Zeitvergleich
Geschichte wiederholt sich nicht – so heißt es. Doch es gibt merkwürdige Parallelen.
Heute sehen wir einen Artikel aus der Frankfurter Zeitung vom 01.11.1929.[1] 90 Jahre ist es her, dass diese Zeitung eine detaillierte Analyse des Aufstiegs der Nazi-Partei vorlegte. Vier Jahre später galt keine Pressefreiheit mehr, war alles gleichgeschaltet zu einer Nazi-Lügenpresse.
Schnuppern wir doch kurz die Luft der damaligen Freiheit:
»der Kern der Wählerschaft hat an der guten demokratischen Tradition des Landes festgehalten; nur ein – allerdings ansehlicher – Bruchteil ist der nationalsozialistischen Werbung widerstandslos erlegen, nämlich der Teil der Bauernschaft und des Bürgertums, den Kriegsende, Umwälzung und Inflation politisch aus dem Gleise geworfen und derart direktionslos gemacht haben, daß er, verstärkt durch wirtschaftlich Unzufriedene aller Art, seit zehn Jahren von Wahl zu Wahl anderen Phantomen nachjagt.« » Für den [badischen] Landtag bedeutet der Einzug der Nationalsozialisten eine Vermehrung der Elemente, die sich weigern, überhaupt fair mitzuarbeiten, die die Aufgabe des Landtags nicht fördern, sondern von innen heraus sabotieren wollen. Zu den fünf Kommunisten kommen sechs Nationalsozialisten; ein volles Achtel des Landtags wird damit aus Abgeordneten gegen den Landtag bestehen. Sie treiben ein unehrliches Spiel, indem sie trotzdem die volle Gleichberechtigung mit den andern Parteien in Anspruch nehmen – die ihnen selbstverständlich gewährt werden wird –, wie es auch unehrlich ist, selbst einen Staat des Zwanges, der brutalen Vergewaltigung aller Andersdenkenden zu propagieren und gleichzeitig laut zu lamentieren und vor Entrüstung außer sich zu sein, wenn der bestehende Staat sich gegen ihre Wühlarbeit mit sehr zahmen Mitteln zur Wehr setzt.«
Zeitsprung
»Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD. Das erklärt natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AfD. Aber es ist ein wichtiger Faktor, ähnlich wichtig wie andere Erklärungen, die man bislang oft hören konnte: Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung.«[2] »Was die beiden Parteien gemeinsam haben, ist, dass sie offensichtlich Menschen mit ihren rechtspopulistischen Denkweisen ansprechen, mit relativ schnellen und national gefärbten Lösungen für Probleme und Krisen der Zeit, mit ihrem Insider-Outsider-Denken.«
Dies ist die eine Seite des Problems und seiner Parallelen. Die weiteren Details sollte man den angegebenen Artikeln entnehmen. Dann sieht man auch, dass ein 1:1 Vergleich nicht funktioniert.
Doch auf der anderen Seite des Problems haben wir wieder eine Parallele.
Vor 90 Jahren schrieb die Frankfurter Zeitung: »Die Empfänglichkeit weiter Volkskreise für die nationalsozialistische Agitation könnte nicht so groß sein, wenn die Republik die volle Ueberzeugungs- und Anziehungskraft entfaltet hätte, die gerade einer auf dem demokratischen und sozialen Prinzip aufgebauten Institution innewohnen muß. Deshalb muß der Nationalsozialismus der Republik ein Stachel zur Selbstkritik sein; die Republik ist robust genug, um solche unablässige Selbstkritik ertragen zu können.«
Die Überzeugungs- und Anziehungskraft unserer Demokratie ist im Sinken und als enttäuschter/empörter Bürger könnte man geneigt sein, mancher AfD-Argumentation zu folgen – wenn es nicht die AfD wäre. Unsere Funktionseliten haben ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren durch zahlreiche Skandale. Es sind ja nicht nur die Großbauprojekte, die merkwürdigerweise nicht von der Stelle kommen, es ist nicht nur der Zustand unserer maroden Infrastruktur, bei dem man sich fragt, wo die Steuergelder hingeflossen sind. Es ist vor allem die Kumpanei mit Wirtschaft und Industrie geschmiert durch die Lobbyvertreter, genannt sei hier nur die Autoindustrie, die gerade durch ihre Betrügereien dabei ist, unsere Wirtschaft gegen die Wand zu fahren. Transparenz in diesen Dingen ist Tabu und die „Abgeordnetenwatch“ ein böser Bube.
Unser Gemeinwesen wird von zwei Seiten bedroht: Von seinen Vertretern, die gekonnt auf der Klaviatur gesetzlicher Möglichkeiten spielen – und dabei auch manchmal falsch spielen. Ihnen muss man auf die Finger hauen und sie bei den Wahlen abstrafen – wenn es da denn Alternativen gibt. Die erklärten Gegner unserer menschenrechtsbegründeten freiheitlichen Lebensweise sind Feinde dieses Staates und der Mehrheit der rechtlich Denkenden. Hier müssen unsere Staatsorgane mit allen rechtlichen Möglichkeiten durchgreifen bis hin zum Parteienverbot. Es wird Zeit. 1929 hatte man nur noch vier Jahre bis zur Machtergreifung der Feinde der Menschheit.
[1]Zitate aus : https://www.faz.net/aktuell/politik/historisches-e-paper/historisches-e-paper-nsdap-erstmals-im-badischen-landtag-16402663.html
[2] Die gegenwartsbezogenen Zitate sind entnommen aus: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-02/afd-waehler-rechtsextremismus-nsdap-gemeinden-milieu/komplettansicht
Rezo – Nach seinem Videoclip hat die FAZ Probleme, einen klugen Kopf zu bewahren.
Ihr Leitartikler dreht hohl und schreibt heute auf Seite 1: »Der Ton in den sozialen Netzwerken ist gnadenlos, unerbittlich, ohne Anstand und Hemmschwelle. Mit „Diskurs“ hat das alles nichts zu tun«. – Die Kriegserklärung an die CDU passt ihm nicht und er schreibt von einer „recherchierten“ Hetzkampagne.
Der Arme, er versteht die Welt nicht mehr und erst recht nicht die sozialen Medien. Und dass die Einfluss haben, passt nicht in sein Weltbild.
Wikipedia, auch ein Feindbild der FAZ, schreibt sachlich: »Im Mai 2019 veröffentlichte Rezo, der damit „sicherlich zu einer Art politischem Meinungsführer für eine heranwachsende Generation geworden ist“, ein gegen wesentliche politische Positionen insbesondere der Parteien CDU und SPD gerichtetes Video[1], das innerhalb kurzer Zeit millionenfach abgerufen wurde und eine breite gesellschaftliche Debatte auslöste.«[2]
Das Video war leider zu lang, um auch noch die FDP abzuwatschen, doch die ist mitgemeint.
Wenn „Hetzkampagnen“ immer so gut recherchiert wären wie der Beitrag von Rezo, sähe die Medienwelt anders aus. Wenn unsere Politiker über einen vergleichbaren Wissensstand verfügten, wenn sie sich äußern, käme die politische Meinungsschlacht in die Nähe eines Diskurses.
Rezo hat Forschungsergebnisse recherchiert. Sie stützen seine Aussagen mit hoher Signifikanz. Die Fachleute stimmen ihm zu.
Worauf beruft sich von Altenbockum? Wo sind seine Argumente?
Ja, der polemische Stil. Geschenkt.
Rezo hat kapiert, dass politischer Druck von Nobodies nur über beeindruckende Zahlen ausgeübt werden kann. Nobodies sind Leute, die nicht zählen, weil sie nicht zahlen können, jedenfalls nicht so, wie die Wirtschaftslobby. Es sind Leute, die gelernt haben, dass der Wahlkampf um ihre Stimmen nur eine Show-Veranstaltung ist, Kasperletheater. Sie haben ihre Stimme nur, um die Politik zu BEWERTEN. Andere haben über ihre Stimme hinaus EINFLUSS, sei es über Parteispenden, sei es über Interessenverbände, sei es über geschickte Lobbyisten, sei es über eine hohe Zahl von Arbeitsplätzen, die politisch in Geiselhaft genommen werden.
»Für jeden politisch denkenden Zeitgenossen ist es niederschmetternd, dass nicht die bessere Urteilskraft, sondern die skrupellose Kampagnenfähigkeit im Zeitalter digitaler Öffentlichkeit die Oberhand zu gewinnen scheint«. Aber hallo, Herr von Altenbockum! Das weckt Erinnerungen an Bismarcks Kampf gegen Gewerkschaften.[3]

Rezo hat die Skrupellosigkeit der Politik enttarnt und der Autor der FAZ nutzt seine Einflussmöglichkeiten recht skrupellos. Die Pressefreiheit war schon immer die Freiheit der Pressenden[4] – bis die Nobodies dank Internet kampagnenfähig wurden.
That‘s democracy, stupid!
CDU? CSU? SPD? Nein, danke! – FDP? – erst recht nicht. – Und schon gar nicht AFD.
Aber wählen gehen sollte man unbedingt. Machen wir Europa stärker. Meine Wahlempfehlung: https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie_in_Europa_%E2%80%93_DiEM25
[1] https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rezo
[3] https://www.gewerkschaftsgeschichte.de/sozialistengesetz-die-verbotswelle-rollt.html
[4] Photo: http://www.umweltbrief.de/neu/html/Pressefreiheit.html
Die zwei Seiten der Antje Vollmer
Antje Vollmer und ihr unheilvolles Wirken.
Erst jetzt kam mir ein Focusartikel auf den Schirm: Die zwei Seiten der Antje Vollmer https://www.focus.de/magazin/tagebuch/tagebuch-die-zwei-seiten-der-antje-vollmer_aid_497390.html. Ich habe den Artikel weitergetwittert. Da nicht alle Leser meines Blogs twittern, möchte ich hier auf meinen Retweet hinweisen:
Danke, das passt.
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/10/16/zensur-bei-wiki-in-sachen-antje-vollmer/ https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/03/10/der-von-beginn-an-auf-betrug-angelegte-runde-tisch-wurde-rotieren/
Eine besondere Beachtung dient dem Wikipediaeintrag. Dort kennt man nur eine Seite von Antje Vollmer. Sie scheint dort einen speziellen Schutzengel zu haben: Den Vertuscher.
Den Unmündigen eine Stimme geben – Wahlrecht für Kinder!

Das ist doch ein Anfang, wenn auch zaghaft: Menschen mit Behinderung dürfen auch wenn sie unter vollumfänglicher Betreuung stehen, bei der Kommunalwahl mit abstimmen.[1] Ob das für die Europawahl (und die anderen) gelten darf, daran knobelt der Bundestag noch rum.[2]
Wenn diese entwürdigende Situation bereinigt ist, sollten wir uns einer viel größeren Gruppen von Unmündigen zuwenden. Auch Kinder und Jugendliche haben bisher kein Stimmrecht. Ihre Eltern vertreten sie zwar in allen Belangen, doch bei den Wahlen nicht. Wahlrecht ist Bürgerrecht, sind Kinder keine Bürger?
Ein Dialog:
Stimmrecht für Kinder? Da wählen ja doch nur die Eltern.
Na und? Das stärkt immerhin die Position der Familie. Wenn die Kinder älter werden, dann fragen sie auch, ob Papa oder Mama in ihrem wohlverstandenen Interesse abstimmen oder sie gehen allein in die Wahlkabine. Das wäre doch ein Fortschritt für die politische Bildung. Die Politiker werden sich darauf einstellen müssen und endlich mehr Rücksicht auf Kinder und Jugendliche nehmen.
Und wenn die Eltern sich uneinig sind?
Na und? Dann nimmt einmal sie das Kind mit in die Wahlkabine, das nächste Mal er.
Stimmrecht für Kinder? Die verstehen doch nichts von Politik?
Es war ein Kind, das rief: „Er hat ja nichts an“ und öffnete dem Volk die Augen bis alle riefen: „Er hat ja nichts an“. Nur ein Märchen über des Kaisers neue Kleider? Nein, wir erleben gerade die Freitagsdemonstrationen von Kindern und Jugendlichen, die für das Klima und ihre Zukunft auf die Straße gehen und den Politikern die Kostümierung wegreißen: Sie haben ja nichts an. – Wirklich nicht!
[1] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/gesetzentwurf-betreute-menschen-wahlrecht,wahlrecht-menschen-mit-behinderung-100.html
[2] https://kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/39802?rss=true
„Möchtest du dem Onkel einen blasen, oder wollen wir spazierengehen?“
Zuvor hat man dem Kind die Füße verbrannt.[1]
Was muss in diesem Rabenvaterland eigentlich noch passieren, damit Kinder endlich besser geschützt werden? Wann reagiert der träge politische Apparat? Setzt der sich nur aus Apparatschiks[2] zusammen?
Was tut die Kinderkommission?[3] Sie tagt oft. Schauen Sie doch mal rein![4] Es gibt auch dringend wichtige Tagesordnungspunkte, zB: in der 5. Sitzung am 17. Oktober 2018:
Tagesordnungspunkt 1: Beratung der Stellungnahme zum Themenkomplex „Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren: Qualifizierung von Familienrichtern, Sachverständigen und Verfahrensbeiständen“.
Doch medial tritt die Kinderkommission nicht in Erscheinung. das ist nicht ihre Aufgabe. Sie ist ein Gremium zur Hintergrundberatung der Abgeordneten. Was die dann aus den Expertisen machen, wird nicht verfolgt. Man tagt also und tagt, doch hell wird es nicht.
Kinder sind nicht wahlberechtigt, sie haben keine Stimme im politischen Prozess. Sie haben auch keine einflussreiche Lobby.[5] Sie haben nur Experten, die schon lange vergeblich versuchen, ihre Expertise politisch wirksam werden zu lassen. Darum können Kinder keinen Druck machen. Und wenn sie mal medial erfolgreich Druck machen, wie gerade bei den Freitagsdemonstration gegen den Klimawandel, dann setzt die Kultusbürokratie zum Würgegriff an. Ein Wahlrecht für Kinder würde ihre Position und die der Familien stärken.
Sicher, es gibt die Medien, die Skandale aufgreifen. Man sollte sie nicht schelten. Es gibt uns, die Nutzer der Medien. Doch in den Politikpaketen (Wundertüten) die jeweils zur Wahl stehen, kommen konkrete Vorhaben zur Förderung des Kinderschutzes nicht vor. Politiker machen Politik für ihre eigenen Interessen, rein zufällig mag auch mal etwas für die Belange der Kinder dabei sein – damit meine ich die ideologisch hochgeputschten Themen zu den Schulformen, zur Notengebung, zu Inklusion, zum „Wechselmodell“ und anderen, je nach politischer Ausrichtung. Kindesmissbrauch beginnt bei der Instrumentalisierung von Kindesbelangen für eigene Zwecke.
Der föderale Aufbau unseres Staates hat den Kernbereich der Kindesbelange, soweit sie das individuelle Kind und Gruppen, denen die Kinder angehören (Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen), weit nach unten verlagert, zum Teil bis auf die Ebene der Kommunen. Übergeordnete Probleme können dort nicht angegangen werden.
So die Frage
- der Fachaufsicht über die Jugendämter,
- der Fachaufsicht über Jugendhilfe-Maßnahmen
- der Zusammenarbeit von Jugendamt, Familiengerichten, Schulen und Polizei ,
- der Kontrolle der tatsächlichen Durchführung der ärztlichen Untersuchungen im Kindesalter und der Maßnahmen, die bei Unterlassung zu ergreifen sind,
- der schulärztlichen Untersuchungen, bei denen man überprüfen könnte, ob die Kinder zumindest äußerlich unversehrt sind.
- der Gestaltung des Strafrahmens bei Taten gegen Kinder, die durch erheblichen Sadismus geprägt sind, wie im Beispiel von Fußnote 1 nachzulesen. Hier müsste fallweise Sicherungsverwahrung möglich sein.
- der Gestaltung des Strafrahmens bei Taten gegen Kinder, die kommerziell-sexuell ausgebeutet werden. Auch hier müsste fallweise Sicherungsverwahrung möglich sein.
- Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Nicht immer sind die Eltern die besten Hüter des Kindeswohls.
Ich bin tagungserfahren in diesen Dingen, doch hell ist es durch meine Tagungen an der Evangelischen Akademie Bad Boll nicht geworden.
Fußnoten
[1] https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2019/43165/organisierter-missbrauch-auch-von-vaetern-und-muettern Hier geht es um die Spitze des Sadismus. Eine Kombination von Sadismus mit der kommerziellen Verwertung von Kindesmissbrauch haben die kürzlich bekanntgewordenen Fälle aus Staufen und Lütge gezeitgt. Solchen Meldungen tauchen periodisch immer wieder auf und belegen den Stellenwert von Kindern in unserer Gesellschaft.
[2] Nach Pierre Bourdieu ist der Apparatschik vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sein zentrales oder gar einziges soziales Bezugssystem der organisatorische Apparat ist, dem er seine gesellschaftliche Stellung verdankt. https://de.wikipedia.org/wiki/Apparatschik
[3] https://www.bundestag.de/ausschuesse/ausschuesse18/a13/kiko
[4] https://www.bundestag.de/ausschuesse/a13/kik/tagesordnungen
[5] Damit ist nicht nur eine wirtschaftlich mächtige Lobby gemeint, sondern auch auch die mitgliederstarken Lobbies.
Kinderrechte sollen ins Grundgesetz
Ja, aber ich glaub’s erst, wenn sie drin sind. Beurteilen kann man sie erst, wenn man sie sich kritisch anschaut: 1. Welche Kinderrechte kommen ins Grundgesetz? 2. Welche Chancen haben ihre Umsetzung in Politik, Justiz und Verwaltung? Es wird also noch dauern.
Als jahrelanger Beobachter der Situation kann ich nur gequält schmunzeln über den Fortschritt, der bekanntlich eine Schnecke ist – und ob’s ein Fortschritt wird, sehen wir erst später.[1]
Nun endlich nimmt sich die Politik auf höherer Ebene (Koalitionsvertrag) des Themas an. Eine Zusammenfassung gab es gestern in der Sendung „Hintergrund“ des Deutschlandfunks. Man lese nach![2]
Ob es zu einer 2/3-Mehrheit im Bundestag reichen wird, halte ich für fraglich, denn – wie üblich – werden die Kinder nicht nach ihren wohlverstandenen Interessen gefragt, sondern die Vertreter der Interessen anderer:
- Elternverbände
- Männervereinigungen
- Frauenvereinigungen
- Kirchen
- Parteien
- Sozial- bzw. Jugendhilfeträger
und am wichtigsten:
- die Länder und ihre Kommunen
Die Liste ist wohl nicht vollständig, so habe ich z.B. die Rechtsdogmatiker nicht erwähnt.
Wenn einer Personengruppe, die bisher nur im Paket „Familie“ mitgemeint war, eigene Rechte eingeräumt werden sollen, schmälert das die Rechte und den Einfluss anderer – oder deren Finanzen. Diese anderen werden alle Möglichkeiten nutzen, um ihren Besitzstand zu wahren.
Die Eltern und ihre Verbände werden auf das Elternrecht pochen und darauf verweisen, dass für deren Missbrauch der Staat ein Wächteramt habe. Es ist ja auch richtig, dass der Staat nicht ohne Anlass, also willkürlich/ideologisch in die Familien hineinregieren soll. Autoritäre Staaten in Vergangenheit und Gegenwart sind ein abschreckendes Beispiel, die Hilflosigkeit von Kindern in unserem System in bekanntgewordenen Extremfällen allerdings auch. Es wird also darum gehen müssen, Elternrechte gegen die wohlverstandenen Interessen des Kindes abzuwägen und passende Maßnahme durchzusetzen, wobei unbedingt die Meinung der Kinder erfragt werden muss. Richter sind oft dieser Aufgabe nicht gewachsen. Das sollte also eine unabhängige Fachkraft tun, die den Kindern ihre Entscheidungsmöglichkeiten und auch die Folgen freundlich vor Augen führt. Das bedeutet: qualifizierte Einzelarbeit, die ist teuer. Sind uns die Kinder das wert? Wer soll das bezahlen?
Fragen in Zusammenhang mit Inobhutnahme sind besonders schwierig. Kinder sind zuweilen hinundhergerissen zwischen der Liebe zu ihren Eltern, selbst wenn diese drogenabhängig sind [Parentifizierung] oder sie gar mißhandeln einerseits und andererseits ihren wohlverstandenen Interessen. Hier ist sehr viel Einfühlungsvermögen vonnöten, um den Kindern die Last der Verantwortung und die Schuldgefühle abzunehmen. Zu beachten ist der Zeitfaktor bei einer Unterbringung in einer Pflegefamilie. Oft ist hier eine Bindung entstanden, die stärker ist als manche Vorstellung von Blutsverwandtschaft. Die Vorstellung, dass soziale Elternschaft wichtiger ist als leibliche, ist vielen Menschen fremd. Sie denken nicht daran, dass es Aufgabe jeder Elternschaft ist, eine soziale zu werden.
Kinder bei Trennung und Scheidung sind dann besonders schlecht dran, wenn der Partnerschaftskrieg auf dem Rücken der Kinder ausgefochten wird. Im Hintergrund machen sich Männervereinigungen und Frauenvereinigungen stark. Auch sie folgen zumeist biologischen Denkmustern. Ein Kind gehört zur Mutter/zum Vater oder es hat Anrecht auf beide. Alles ist verheerend für Kinder, wenn die Eltern für das Kind nicht in erster Linie Eltern sein wollen – und es auch können. Zurzeit versuchen – vornehmlich – Männer, die oft unhaltbaren Entscheidungen der Familiengerichte auszuhebeln durch ein im Regelfall verpflichtendes Doppelresidenzmodell. Ob diese Aufteilung der Kinder von Fall zu Fall von den Kindern gewünscht wird und ob es für sie praktikabel ist, diese Frage interessiert nicht. Es kann und sollte in solchen Fällen immer darum gehen, im Einvernehmen mit den Kindern – möglichst auch mit den Eltern – eine kindgerechte, alltagstaugliche Lösung zu finden, die nach Kindesbedarf Flexibilität ermöglicht und auf Wunsch des Kindes auch wieder neu verhandelbar ist. Auch hier ist die Beratung und Begleitung von ideologisch unabhängigen Fachpersonal nötig. Mit der psychologisch-pädagogischen Fachkompetenz der Richter wird man wohl auch zukünftig nicht rechnen können.
Die Kirchen und andere Religionsverbände werden das Elternrecht in dem Sinne verteidigen wollen, dass diese das Recht auf religiöse Erziehung bis zur Religionsmündigkeit behalten sollten. Das ist problematischer als es aussieht. Denn es beinhaltet das Recht auf Beschneidung minderjähriger Jungen, was eindeutig dem Kinderrecht auf Unversehrtheit entgegensteht. Von dort ausgehend machen manche Agitatoren auch Front gegen die Kindertaufe; ein Kind solle unbehelligt von jedweder Religion aufwachsen, bis es sich selber entscheiden kann. Das ist völlig lebensfremd.[3]
Die Parteien sind, wie der Rundfunkbeitrag zeigt, unterschiedlicher Meinung.[4] Nach meiner Einschätzung haben alle kein besonderes Interesse an Kindern, sondern nur an ihren Wählergruppen. Das ist systembedingt. Sie werden jeden Entwurf für Kinderrechte im GG in ihrem Interesse beeinflussen, verwässern und Hintertürchen aufhalten[5]. Also brauchen wir nicht nur die Kinderrechte im GG, sondern auch Wahlrecht für Kinder, das zunächst wohl eine Art Familienwahlrecht wäre bis die Kinder eigene politische Vorstellungen haben. Dann, aber erst dann würden die Parteien Familien und Kinder umwerben und ihnen die Aufmerksamkeit geben, die ihnen gebührt.
Ein schwieriges Kapitel sind die Sozial- bzw. Jugendhilfeträger, denn die Rechte dieser Lobby sind festgezurrt. Ich habe es in einem Beitrag hier im Blog dargestellt.[6]
Am übelsten jedoch ist die Lobby der Länder und ihrer Kommunen, denn die sind – wie die Elternrechte – schon im Grundgesetz verankert und sie wollen nicht zahlen. Darum hintertreiben sie seit Jahrzehnten alle kostenträchtigen Gesetze, auch die, die für das Kindeswohl förderlich sind. Und sie achten auf ihre Hoheit. Besonders sie also sind der Hauptgegner, wenn es um die Umsetzung von Kinderrechten im Grundgesetz geht.
Das sind die Nebenwirkungen des Föderalismus; wir kennen sie aus verschiedenen Bereichen. Ich nenne nur die Schulpolitik und mag gar nicht weiter darauf eingehen. Auch die Pflegeschlüssel sind von Land zu Land unterschiedlich. Ist doch logisch, dass der Pflegebedarf in Bayern ein anderer ist als in Meck-Pomm.
Fußnoten
[1] Einen Katalog von Defiziten und Forderungen habe ich schon in meiner Tagungsreihe Kinderkram publiziert und später, 2011 in meinen Blog gestellt:Dierk Schäfer, Für eine neue Politik in Kinder- und Jugendlichen-Angelegenheiten https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/10/fc3bcr-eine-neue-politik.pdf
[2] http://www.deutschlandfunk.de/nach-jahrzehntelanger-debatte-kinderrechte-sollen-ins.724.de.html?dram:article_id=416242 Sonntag, 22. April 2018
[3] Dierk Schäfer, Die Zurichtung des Menschen – auch ohne Religion https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/04/18/die-zurichtung-des-menschen-auch-ohne-religion/
[4] http://www.deutschlandfunk.de/nach-jahrzehntelanger-debatte-kinderrechte-sollen-ins.724.de.html?dram:article_id=416242
[5] „Also, Herr Referent, der Gummizug ist schon ganz nett, vergessen Sie aber nicht die Verwässerungsanlage und das Hintertürchen.“ Fund: Archiv Dierk Schäfer
[6] Dierk Schäfer, Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, 24. Juni 2015, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/
Deutschland – Rabenvaterland
Kind zu sein kann schwierig sein, geradezu gefährlich, wie man immer wieder liest.
Kürzlich griff die FAZ das Thema sogar auf der ersten Seite auf: „Im Zweifel für das Kindeswohl“:
Dass das eigene Kind einem pädophilen Sexualstraftäter zum Opfer fallen könnte, ist eine unerträgliche Vorstellung. Der elterliche Schutz von Kindern ist ein menschlicher Urinstinkt. Der Breisgauer Missbrauchsfall ist deshalb so erschütternd, weil sich der Beschützerinstinkt der Eltern in sein perverses Gegenteil verkehrt hat: Die Mutter des neunjährigen Jungen und ihr Lebensgefährte, den das Kind „Papa“ nannte, haben ihm selbst die schlimmsten Qualen zugefügt und dabei zugeschaut, wie andere Pädokriminelle das Kind gegen Bezahlung sexuell missbraucht haben. Schutzloser kann ein Kind nicht sein. Es wäre hier Aufgabe des Staates gewesen, für das Kind da zu sein. Die Behörden und Gerichte hätten den Jungen in Sicherheit bringen müssen. Zwar schützt das Grundgesetz die Familie als Einheit, der Staat hat sich zurückzuhalten. Kinder von ihren Eltern zu trennen, darf nur das letzte Mittel sein – aber es muss auch das letzte Mittel sein, wenn Gefahren für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes drohen. [1]
Doch was ist los mit diesem Staat? „Den Staat“ gibt es hier nur in seinen pluralen Verpuppungen:
- Als Gesamtstaat, der sich weigert, Kindern und ihren Rechten einen Platz explizit im Grundgesetz zu gewähren.
- Als Bundesrat, der im Interesse der Bundesländer die Kosten für Kinder eng begrenzt sehen will, mit Rücksicht auf
- die Kommunen. Sie müssen schließlich die Sozialkosten tragen, also auch die Kosten für die Jugendhilfe – und sie sperren sich, soweit es geht.
Bei so zersplitterten Zuständigkeiten ist niemand so recht verantwortlich, und wenn es – leider oft genug – schiefläuft, sucht man nach einem Schuldigen. Im Freiburger Fall ist es die Mutter. Für rechtzeitige professionelle Kooperationen vor Ort (Jugendamt, Jugendhilfe-Einrichtungen, Beratungsstellen, Gericht, Verfahrensbeistände, Rechtsanwälte) ist man zu bequem, man kennt wohl auch die Fachliteratur nicht. Dabei weiß man sehr gut, dass Eltern nicht nur Schicksal sind, sondern oft auch Schicksalsschläge.
Was das für die Kinder bedeutet, kommt nur als Spitze eines Eisbergs ans Tageslicht.
Als ich meine Zusammenfassung „Für eine neue Politik in Kinder- und Jugendlichen-Angelegenheiten“[2] verfasste, war mir die starke Position der Sozialkonzerne, aber auch kleinerer Jugendhilfe-Einrichtungen noch nicht klar: Kinder sind in unserem Land gar nicht vernachlässigt, sie sind ein Geschäftsmodell. Das wurde in der Heimkinderdebatte deutlich, trifft aber auch neuere Jugendhilfemodelle[3], an deren Beispiel deutlich wurde, dass die Jugendhilfe-Marktbetreiber nicht wirksam zu kontrollieren sind, weil sie die „Marktordnung“ maßgeblich bestimmt haben.[4] Marktaufsicht? Weitgehend Fehlanzeige.
Das Thema ist hochkompliziert – und die Politik überfordert. Lediglich die Medien greifen strukturelle Missstände auf, wie oben genannt die FAZ, oder heute die Basler Zeitung mit dem Titel „Das grosse Geschäft mit dem Kindswohl“[5]
An die FAZ schrieb ich einen Leserbrief:
Strukturfehler beim Kinderschutz
Wenn „Kindeswohl“ prominent auf der ersten Seite einer seriösen, nicht sensationsgeilen Tageszeitung erscheint, muss es einen gravierenden Grund geben. Es geht nicht um nur einen der vielzuvielen Einzelfälle von Kindesmissbrauch, – misshandlung oder grober Vernachlässigung, sondern um strukturelle Fehler, die solche Fälle begünstigen. Der Fall im Breisgau – er ist hier nicht darzustellen – zeigt in besonders eklatanter Weise diese Fehler auf und sie werden von der Autorin auch benannt. Die Gerichte und das zuständige Jugendamt haben mittlerweile selbst eine Aufarbeitung angekündigt. Das zeigt die Fortschritte in der Fehlerkultur der Justiz, schreibt sie weiter. Ich fürchte, da irrt sie sich. Natürlich mussten die beteiligten Behörden nach diesem grobem Fall so reagieren, aber Zerknirschung oder eine Demutshaltung ist das nicht. Denn die Schuldige steht fest: Die Mutter. In der hatte man sich geradezu kollegial getäuscht.
Ich bin als ehemaliger Tagungsleiter in diesem Themenbereich mit der Materie vertraut. Die Evangelische Akademie Bad Boll hat zusammen mit der Fachhochschule Esslingen ein Curriculum zur Ausbildung von Verfahrensbeiständen, zu Beginn sprach man vom Anwalt des Kindes, entwickelt und trotz vieler Widerstände einige Jahre durchgeführt. Widerstände?
Auf politischer Seite meinte man, eine Ausbildung brauche man dafür nicht. Ehrenamtliche könnten das machen, oder aber Juristen. Die Länder sorgten dafür, dass eine erforderliche Ausbildung nicht ins Gesetz kam. Als die Professionalisierung schließlich nicht mehr aufzuhalten war, setzten sie sich erfolgreich für die pauschalierte Bezahlung der Verfahrensbeistände ein in einer Höhe, zu der professionelle Arbeit nicht zu leisten ist. Damit ist der eine Strukturfehler benannt: Der Spar-Föderalismus in Kinderschutzbelangen. Ein weites Feld, das hier nicht abgeschritten werden kann.
Der zweite Strukturfehler ist die Bedeutung des Elternrechts. Das ist wirklich hoch zu schätzen, darf aber keine heilige Kuh sein. Eltern sind zwar Schicksal –zuweilen aber Schicksalsschläge. Hier ist das Wächteramt des Staates gefordert. Doch der weigert sich bis heute, Kinderrechte ins Grundgesetz zu schreiben. Die könnten schließlich in Konkurrenz zu den Elternrechten treten.
Der dritte Strukturfehler liegt in der Aus- und Fortbildung der Richter. Siegfried Willutzki, Gründer des Deutschen Familiengerichtstags, hat sich mehrfach auf unseren Tagungen über Kollegen beklagt, die unter Berufung auf ihre Unabhängigkeit Fortbildung verweigern. Familienrichter stehen in der Bedeutung innerhalb des Justizsystems ohnehin nicht an herausragender Stelle. Die Funktion wird zuweilen einem Berufsanfänger aufgedrückt, der froh sein kann, wenn er vom jeweiligen Jugendamtsleiter in die Materie eingeführt wird, denn Familienrecht hatte er an der Universität links liegen lassen. In unseren Kursen zum Anwalt des Kindes fiel allen Beteiligten immer wieder die große Differenz im Denken von Juristen und Sozialpädagogen auf. Da kamen verschiedene Welten zusammen. Einig war man sich, dass ein solcher Kurs nicht nur für angehende Verfahrensbeistände, sondern auch für jeden Familienrichter unabdingbar sein sollte. Doch es geht ja nur um „Familie und das ganze Gedöns“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man für ein großes Konkursverfahren einen Richter bestellt, der von Ökonomie keine Ahnung hat.
Kinderbelange haben in unserem Land keine Priorität, also auch nicht bei Politikern. Erst wenn etwas passiert, merkt man auf. Mehr passiert aber auch nicht.
Deutschland – ein Rabenvaterland.
Der im Leserbrief genannte Siegfried Willutzki gab vor wenigen Tagen ein Interview[6]. Doch ich fürchte, auch das Interview eines versierten, renommierten Fachmannes wird die Politiker nicht zu wirklichen Reformen motivieren. Die produzieren lieber ideologisch geprägte Schulversuche (zulasten der Kinder) oder propagieren „Inklusion“, für die sie aber möglichst kein Geld ausgeben wollen (zulasten der Kinder).
Als ich diese Graphik zusammenstellte, standen Misshandlung und Missbrauch noch nicht so im Focus. Doch die Zusammenhänge werden deutlich.
Fußnoten
[1] von Helene Bubrowski, FAZ, Dienstag, 23. Januar 2018, S. 1
[2] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/11/fc3bcr-eine-neue-politik.pdf
[3] https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/politik/friesenhof-skandal-so-wehren-sich-betreiber-gegen-eine-kinderheim-reform-id10039671.html
[4] Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, 24. Juni 2015, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/
[5] „Das grosse Geschäft mit dem Kindswohl“ Wie private Sozialfirmen mit Steuergeldern und ohne Erfolgskontrolle wirtschaften. Die Zahl der Personen, die im Sozialwesen tätig sind, hat sich seit 1991 verdoppelt. https://bazonline.ch/schweiz/standard/das-grosse-geschaeft-mit-dem-kindswohl/story/27864419
[6] https://www.swr.de/swraktuell/bw/suedbaden/interview-mit-familienrechtler-willutzki-voellig-unangemessen/-/id=1552/did=21064478/nid=1552/1p45kyw/index.html
Wenn Inklusion bloß Illusion wäre, …
… aber sie ist politischer Betrug. Hansgünter Jung berichtet heute vom Praxisschock[1]. Der war allerdings abzusehen und wurde vielfach vorausgesagt, nicht nur hier im Blog.[2]
Jung schreibt: »Die inklusive Schule war lange Zeit ein Selbstläufer. Ihre Protagonisten brauchten nur das Wort „UN-Behindertenrechtskonvention“ auszusprechen – und unbequeme Fragen zu Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit dieses bildungspolitischen Großprojekts wurden gar nicht erst gestellt. Gesinnungsethische Beflissenheit ersetzte juristische Hermeneutik. Doch jetzt bahnt sich im öffentlichen Diskurs eine Wende an. Sie beruht auf einem Praxisschock, der gleich von zwei Seiten kommt. Die Eltern der behinderten Kinder erleben, wie eine Förderschule nach der anderen aufgelöst wird. Gleichzeitig hat sich der Blick der Öffentlichkeit dafür geschärft, wie schwierig Inklusion in den meisten Fällen ist: schließlich gilt es den Lernbehinderten, geistig Behinderten und Verhaltensauffälligen gerecht zu werden. Die Sensibilisierung hat etwas damit zu tun, dass die Lehrkräfte der Regelschulen neuerdings vor eine weitere Aufgabe gestellt sind. Sie müssen jetzt auch noch zahlreiche Flüchtlings- und Migrantenkinder ohne Deutschkenntnisse unterrichten und erziehen. Jetzt hört man den überforderten Lehrkräften endlich zu, wenn sie fragen: „Was sollen wir eigentlich noch alles leisten?“«
Mich wundert diese Entwicklung nicht, höre ich doch ähnliches aus dem Schulbereich von meinen Bekannten.
Fußnoten
[1] Hansgünter Lang, Inklusion vor der Wende, Lange Zeit waren die kritischen Stimmen zur Integration behinderter Schüler kaum zu hören, nun stellt sich der Praxisschock ein. Zitate aus diesem Artikel. FAZ-Print, Donnerstag, 18. Mai 2017. Wird wohl nicht digital erhältlich sein. Ich habe den Artikel gescannt und schicke ihn gern auf Mailanforderung zur privaten Verwendung.
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/04/03/die-illusion-der-inklusion/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/04/07/kinderrechte-inklusion-macht-kinder-zu-verlierern/
Warum überlassen unsere Kirchen den Kinderschutz ausgerechnet den Gegnern von Religion?
»Zum fünften Jahrestag des „Kölner Urteils“ legen Dr. iur. Ralf Eschelbach (Richter am Bundesgerichtshof), Prof. Dr. med. Matthias Franz (Universitätsklinikum Düsseldorf) und Prof. Dr. iur. Jörg Scheinfeld (Universitäten Mainz und Wiesbaden) [auf Anfrage der Giordano-Bruno-Stiftung] ein gemeinsames Papier vor, in dem sie die zentralen Argumente der Beschneidungsdebatte zusammenfassen und die Parlamentarier nachdrücklich zum Handeln aufrufen. Ihr Text zeigt auf, dass die Politiker bei der Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes von fehlerhaften Informationen ausgingen und dazu verleitet wurden, eine Einsicht zu ignorieren, die in einem modernen Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte, nämlich dass der Intimbereich von Jungen ebenso unverfügbar sein muss wie der Intimbereich von Mädchen.«[1]
Die vorgelegte Expertise führt nicht nur die schon bekannten Einwände gegen die Beschneidung von Jungen auf, sondern resümiert auch neuere Erkenntnisse, die belegen, auf welch unsicherer Grundlage die Entscheidung unserer Volksvertreter vor fünf Jahren gefallen ist. Doch neben der sattsam bekannten Wirtschaftslobby übt auch eine nicht weniger unselige Religionslobby Einfluss auf die Abgeordneten aus, der auch in einer repräsentativen Demokratie aus rechtstaatlichen Gründen korrigiert werden muss. Die Kinder und ihr Schutz gehören ins Grundgesetz. Religionsvorbehalte müssen nachrangig bleiben.
Übrigens: Die meisten Leser dieses Blogs haben ihre persönliche Antwort auf meine Frage in der Überschrift. Kinderschutz spielte schon in den damaligen kirchlichen Einrichtungen keine Rolle. Demütigungen und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Die Phalanx von Staat und Kirchen sorgte unter der regulierenden Hand von Antje Vollmer am Runden Tisch dafür, dass es keine einklagbaren Entschädigungen für erlittene Kindesmisshandlungen geben sollte. Am Runden Tisch haben die Kirchen die Chance versäumt, Glaubhaftigkeit zurückzugewinnen.
Wen wundert es also, dass sie beim Thema Beschneidung nicht auf Seiten der Kinder stehen?
[1] https://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/eschelbach-franz-scheinfeld-beschneidung
»künftig soll letztendlich das Jugendamt entscheiden«
Das klingt nicht gut. Doch wenn die Fachverbände Kritik an einer Gesetzesreform üben, so muss man genau hinschauen.
Mehr Staat muss nicht falsch sein, es sei denn, er will hauptsächlich an den Interessen von Kindern und Jugendlichen vorbei Sparmodelle durchsetzen, – und so sieht es aus: »sofern „infrastrukturelle Angebote“ den Bedarf decken könnten, also etwa der günstigere Besuch von Mütter-Kind-Treffs, sollen diese vor individuell zugewiesenen Sozialarbeitern bevorzugt werden. Für junge Volljährige soll die allgemeine Jugendsozialarbeit, wie beispielsweise Ausbildungshilfen, sogar regelhaft Einzelhilfen ersetzen. Und Kleinstheime, in denen eine familienähnliche Lebenssituation besteht, sollen laut Hammer nicht mehr als Einrichtung zählen, sondern als schlechter finanzierte Pflegefamilie.«[1]
Kein Wunder, dass die Fachverbände sturm laufen, – weniger Geld, weniger Macht auch für sie. »Länder und Kommunen könnten dann nach Gutdünken Standards absenken, Angebote und Hilfen streichen. … „Die Träger der freien Jugendhilfe werden de facto rechtlos gestellt“«.
Wenn die Fachverbände an die Kandare der Evidenzbasierung von Jugendhilfe-Maßnahmen gelegt würden, hätte das durchaus Vorteile für die Kids – und auch für die Gesellschaft. Die Fachverbände haben in der Vergangenheit eine für sie vorteilhafte Lobby-Arbeit geleistet und ihre Rechtsbestände gesichert, so dass den vielgescholtenen Jugendämtern oft nicht einmal die Möglichkeit von fachlichen Vorgaben, geschweige denn effektiven Kontrollen offen steht. Die Sozialministerin aus Schleswig-Holstein hat sich eine blutige Nase geholt, als sie versuchte hier durchzugreifen.[2]
Fazit: Die Interessen von Kindern und Jugendlichen – und ihren Familien – werden wieder einmal Fremdinteressen untergeordnet. Politik ist die Kunst des Machbaren. Da bleibt für die Kids nur das Nachsehen.
[1] alle Zitate aus: http://www.taz.de/Neufassung-Kinder–und-Jugendgesetz/!5344434/
[2] Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, 24. Juni 2015, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/
2 comments