinen Hügel. Ich hielt an, entfernte die Klebestreifen an den Nummernschildern, um nicht doch noch aufzufallen. Ich nahm, ohne überhaupt einen Plan zu haben, die nächste Abzweigung nach links. So genau, wie ich es Ihnen hier schildere, habe ich es viel später noch nicht einmal der Staatsanwaltschaft erklärt. Tatsache aber ist, dass die Bullen sich vier Jahre lang die Köpfe darüber zerbrachen, wie wir aus Eisenhüttenstadt entkommen konnten. Diese Stadt lag genauso wie Frankfurt genau auf der Grenze zu Polen.

Die Aussicht in Geld wühlen zu können ernüchterte selbst Harry.

Man hatte sofort die Wasserschutzpolizei alarmiert, die daraufhin diesen Fluchtweg absperrte. Die beiden Ausfallstraßen in Richtung Frankfurt als auch Bautzen waren schneller dicht gemacht worden, als dass die Polizei bei der Bank selbst eintraf. Ich selbst wusste ja auch nicht so recht, wo ich mich eigentlich befand, als ich nach links abgebogen war. Was die Ossis damals als Straßen bezeichneten, wäre hier im Westen gerade mal als Feldweg der dritten Kategorie durchgegangen.

Anfangs winkten unserem Westkennzeichen [?] ja noch Feldarbeiter fröhlich zu. Dann aber landeten wir in einem Kiefernwaldgebiet. Ich befürchtete schon auffällig zu werden, wenn uns jetzt ein Fahrzeug entgegenkommen würde. Doch wir befanden uns in einem Gebiet, wo zumindest um diese Jahres­zeit keine Menschenseele etwas verloren hatte. Ich aber dachte in westlichen Maßstäben. Ich rechnete sogar damit, dass Hubschrauber eingesetzt werden könnten. Ich wusste aus Verwandt­schafts­kreisen, das sich etwa 50 Kilometer entfernt eine Hubschrauberstaffel befand. Um der Überwachung aus der Luft zu entgehen, parkte ich in einem sehr dichtbewaldeten Stück.

Wolfgang konnte meiner Argumentation folgen, Harry dagegen wollte jetzt den Macker heraus­hängen lassen. Er wollte unbedingt ausprobieren, wie sich so ein echter Schuss anhörte. Mit viel Überredungskunst konnte ich ihn jedoch davon abbringen. Ich konnte ihm klar machen, dass gerade in dieser Jahreszeit Förster unterwegs waren, um Bäume zu markieren, die in der Frostpe­ri­ode gefällt werden sollten. Und so ein Schuss könnte einen Waldbegeher auf uns aufmerksam machen. Erst richtig von seinem Vorhaben konnte ich ihn aber erst ablenken, als ich ihn fragte, ob er denn gar nicht wissen wolle, was sie bei dem Überfall erbeutet hätten. Wodka und Haschisch hatten schon völlig sein Hirn vernebelt. Die Aussicht in Geld wühlen zu können ernüchterte selbst Harry. Mein Adrenalinspiegel hatte sich schon seit dem Augenblick aufs Normalmaß gesenkt, als wir kurz hinter der Stadt meine Nummernschilder wieder in den Normalzustand versetzt hatten. Ein sichern­der Rundblick, dann setzten wir uns alle drei ins Auto. Ich breitete auf der Rückbank eine Decke aus und entleerte nun das zweckentfremdete, prallgefüllte Erste-Hilfe-Kissen.

Harry, der hinter den Bankschalter gesprungen war, während Wolfgang an der Eingangstüre der Bank stehen geblieben war, um die anwesenden Bankkunden sowie das Personal in Schach zu halten, hatte in seiner Gier sogar einige Rollen Fünfmarkstücke eingesackt. Zunächst verschaffte ich mir einen Überblick über die Gesamtsumme. Ich bitte den geneigten Leser darauf zu achten, was ich jetzt niederschreibe! Die Höhe der Beute betrug genau 153.750 DM!!! Warum ich dies betone? Nun, in der späteren Anklageschrift wurde uns vorgeworfen, dass die Dresdner Bank einen Verlust von genau 31.517,32 DM[5] erlitten hätte.

Seltsam, sehr seltsam!!! Dabei hatte doch jeder von uns nach der Beuteteilung schon 51.250 DM in der Tasche. Das heißt, ich hatte ein wenig mehr. Hatte ich mir doch erlaubt gleich die Unkosten, die ich bisher getragen hatte, abzuziehen und Harrys Schulden bei mir abzurechnen. Um die Diskrepanz zwischen den beiden Summen zu erklären bedarf es keiner großen Phantasie.

1.) Für den Fall eines Bankraubs steht in einer Versicherungsklausel, dass an einem geöffneten Bankschalter jeweils nur 15.000 DM Bargeld (+ 10%) vorrätig gehalten werden dürfen. Diese Vorschrift wurde erlassen, um den Anreiz für einen Raub so niedrig als möglich zu halten. Und eben o.g. Summe ist auch nur versichert. Es ist sehr selten, dass die Bank das geraubte Geld vom Räuber zurück erhält, sofern man diesen nicht unmittelbar nach der Tat samt Beute einfängt. Um den Schaden einigermaßen einzugrenzen hatte die Bank, um wenigstens den Versicherungsanteil erstattet zu bekommen für die beiden geöffneten Bankschalter die Phantasiesumme von 31.517,32 DM angegeben. Wobei ich noch erwähnen möchte, dass sich unter der Beute kein einziges Markstück, geschweige denn Pfennige befand.

2.) So meine zweite These: Die Bank hatte selbst Dreck am Stecken. Erst wenige Wochen bevor wir abkassierten war die DM im Osten als offizielles Zahlungsmittel eingeführt worden. Wer weiß schon wie die Banken bei der Umtauschaktion gekun­gelt haben. Wäre die tatsächliche Beutesumme angegeben worden, hätte die Bank nicht nur die Versicherungssumme nicht bekommen, sondern es hätte höchstwahrscheinlich eine genauere Überprüfung der Bankunterlagen stattgefunden. Dabei könnte ja so Einiges ans Tageslicht kom­men. Also hielt man sich lieber bedeckt. Selbst als ich knapp vier Jahre später der Staatsanwältin alle offen gebliebenen Fragen in allen Einzelheiten erzählte, weil alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, an meiner langen Haftstrafe ohnehin nicht mehr zu rütteln war, wurde der Sache nicht mehr nachgegangen. Hier bewahrheitet sich wieder mal ein Sprichwort: Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen.

Ich soll der eigentliche Boss der Aktion gewesen sein.

Bei der Aufteilung der Beute durch drei achtete ich peinlichst genau darauf, ob sich unter den Geldbündeln nicht etwa ein Sicherheitspaket befand. Die meisten Bedenken hatte ich bei den 200er-Scheinen, die dazu auch noch mit fortlaufenden Seriennummern versehen waren. Im Gegensatz zu meinen Komplizen hatte ich ja zuhause noch einiges an Rücklage. Da lag es nur Nahe, dass ich die gefährdeten Geldbündel für mich behielt. Angeblich, laut Propaganda, war das neue Geld ja fälschungssicher. Gerade deswegen wurde ja bei Einkäufen besonders auf größere Scheine geachtet. Ich konnte ja davon ausgehen, dass sich unter diesen Scheinen NOCH keine Fälschungen befanden. Schließlich arbeitete ja Detlev in Hannover noch an der Produktion unseres Geldes. Da kam diese Beute hier sehr zupass. Jedes Geschäft bedarf einer Investition. Detlev war so klamm, dass er weder die Büromiete, geschweige denn die Leasingkosten für den Kopierer, noch das nötige Papier finanzieren konnte. 2.000 Mark kosteten alleine die drei Farbpatronen, die gerade mal zur Herstellung von ca. 150.000 Mark reichten. Aber zurück zum eigentlichen Geschehen.

Das Geld war also aufgeteilt. Wobei Harry allerdings schmollte. Er meinte, dass er als Ideengeber einen größeren Anteil beanspruchen könnte. Dann frage ich mich nur, warum das Gericht zu dem Urteil kam, dass ich der eigentliche Boss der Aktion gewesen sei. Der Richter führte aus, dass die Nähe der Wohnung meiner Schwester zur Bank hin kein Zufall sei. Und da ich ja bereits im Som­mer dort einige Zeit verbracht hätte, hätte ich das Ganze schon damals ausbaldowert. Konnte aber gar nicht sein. Im Sommer war die ehemalige Ostbank nämlich geschlossen. Zu jener Zeit gab es allenfalls Container und Busse, die die verschiedensten Banken in Eisenhüttenstadt zum Kunden­fang aufgestellt hatten.

Wolfgang holte seine überdimensionale Magnum heraus.

Weil es auch nach zwei Stunden des Versteckspielens unter den Bäumen keinerlei Hubschrauber­ak­ti­vi­täten am Himmel gab, beschloss ich unsere Flucht in Richtung Hannover fortzusetzen. Ich wollte ja auch nicht unbedingt in der früh einbrechenden Dunkelheit in dem mir unbekannten Wald umherirren. Nach einer unendlich erscheinenden Fahrt auf einer Waldschneise stieß ich endlich auf einen Feldweg. Pardon, auf eine Straße. Es musste eine Straße sein. An ihr entlang führte jeden­falls eine Strom- Telefonleitung? Die musste ja irgendwohin führen. Mit viel Risiko verfolgte ich diesen Weg. Risiko deshalb, weil dieser Weg eigentlich mehr für Trecker geeignet war. Es war für meinen Passat unmöglich, die eingefahrene Fahrspur zu benutzen. Das Mittelteil der beiden Spurrillen war derart hoch, dass mein Passat darauf hängengeblieben wäre. So musste ich mich darauf konzentrieren, mit einem Reifenpaar auf dem verbliebenen Hügel in der Mitte der Fahrrille zu balancieren, während die beiden anderen Reifen an der linken Böschung für Höhenausgleich sorgten. Zu meinem Glück wuchsen keine Bäume an der Böschung. Lediglich Ginsterbüsche. Diese fast immergrünen und Gott sei Dank weichen Zweige peitschten gegen mein Auto, zer­schrammten mir den Lack. Noch Tage später fand ich bei der Autowäsche am Unterboden des Autos festgeklemmte Ginsterzweige. Nach wer weiß wie vielen Kilometern erreichte ich endlich eine asphaltierte Straße. Zivilisation war in Sicht. Und siehe da, bald darauf ein Hinweisschild nach Cottbus. In Cottbus angekommen suchte und fand ich einen Wegweiser nach Berlin. Um dorthin zu gelangen, dass heißt die Autobahn zu erreichen, musste ich mich noch durch die Rush Hour in der City durchkämpfen. Ganz schön anstrengend, zumal auch noch ein Platzregen, den die Scheibenwischer kaum schafften, runter kam.

Wolfgang auf der Rückbank beduselt vom Alkohol und Haschkonsum hing in seinem Sitz wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Doch wurde er plötzlich hellwach und überaktiv, als ich so nebenher erwähnte, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Polizeiauto befände. Sofort holte er aus seiner Reisetasche seine überdimensionale Magnum heraus.

Fußnoten

[1] Herr Schulz sagte mir [ca. Oktober 2010, ds], dass er über den dubiosen gemeinnützigen Verein (Cooperative Hilfe Niedersachsen e.V., Gemeinnütziger Verein] die Farbkopien der DM-Noten finanziert hatte. Sein Partner sei allerdings zu blöd für die Geldwäsche gewesen, so dass er in Süddeutschland aufgeflogen sei. [s. Kap. 42]

[2] Gemeint ist offensichtlich die Menge der Kriterien für Fälschungssicherheit bei Banknoten.

[3] Aus einem Mail von Dieter Schulz vom 25. Juli 2005: Noch hatte ich Auto und Führerschein. Beides hatten die Typen nicht, die an mich herantraten und fragten, ob ich wohl als Fahrer bei einem Bankraub mitmachen würde.

Herr Schäfer, Sie werden es vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen meine Beweggründe schildere, die mich dazu veranlassten JA zu sagen. Ich war ganz einfach frustriert. Frustriert darüber, dass das Arbeitsamt einem 50-jährigen keinen Job mehr vermitteln konnte. Ich konnte mir schlecht auf die Stirn schreiben „Jetzt zeig ich es euch allen mal, wozu ein 50-jähriger noch fähig ist!“ Abenteuer im Blut fiel es mir nicht schwer, JA zu dem Plan zu sagen. Aber was heißt Plan. Keiner der beiden hatte einen Plan. Kreativ wie ich nun einmal bin lief dann alles so ab, wie ICH es mir ausgedacht hatte.

[4] Karte: https://www.google.de/maps/dir/Hannover/Frankfurt+(Oder)/Eisenh%C3%BCttenstadt/Hannover/@52.331475,11.3142521,7z/data=!4m26!4m25!1m5!1m1!1s0x47b00b514d494f85:0x425ac6d94ac4720!2m2!1d9.7320104!2d52.3758916!1m5!1m1!1s0x4707982a02b5fb6f:0x42120465b5e3bc0!2m2!1d14.5505673!2d52.3472237!1m5!1m1!1s0x4707b885b42fafe3:0xe754b8581c20604e!2m2!1d14.6419022!2d52.1436615!1m5!1m1!1s0x47b00b514d494f85:0x425ac6d94ac4720!2m2!1d9.7320104!2d52.3758916!3e0

[5] Schulz gibt hier wie auch im Folgenden 31.517.32 DM an. Doch diese siebenstellige Zahl ist unlogisch, wie auch die durch Punkt abgesetzen zwei letzten Ziffern zeigen. Diese müssen Pfennige bedeuten.

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