Der Schattenmann – Unübliche Gedanken zu Weihnachten
Der Schattenmann – Unübliche Gedanken zu Weihnachten – Dierk Schäfer
Was ist bloß mit Joseph los?
Im Schatten seiner Frau betrat er die biblische Geschichte. Dort blieb er und füllte seine Nebenrolle brav aus:
Dazu hier das PDF:
#auchdasistKirche
Soweit ich sehe, bin ich (fast) der einzige evangelische Pfarrer, der nicht nur in seinem Blog, sondern auch bei Twitter kirchenkritische Meldungen und Meinungen verbreitet. Ich verweise auf einen Beitrag in meinem Blog: https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/27/ecrasez-linfame-hasskommentare-meinem-blog/
Wie dort beschrieben, verstehe ich die auch hasserfüllten Postings von Menschen sehr gut, die in kirchlichen Einrichtungen durch kirchliches Personal traumatisiert wurden und deren Ansprüche nun gnadenlos auf die lange Bank geschoben werden nach dem Motto „Kinder schänden, Zeit schinden, Kassen schonen“. Wer meinen Blog liest, der sieht, dass ich mich seit rund 20 Jahren umfangreich für deren Belange einsetze.
Doch ich bin es leid, immer wieder von nicht persönlich betroffenen Leuten blanken Hass über Kirche und Religion entgegengeschleudert zu bekommen, die zumeist keine bis wenig Ahnung von Kirchen, von Religion und Religionswissenschaft haben, von Theologie ohnehin nicht.
Ich werde wohl leider nicht aufhören können, wie bisher Kritikwürdiges über Kirche und Religion zu berichten und werde es auch heftig verurteilen. Doch es gilt, wenigstens die Gebildeten unter den Verächtern der Religion (https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_die_Religion._Reden_an_die_Gebildeten_unter_ihren_Ver%C3%A4chtern) an ihre Bildungslücken zu erinnern.
Dazu gehört nicht nur, dass Kirche und Religion für viele Menschen immer noch ein Stück Heimat sind. Wir sollten die positive Bedeutung von Religion und Kirche – und ihre Leistungen herausstellen. Man kann und sollte aber nicht der Versuchung unterliegen, das Positive mit dem Negativen zu verrechnen; das wäre zynisch. „#auchdasistKirche“ wird auch von Gegnern und Feinden genutzt werden, doch damit wird erst die Realität von Kirche und Religion transparent. Kirche und Religion sollen so durchwachsen präsentiert werden, wie sie nun einmal sind.
Zunächst aber möchte ich alle ermuntern, für die Kirche und Religion Bedeutung haben – bei aller Ambivalenz: Machen Sie Gebrauch von „#auchdasistKirche“!
Ich beginne mit „Notfallseelsorge: #auchdasistKirche“
Sind es die Veterinärtheologen (Schweinepriester) oder ist das Ganze ein Saustall?
Kann man diese Kirche insgesamt als kriminell bezeichnen?
So fragt Frau Tkocz in Ihrem heutigen Kommentar. Sie ist ansonsten eher zurückhaltend, doch die Dokumentation „ Gottes missbrauchte Dienerinnen“ bei ARTE war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ich gebe ihren Kommentar hier in vollem Wortlaut wieder.
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Heute kam in ARTE die Dokumentation „ Gottes missbrauchte Dienerinnen“. Das nächste Verbrechen nach dem Phädophilenskandal innerhalb der katholischen Kirche. Kann man wie es Herr Kronschnabel macht, diese Kirche gesamt als kriminell und hier jetzt als „Schweinezüchter“ bezeichnen? Sicherlich kann man es anders ausdrücken, jedoch bleibt trotzdem der Grundgedanke, diese Kirche durch und durch als ein krankes, kriminelles System zu bezeichnen, sehe ich auf jeden Fall auch so. Mit Männern an der Spitze, die als Vertreter der Moral selber die Moral so biegen wie sie diese in den jeweiligen Situationen brauchen. In der Dokumentation deutlich erkennbar , dass beispielsweise die Kirche gegen Abtreibung ist, aber wenn dann die vergewaltigte Nonne schwanger wird abtreiben soll. Eine andere Nonne auf Anweisung ihrer Oberin das Kind „Gott schenken soll“, es zur Adoption frei geben musste. Nichts weiter als Erpressung, denn wenn man den Anordnungen seines Ordens nicht folgt fliegt man raus. Nun diese Nonne folgte den Anweisungen der Oberin, flog trotzdem raus. Immerhin nahm sie sich einen Anwalt und bekam nach zwei Jahren ihr Kind zurück. Aber das ist eher eine Ausnahme und an den Händen dieser Priester klebt auch Blut, denn nicht jede Nonne überlebte einen Schwangerschaftsabbruch. Also da kommt was zusammen, Lügner, Betrüger, Vergewaltiger und auch Mörder ob direkt oder indirekt spielt keine Rolle.
Geht es eigentlich noch verkommender als Gott auch noch für seine Schandtaten und Verbrechen zu benutzen? So ein „Schweinepriester“, der seine Vergewaltigungen an den Nonnen auch noch für selbstverständlich hält, weil er das Werkzeug Jesus sei. So jedenfalls rechtfertigte er seine Vergewaltigungen gegenüber der Nonne.
Ich gehe gar nicht davon aus, dass die Kirche ständig leugnet um nicht zu zahlen, natürlich will sie es nicht, aber die Leugnung ist für die Kirche eine Überlebensstrategie, denn die Aufdeckung der gesamten Verbrechen und die dahinter liegenden Absichten würden wohl in Menschen Zweifel setzen, ob diese Kirche überhaupt einen Sinn macht, wenn also jene Menschen, die diese Kirche repräsentieren Verbrechen begehen, die so manchen „gewöhnlichen Verbrecher“ in den Schatten stellt. Diese Kirche ist nicht mit Gott, sondern mit ihren Vorstellungen von einer Lebensweise, die nach außen hin- uns also dem Volk- zeigen soll, wo wir moralisch zu stehen haben und sich nach innen derart kriminell, skrupellos, schweinisch über Leichen gehend verhält, dass man nicht mehr so wie hier schon oft auch geschrieben, davon ausgehen kann, dass es sich hier um Einzelfälle und/oder nur um einen kleinen Teil der Kirche handelt. Ich kann doch auch nicht akzeptieren, wenn ein Mensch beispielsweise sehr viel Gutes tut, aber ein Vergewaltiger ist sagen, Schwamm drüber er tut aber sonst doch sehr viel Gutes. Nein nicht „Schwamm drüber“, die Dokumentation hat sehr gut gezeigt, wie diese Kirche funktioniert, wie sie mit Verbrechen umgeht und der Papst nicht einmal bereit war öffentlich zwei ehemalige Nonnen zu empfangen. Es sollte heimlich hinter verschlossenen Türen passieren, was dann diese ehemaligen Nonnen abgelehnt haben, weil sie sich nicht noch einmal fremd bestimmen lassen wollten und auch nicht zulassen wollten, dass diese Verbrechen wieder unterm Tisch fallen und wenn das Oberhaupt dieser Kirche nicht in der Lage ist sowohl mit den Verbrechern als auch mit den Opfern angemessen umzugehen und weiter vertuschen will, ist er auch nicht besser wie seine Priesterverbrecher. Es ist schon so wie Herr Kronschnabel es ausdrückt, alles Schweinezüchter und warum soll man es auch anders ausdrücken. Diese Kirche hat es nicht verdient respektvoll behandelt zu werden. Ich finde es zwar bedauerlich, dass jene Menschen, die dieser Kirche angehören so von dieser Organisation betrogen werden, aber man muss schon unterscheiden zwischen Kirche und Glauben und Jesus- so er jetzt da mal in Rom wäre- würde sicherlich auch dort vor der Türe kotzen, denn hätte er heute diese Dokumentation gesehen wäre ihm auch schlecht geworden.
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Meine Antwort:
Danke, liebe Frau Tkocz, für Ihren Kommentar. Wenn jemand wie Sie so drastisch schreibt, ist eine Grenze überschritten. Die Verantwortlichen werden die Bedeutung nicht ermessen können, weil sie blind sind und die meisten immer noch nicht merken, dass sie nicht mehr mit dem Rücken zur Wand, sondern vor dem Abgrund stehen – ein Höllenabgrund. Doch wer glaubt noch an die Hölle? Bei Dante würden sie jedenfalls im tiefsten Kreis der Hölle landen. In der Kirche zu Weilheim/Teck kann man es sehen: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8652756424/in/album-72157633254631808/ .
Die gesellschaftliche Konstruktion von Vergangenheiten und ihre Bewirtschaftung
Valentin Groebners Buch mit dem Titel „Retroland“ handelt vom „Geschichtstourismus“ und der „Sehnsucht nach dem Authentischen“[1]. Der Autor ist vielgereist und da viele von uns auch Vielreisende sind, gibt es vieles, was wir kennen, was aber nun einen Aha-Effekt auslöst. Denn manches, was wir für echt gehalten haben, ist – gelinde gesagt – „auf echt“ stilisiert, manchmal sogar ein pures Artefakt der am Tourismus interessierten Kreise. Tourismus, so lernen wir, ist der weltweit drittstärkste Wirtschaftszweig.
Da spielen natürlich religiös konnotierte Zielorte eine wichtige Rolle für religiös interessierte Bildungsbürger. Ein Tourismusunternehmen nennt sich sogar „Biblisch Reisen“. So nimmt uns der Autor mit zu den Sacri Monti in Piemont[2].
Auch wenn wir vor den lebensgroßen Darstellungen biblischer Szenen nicht in religiöse Verzückung fallen, so stehen wir in Varollo doch staunend vor dem blutüberströmten Jesus im begehbaren Grab. „Die Auferstehung hat noch nicht stattgefunden, und du bist dabei.“ Für den Glaubenden ist dies die „Wiederaufführbarkeit der Vergangenheit“.[3]
Diesem katholischen Beispiel schließen sich die Gedanken an Wallfahrten und der Reliqienglaube an. Doch wie steht es mit unseren Krippenspielen zur Weihnachtszeit? Bleiben wir evangelisch und folgen dem Autor durch die Luther-Dekade – von einem Erinnerungsort zum andern – und der verblassende Tintenfleck auf der Wartburg wird immer wieder aufgefrischt. Valentin Groebner stellt die kommerziellen Zwecke bei der „Rekonstruktion“ der Vergangenheiten heraus, Rekonstruktionen, die man gezielt nicht nur pflegt, sondern ihnen auch erfindungsreich nachhilft. – So weit, so erhellend wie auch unterhaltsam.
Doch es bleiben Fragen. Nicht nur stören zuweilen die Redundanzen: Teile des Buches wurden zuvor schon anderweitig publiziert, eine gewisse Straffung wäre gut gewesen. Auch manch unterstelltes Motiv von Reisenden erscheint etwas plakativ. Bedeutender sind allerdings zwei Desiderate.
Der Autor ist kein Wissenssoziologe. Das Standardwerk der Wissenssoziologie, Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, sucht man im umfangreichen Literaturverzeichnis vergeblich. Doch während Berger/Luckmann die gesellschaftliche Konstruktion von Realität (einschließlich der Sinn-Welt) beschreiben und im Grundsätzlichen bleiben, so greift Groebner einen Teilaspekt heraus: Die Bewirtschaftung der Vorstellungen von Vergangenheiten zu beiderlei Nutzen, dem ihrer Marketingexperten und dem ihrer zahlenden Konsumenten.
Der Autor ist auch kein Theologe. Sonst hätte er wohl die Bedeutung seiner Überlegungen für Theologie und Kirchengeschichte erkannt. Da geht es nicht nur um so etwas wie die Konstantinische Schenkung und die gut gemeinten frommen Rückdatierungen von Klostergründungen und der gefakten Urkunden. Es geht vielmehr um das „Kerngeschäft“ der Verkündigung: „Er ist (damals) wahrhaftig auferstanden“ und er errettet uns heute. Dieses Kerngeschäft ist die Bewirtschaftung der Vergangenheit, einer Vergangenheit, die trotz und wegen aller theologischen Forschung – so nach der ipsissima vox – sich als konstruiert erweist, wenn sie auch historische Kernelemente haben mag. Der Prozess der Vergangenheitskonstruktion fand bereits im Altes Testament statt – Stämmeamphiktionie, er wurde fortgesetzt mit den Berichten im Neues Testament, die vieles als erfüllte Weissagung aus dem Altes Testament zur Konstruktion des Lebens und des Todes Jesus übernommen haben. Es gehört zu den grandiosen Leistungen der frühen Christenheit, im Rückblick auf das Wirken und Leiden Jesu von Nazareth und mit Rückgriff auf die Facetten des alttestamentarischen Gottes eine Gottesvorstellung entwickelt zu haben, die mit der Figur des Heiligen Geistes zukunftsoffen ist, zukunftsoffen auch über unsere Endlichkeit hinaus. Dazu gehören das Ringen um ein „gültiges“ Credo, die Kanonbildung, die Fortentwicklung der Dogmatik und die Weiterentwicklung der „Gottesbilder“.
Alles nur Fake? Die Frage ist falsch gestellt. Im Unterschied zu den Formen des gehobenen Tourismus und der unbestrittenen Fortwirkung und Stilisierung des Erlebten im Erinnern, geht es bei der Pflege christlicher Tradition (wie auch in wohl den meisten Religionen) um die Vermittlung von Sicherheit in der Gegenwart und um Zukunftshoffnung über Leid und Tod hinaus.
[1] Valentin Groebner: „Retroland“. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen.
- Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 219 S., Abb., br., 20 – €.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Sacri_Monti
[3] Dieser Passus, ab „Varollo“, und das Photo aus der Rezension von HANNES HINTERMEIER, FAZ/24.8.18, S.10
„Die Muslime als starkes Argument für den christlichen Religionsunterricht“
Nicht nur das, sondern auch für die theologischen Fakultäten. Was manche angesichts der Probleme mit islam(ist)ischer Enkulturation begreifen, hat auch bei den Christen gewirkt: Die weithin gelungene Zähmung von Religion, die eigentlich nicht gezähmt werden kann, weil Gottes Wille über menschlichen Gesetzen steht. Das will ich an dieser Stelle nicht vertiefen. Aber die Säkularisierung war wirkungsvoll und nun erhofft man mit einem solchen Prozess einem „aufgeklärten“ Euro-Islam den Weg bereiten zu können. Die Aufklärung hat bei den Kirchen recht lange gedauert.
Es ist geradezu belustigend zu sehen, wie dank des Islam Religionsunterricht für Leute akzeptabel wird, die ihn bisher verkannt haben. Da war von Indoktrinierung die Rede, noch dazu vom Staat finanziert.[1] Die meisten dieser Leute haben wohl nie einen Lehrplan für Religionsunterricht in der Hand gehabt. Selbst viele „Gebildete“ meinen, im Religionsunterricht werde doch nur die Bibel gelesen.
Nun schreibt die Süddeutsche, der der Titel dieses Posts entnommen ist, über den Religionsunterricht und wie er sich verändert habe.[2] Das ist einerseits informativ, andererseits eher oberflächlich, denn eine echte Kritik des Religionsunterrichtes findet nicht statt. Eher naiv wird referiert: Es hat sich ja auch sehr geändert, das Fach, sagen viele Religionslehrer selbstbewusst: Wir bringen in die Schule, was sonst keiner leisten kann. Wir unterrichten authentisch über unseren Glauben. Bei uns kommen die existenziellen Themen zur Sprache – und unser Unterricht dient der Persönlichkeitsentwicklung, bei der es nicht nur auf die Noten ankommt.
Religionsunterricht hat deutlich mehr zu sein als das, um im allgemeinen Bildungsplan seine Berechtigung zu finden.[3] Es wird Zeit, dass die Religionslehrer vermitteln, welche Bedeutung Religion[4] für den Zusammenhalt einer zivilisierten Gesellschaft haben kann und sollte. Am französischen Beispiel kann man sehen, was man versäumt, wenn man die religiöse Bindung von Menschen ignoriert und meint, mit einem laizistischen Staatskult könne eine pluralistische Gesellschaft zusammengehalten werden.[5]
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/12/29/das-marchen-von-der-zwangsmissionierung-deutscher-kinder-im-staatlichen-religionsunterricht/
[2] http://www.sueddeutsche.de/bildung/schule-wie-sich-der-religionsunterricht-in-deutschland-veraendert-hat-1.2987758
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/01/06/ohne-religionsgeschichte-wird-es-nicht-gehen/
[4] natürlich nicht nur die christliche
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/28/laizismus-als-losung-vieler-probleme/
Die Geschichte, die niemand fördern wollte
»Mit viel Applaus bedacht wurde am Mittwochabend die Österreich-Premiere von „Von jetzt an kein Zurück“, Christian Froschs Drama über ein Pärchen jugendlicher romantischer Rebellen in der alten Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1967, die, von Jugendamt und Eltern eingewiesen, durch die autoritären Mühlen geschlossener „Erziehungsheime“ geschliffen werden.«
»Proteste gegen die Heimerziehung gab es bereits früher, und zwar markante: In dem TV-Film „Bambule“ von 1970 proben Insassinnen eines Mädchenheims in Berlin den Aufstand. Er wurde aber kurz vor seiner Ausstrahlung zurückgezogen und für Jahrzehnte ins Archiv verbannt, weil sich Drehbuchautorin Ulrike Meinhof zu dem Zeitpunkt bereits zu sehr radikalisiert hatte.
Im Jahr davor gab es die sogenannte „Heimkampagne“, Initiativen, eine Revolte, ein großer gelungener Ausbruchsversuch – ein Auslöser für die Liberalisierung in paar Jahre danach.
Weil aus den Studenten hinter der Kampagne aber Prominente der terroristischen RAF wurden – neben Meinhof etwa Andreas Baader und Gudrun Ensslin -, geriet jede Kritik an der militärischen Struktur von Heimen in den Verdacht der Linksradikalität, eine Debatte versandete. Und die Kirchen schwiegen ohnedies zu ihrer in der Nachbetrachtung peinlichen Rolle als Einpeitscher „christlicher Werte“.«
Bis hierher und nicht weiter – ich mag nicht mehr. Rezension eines nur halb gelesenen Buches: Marko Martin, Die Nacht von Salvador
Auf Seite 244 bin ich angekommen, 498 Seiten hat das Buch, dazu eine nicht gezählte Seite, die eine Art Epilog sein soll.
Marko Martin, Die Nacht von Salvador, Ein Fahrtenbuch.
„Die Andere Bibliothek“ hat das Buch verlegt, exquisit editiert, wie in dieser Edition üblich. Das verzweigte Wegenetz des Fahrtenbuchs überzieht Buchrücken und Cover des feinen roten Leineneinbands. Die erste bedruckte Seite zählt in freier Anlehnung an die Wegkarte über die Seite verteilt neun Stationen auf, von Danzig im Norden bis nach Kapstadt im Süden. Der grüne Rand auf der Außenkante soll uns wie auch die fett-grünen Seitenzahlen das ganze Buch hindurch begleiten. Von außen gesehen hat die Längsschnittseite eine eher schmutzig-graue Anmutung.
Blättern wir um, so sehen wir über beide Seiten verteilt 19 Zielpunkte, eine Strecke weist nach oben über den Rand hinaus – wohin mag sie den Leser führen? Neugierig blättern wir weiter. Die nächste Doppelseite überrascht: Rechts der Buchtitel auf grünem Papier in schwarzer Schrift, nur die „Nacht von Salvador“ sticht weiß hervor, links ist die Seite gespiegelt auf weißem Papier, aus schwarz ist grün geworden, aus weiß nun schwarz. Das Signum der Buchreihe, ein von rechts kommender Komet, darunter der Name der Reihe mit dem Hinweis „Begründet von Hans Magnus Enzensberger“ ist auf beiden Seiten sehr kleingehalten zu sehen, links natürlich spiegelverkehrt.
Wir blättern weiter und bemerken, wie angenehm glatt und dennoch griffig das ausgesuchte Papier des Buches ist, weit entfernt vom billigen groben Papier anderer Anbieter. Die Bücher dieser Reihe wollen seit Enzensberger und Franz Greno auch wegen der exquisiten Ästhetik ihrer Hardware gekauft werden – und die hat ihren Preis.
Doch nun zur „Software“. Links eine Widmung „Für H., ohne den es dieses Buch nicht gäbe.“ Nun ja, H. wird’s gefreut haben. Weiter: Rechts drei Zitate. Das mittlere sei hier hervorgehoben: „Sie fragen, welchen Plan ich habe? Gar keinen. Ich gehe der Linie der Spannungen nach, verstehen Sie. Ich gehe der Linie der Erregung nach.“: Witold Gombrowicz, Pornographie.
Das Inhaltsverzeichnis auf der nächsten rechten Seite zählt im Fließtext und Flattersatz mit fett-grün gedruckten Seitenangaben auf, was den Leser erwartet, doch das bleibt eher kryptisch.
„Ein Geständnis“, beginnend auf der ersten Seite des Textes. Es ist eines, wird aber gleich wieder infrage gestellt: „Vielleicht ist es ja auch nur ein ausgelegter Köder, diese Sache mit der Religion in ostdeutscher Provinz, eine zu offensichtliche Spur … Aber was geschieht, wenn du mit acht oder zehn Jahren zum ersten Mal Worte hörst wie: Sünde, Unzucht, weltliche Triebhaftigkeit und Ausschweifung, oder, wenn die Reihe der Vorlesenden an dich kommt, du Abschnitte und Sätze vorträgst, in denen vor Onanie, Trunksucht, Drogenmissbrauch, Homosexualität und Teenager-Schwangerschaften gewarnt wird?“ Er sei kein Psychologe, schreibt der Erzähler und zeigt doch nur, dass es psychologisch interessant ist, wie ein aus einer „Familie gläubiger Bibelchristen“ kommendes und in den geistig engen Konventikeln der Zeugen Jehovas, unter den Augen der „kontrollwütigen Staatssicherheit“ sozialisiertes Kind zu einem homosexuellen, weltläufigen und extrem belesenen jungen Mann herangereift ist. Das ist schon wert, ein ganzes Buch zu füllen. Aber solche Überlegungen sind seine Sache nicht. Der Erzähler lebt lieber.
Man muß schon sehr gut schreiben können, sagte ich zu meiner Frau, nach dem titelgebenden ersten Kapitel, der Nacht von Salvador. „Man liest, ohne zu ermüden, über rund 55 Seiten hinweg den Monolog einer alten Frau.“ Sie hat zwar einen Zuhörer, doch dessen Bedeutung und Reaktionen werden im Monolog nur unterstellt und nie bestätigt. Sie berichtet so etwa im Stil der Molly von James Joyce von ihrem rite de passage: Mit 15, als Quinceañera werden, so erzählt die Alte, in Salvador die jungen Mädchen gesellschaftsfähig, mannbar hätte man früher gesagt. Dazu feiert man ein Familienfest, bei dem die jungen Mädchen aber nur eine Nebenrolle spielen. Im Rückblick der alten Dame ist es nicht sonderlich erstrebenswert, in diese Gesellschaft der mafiösen Kaffeebarone eingeführt zu werden. Aber es ist lesenswert, wie sie aus einer nicht definierten Zukunft in gelebter Distanz, von Cap Ferrat in Südfrankreich aus, ihre Familie und die uns noch gar nicht so weit entfernten Zeitläufe beschreibt. Yves, ihr Mann, habe sie schon früh dort herausgeholt und sie gibt sich glücklich und zufrieden mit ihrer Lebensgeschichte. Nie wieder habe sie nach Salvador zurückgewollt, jede Beziehung zu dort abgebrochen. Doch waren es nur diese Gesellschaft und ihr übergriffiger Vater?
Wie weit diese Übergriffe gingen, erfahren wir nicht. Dafür etwas anderes. Ihr liebster Cousin, Marcos, hmm, der Autor nennt sich Marko, Marcos also verschwindet auf ihrem Fest mit einem unbekannten Gringo in einem der Zimmer im ersten Stock und sie erlebt am Schlüsselloch das exstatische Zusammensein der beiden Männer. Fein verteilt über die ganze Erzählung der Dame taucht dieses Erlebnis immer wieder auf, ohne Bewertung, durchzogen von der faszinierten Neugier der damals 15jährigen – und der Enttäuschung. Marcos war ihr der liebste Cousin. – Großartig geschrieben diese hin und her changierenden Erinnerungen mit den distanzierenden Einwürfen, der Zuhörer wolle sie nur aushorchen für andere Zwecke.
Dieser Auftakt lohnt das ganze Buch.
Ich las weiter und sagte zu meiner Frau: „Das Buch ist durch und durch schwul, man könnte es dem Frieder schenken.“ Frieder ist ein alter Bekannter unserer Familie. Er ist schwul und redet in einer auch heute noch nicht selbstverständlichen Nüchternheit und Offenheit über Sexuelles. Zuweilen sehe ich ihn an der Kasse der Tankstelle, wo er ganz fröhlich für seine ehemals extravagante Lebensführung hinzuverdient, doch das ist eine andere Geschichte. „Wieso schwul?“, fragte meine Frau, sie hatte mir das Buch geschenkt. „Du hast mir doch von dem Monolog der alten Dame erzählt.“ – „Ja“, sage ich, „aber ihr Schlüsselerlebnis war ein schwules, und nun ist das Buch nur noch schwul.“ – „Davon war aber in der Rezension nichts zu lesen.“ – „Rezensionen können in die Irre führen.“
Dies ist eine Rezension. „Nur noch schwul“ führt in die Irre. Der Erzähler ist viel herumgekommen und vielbelesen. Zunächst ist es auch interessant, ihn in die Hamams von Damaskus zu begleiten und dabei auch das Ausmaß der Bespitzelung der Assad’schen Geheimdienste kennenzulernen. Sicher, dem aufmerksamen Zeitungsleser war es auch vor den aktuellen Syrienkriegen nicht entgangen, wie durchspitzelt Damaskus war, doch hier gewinnt das Wissen eine Erlebnisdimension.
Doch die Fahrt geht weiter. Der Sprung nach Südamerika ist dann schon anspruchsvoller. Fitzcarraldo, was war das noch mal? Ja, das Schiff, das über den Berg geschleppt wird. Ja, Werner … ? Oh, mein Namensgedächtnis! Stimmt, Herzog. Werner Herzog hat den Film gedreht und er war offensichtlich auch in Iquitos. Iquitos? Nie gehört, Managua ja, auch Caruso. Aber Iquitos müßte ich nachschlagen. Da soll ein Haus aus Eisen stehen von Eiffel in Paris gebaut, zerlegt und dort wieder aufgebaut. Auch Klaus Kinski soll dort gewesen sein – in seiner unnachahmlichen Art. Ja, mit Herzog.
Doch diese vermeintlichen Highlights tauchen auf zwischen den ausführlichen Erinnerungen an Besuche in Schwulenclubs. Die Fahrten dorthin dominieren in diesem „Fahrtenbuch“ und die immer gleichen Verschlingungen von Zungen und Gliedern, vorgetragen in ebenso verschlungenen Monologen/Dialogen. Was im Eingangskapitel gut war, wird nun zur monotonen Methode. – Aus! Schluß jetzt. Die Hälfte des Buches reicht.
Schlussreflektion: Das Buch ist kein Porno, dazu ist es literarisch, auch in seinen kunstvollen politischen wie historischen Anspielungen zu anspruchsvoll. Warum ermüdet es mich? Gut, die schwule Welt ist nicht die meine. Aber Teleny von Oscar Wilde ist auch ein schwules Buch und hat mich nicht gelangweilt. Es mag an der Struktur dieses Fahrtenbuches liegen. Eine Reiserückerinnerung inform fiktiver Gesprächs- und Gedankenfetzen fetzt nicht. Es bleibt der Eindruck eines Anti-Lebens, eines ausschweifenden – das ist nicht moralisch gemeint – eines in die Welt und in eine Erlebniswelt ausschweifenden Lebens aus der Enge provinzieller religiöser und politischer Duckmäuserei. Der Erzähler dokumentiert gelassen-trotzig seinen Protest gegen seine Herkunft. Soll er es doch tun und sein Leben genießen. Was kümmert es den Leser?
Doch der Erzähler gleicht der alten Dame aus Salvador. Die ist auch auf Distanz gegangen und der Leser fragt sich, ob sie von ihrem Glück in Cap Ferrat wirklich so voll überzeugt ist.
Dies alles unter Vorbehalt. Ich habe nur die erste Hälfte gelesen.
Das Buch werden wir dann wohl doch dem Frieder schenken.
Wäre ein Gott, ein Gott, … Silvester 2014
Vom Sturmwind zerzaust,
gebeutelt, gebeugt,
vom Leben gezeichnet.
Seine Zweige,
sind sie Ausdruck der Sehnsucht
nach besseren Welten für Bäume?
Das ganze Gedicht: silvester 2014
Das Märchen von der Zwangsmissionierung deutscher Kinder im staatlichen Religionsunterricht.
Das Märchen wird immer wieder kolportiert und ist dennoch falsch.
Religionsunterricht ist in den meisten Bundesländern ein reguläres Unterrichtsfach für Schüler, die bzw. deren Eltern evangelisch bzw. katholisch sind. Wer nicht daran teilnehmen möchte, kann sich abmelden. Ist er oder sie noch nicht 14 Jahre alt, also noch nicht „religionsmündig“, entscheiden die Eltern über die Teilnahme.[1]
Dazu erhielt ich diesen Kommentar:
»Ich habe 4 inzwischen erwachsene Kinder, Wer vom Religionsunterricht befreit war, musste so eine Art Ethik-Unterricht absolvieren. Ich glaube, das hieß Werte und Normen. Die Lehrer waren dieselben, wie die Religionslehrer. In einer Grundschule war der Religionsunterricht so gelegt, dass die Kinder immer mitten drin eine Freistunde hatten. Nie am Ende oder am Anfang des Schultages.«
Solange der Religionsunterricht die Normalität war, hat es der Staat, in diesem Fall die Bundesländer, für ausreichend gehalten, dass die kirchlich anerkannten Religionslehrer[2] Werte und Normen im Rahmen eines konfessionellen Unterrichts vermittelten; sie wurden und werden dafür vom Kultusministerium bezahlt. Verschiedene Gründe haben dazu geführt, dass für immer mehr Kinder die Teilnahme am Religionsunterricht nicht mehr „selbstverständlich“ war. Also musste der Staat selber für Unterricht in Werten und Normen sorgen; dieser Unterricht heißt Ethikunterricht[3] und kann nicht abgewählt werden. Selbstverständlich sind die Religionslehrer von ihrem Studium her befähigt, Ethikunterricht zu erteilen. Sie sollten dazu aber nicht eingesetzt werden, weil die Eltern sich mit Recht wehren könnten, schließlich haben sie doch wohl ihre Gründe gehabt, als sie ihre Kinder vom Religionsunterricht abgemeldet haben, und sie dürfen einem Ethiklehrer, der auch Religionslehrer ist, misstrauen, wenn auch dieses Misstrauen in der Regel keinen inhaltlichen Rückhalt haben wird. Es gibt das Studienfach Ethik, das Lehrer für diesen Unterricht befähigt. Da Ethik-Unterricht kein Konfessionsunterricht sein darf, sonst müsste man sich abmelden dürfen, ist eine Konfessionszugehörigkeit des Lehrers unerheblich, im Gegensatz zum Religionsunterricht.
Schaut man sich die Lehrpläne für beide Fächer an, so wird man große Überlappungen feststellen. Wie denn auch anders? Die Werte und Normen in unserem Kulturraum sind nur geringfügig abhängig von der Konfession. Im Religionsunterricht wird stärker die religiös-konfessionelle Begründung für Ethik betont werden, der Ethik-Unterricht wird stärker philosophisch ausgerichtet sein. In beiden Unterrichtsfächern werden Religionen als Quelle und Bezugspunkt für Ethik durchgenommen, auch die „Fremdreligionen“. Dabei wird der Religionsunterricht den Bereich Kirchengeschichte ausführlicher behandeln. Täte er es nicht, müsste es im Geschichtsunterricht geschehen, da die Kirchengeschichte eng mit der europäischen Profangeschichte verwoben ist. Dasselbe gilt übrigens auch für die Geistesgeschichte und die Kunstgeschichte. Der Religionsunterricht könnte also erheblich entlastet und von Indoktrinationsvorwürfen befreit werden, wenn die anderen Fächer vollumfänglich ihren Bildungsauftrag erfüllen würden. Was im Religionsunterricht inzwischen nur noch selten vorkommt, ist im Ethikunterricht Tabu: Singen und Beten als persönliche Glaubensbekundung. Es ist schon lange her, dass Religionsunterricht als „Kirche in der Schule“ verstanden wurde.
Stundenplantechnisch wäre es optimal, wenn Religionsunterricht und Ethikunterricht zeitlich parallel angesetzt würden, um Freistunden zu vermeiden. Mit den allgemein vermehrten Wahlmöglichkeiten von Unterrichtsfächern sind Freistunden aber ohnehin zur Normalität geworden und der Schultag inzwischen vielfach ein ganzer Schultag. Leider bieten noch nicht alle Schulen eine Mensa und Arbeitsplätze für die Schüler zu Erledigung ihrer Aufgaben an.
Übrigens: In manchen Bundesländern kann Religion im Abitur als Leistungsfach gewählt werden. Da wird, wie auch sonst im Religionsunterricht, nicht der Glaube benotet, sondern das Wissen. Mit streng gläubigen Schülern bekommt ein Religionslehrer zuweilen mehr Schwierigkeiten als mit den anderen. Denn die historisch-kritische Methode in der Behandlung biblischer Schriften gehört zu Lehrplan. Diese Methode hat schon manchen einfachen Glauben erschüttert. Doch davon wissen viele nichts, besonders die, die unbedarft von Indoktrination reden.
[1] Umfassende Information: https://de.wikipedia.org/wiki/Religionsunterricht_in_Deutschland
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Religionslehrer
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ethikunterricht_in_Deutschland
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