Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 3 von 4: Die Bewirtschaftung der Bedürftigkeit
Seid klug wie die Schlangen[1] … auch bei den Finanzen.
Am Beginn stand die Idee vom barmherzigen Samariter, der einfach nur half.[2] Er sah sich zuständig im Gegensatz zu den Amtspersonen und (Schrift-)gelehrten. Der von ihm bezahlte Wirt gehörte sozusagen schon zu einem rudimentären Hilfesystem. Und wenn man das ausbaut?
Dann kommt man in der Moderne zur Bewirtschaftung der Bedürftigkeit.
Das Stephansstift ist ein Beispiel für die Geschichte so mancher der heutigen Sozialkonzerne. Die Autorinnen haben in ihrer Studie die Geschichte des Stifts ausführlich beschrieben[3], allerdings sehr unkritisch. Zwar sind sie nur bedingt zu kritisieren. Bilanzen lesen zu können gehört m. W. nicht zu den Studieninhalten von Historikern. Da müssen Spezialisten ran. Aber man sollte seine Grenzen bewusst wahrnehmen und dann Spezialisten heranziehen.
Das habe ich getan, denn auch ich kann keine Bilanzen lesen. Udo Bürger[4] hat sich die Bilanzen des Stephansstifts angesehen und damit wesentlich zu diesem faktengestützten Narrativ vom unaufhaltsamen Aufstieg dieser Einrichtung beigetragen.
Doch einige Fragen tauchen auch dem Laien auf: Warum, zum Beispiel, ist den Autorinnen die Expansion vom Stephansstift von seinen Anfängen bis hin zur Größe der „Dachstiftung“[5] keine Frage wert gewesen? Sie kannten die Bedingungen der Gemeinnützigkeit. Sie sind steuerfrei und dürfen deswegen keine Gewinne erwirtschaften.
Den so naheliegenden Fragen soll hier ansatzweise nachgegangen werden.
Da die Software von „wordpress“ wie wild die Formatierungen wechselt, folgt hier, nach den ersten Fußnoten, wieder die PDF-Version.
Demnächst geht es weiter mit dem abschließenden Teil 4 von 4.
[1] Jesus Christus spricht: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16).
[2] Das war eine Idee. Sie funktionierte nur bei reichen Geldgebern als Absicherung für das Jenseits.
Beispiele:
„Ich, Nicolas Rolin, … im Interesse meines Seelenheils, danach strebend irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen, […] gründe ich, und vermache unwiderruflich der Stadt Beaune ein Hospital für die armen Kranken, mit einer Kapelle, zu Ehren Gottes und seiner glorreichen Mutter.“
Oder die Fuggerei: Für das Wohnrecht gilt noch heute, Gebete für die Stifterfamilie zu sprechen: „täglich einmal ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Stifterfamilie Fugger. https://de.wikipedia.org/wiki/Fuggerei
Abgesehen von solchen Beispielen sah die Realität meist anders aus, wenn es keine vertragliche Verpflichtung für die Versorgung von Bedürftigen gab.( https://de.wikipedia.org/wiki/Altenteil, https://www.proventus.de/blog/aktuelles/altersvorsorge-damals-und-heute.html
[3] Die Seitenanzeigen in diesem Teil beziehen sich auf die Studie. Sie sind auch in Teil 2 von 4 in diesem Blog zu finden: https://dierkschaefer.wordpress.com/2022/09/25/eine-jubeldenkschrift-zum-firmenjubilaum-das-stephansstift-hannover-teil-2-von-4/
[4] Name verändert. Ich beanspruche Quellenschutz.
[5] Vorab das Organigramm: https://www.dachstiftung-diakonie.de/fileadmin/user_upload/20210715_Dachstiftung_Diakonie_Organigramm.pdf
Was für ein Leseabenteuer!
Devianz als Schicksal? – Rezension
von Markus Löble1
„Dust in the wind
All we are is dust in the wind“
Rockgruppe Kansas (1977)
Dierk Schäfer, Theologe und Psychologe, ehemaliger Polizeipfarrer und Tagungsleiter der Evangelischen Akademie in Bad Boll, legt nun im Sommer 2021 mit „dem Schulz“ gleichzeitig „einen Schäfer“ vor. „Der Schulz“, das ist: Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Band 45 der Tübinger Schriften und Materialien zu Kriminologie (TÜKRIM)2
14 Jahre nach der verdienstvollen und prämiierten Heimkindertagungsreihe „Kinderkram“ der Evangelischen Akademie in Bad Boll 2007, die Dierk Schäfer als Tagungsleiter der Evangelischen Akademie organisiert und geleitet hat, liegt nun die kommentierte Ausgabe der autobiographischen Notizen „des Berufsverbrechers“ Dieter Schulz vor. Es ist das große Verdienst Dierk Schäfers, drangeblieben zu sein und trotz aller editorischer Rückschläge nun einen Rahmen für den schriftlichen Nachlass eines sehr bemerkenswerten Menschen – bemerkenswert wie wir alle (!) – geschaffen zu haben.
Was für ein Leseabenteuer! Viele versunkene Welten werden in diesem Band angesprochen und erscheinen sehr plastisch vor dem Auge der/s geneigten Leser*in. Dieter Schulz, geboren 1940 im ehemaligen Königsberg, erlebt als Kind Flucht und Vertreibung. Mutter Schulz flieht mit ihren Kleinkindern aus Ostpreußen, die Fluchterlebnisse werden sehr eindrücklich geschildert.
Dieter Schulz schrieb seine autobiographischen Notizen Jahrzehnte später in Haft. Er blickt auf eine Kindheit in Deutschland der 50er Jahre zurück. Kleine und große Fluchten werden ihn sein Leben lang von geographischen und emotionalen Nirgendwos in Heimen und später Haftanstalten zu immer weiteren Nirgendwos führen. Kindheit im Nachkriegsdeutschland heißt für ihn, meist keine Schule zu haben, dafür lernt er fließend Russisch und sich durchzuschlagen. Was das Leben pädagogisch versäumt oder anrichtet, bedeutet oft „lebenslang“ – für uns alle. Die blind machende „Hasskappe“ setzte sich Dieter Schulz schon als Kind und später immer wieder in seinem Leben auf. Heute kann Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie manches Mal positiv wirksam werden, viel mehr noch hätte damals moderne (Trauma-) Pädagogik in modernen Jugendhilfeeinrichtungen wirksam werden können. Es hat sich wirklich viel getan in den vergangenen Jahrzehnten. Auch dies ist ein Ergebnis der Lektüre.
Behutsam und kenntnisreich leitet Dierk Schäfer den/die Leser*in durch den Irrgarten der Notizen des Kriminellen Dieter Schulz. Es hätte immer auch anders kommen, anders ausgehen können. Dierk Schäfer ordnet und führt dort, wo es sein muss und schafft gerade dadurch Raum für seinen Schulz und seine Leser*innen. Raum für die vielen Welten eines wechselvollen Lebens in Ost- und Westdeutschland, in Kindheits-, Jugend- und später Erwachsenenwelten.
Natürlich wird beschönigt. Sehr kompetent und deshalb sehr hilfreich sind die Kommentare und Fußnoten des Kriminologen Dierk Schäfer, der er neben dem Psychologen und Theologen eben auch noch geworden ist. So ist „der Schulz“ eben auch „ein echter Schäfer“ geworden. Zwei Unbeugsame haben sich hier gefunden. Ein Buch, das auf dem Schnittpunkt dreier Berufe und Berufungen geschrieben wurde. Der Theologe, Psychologe und Kriminologe Schäfer führt hier zusammen, was zusammengehört. Eine im besten Sinne ganzheitliche Sicht auf einen Menschen und sein Leben, jedoch ganz ohne den Anspruch zu erheben, diesen dadurch zur Gänze zu erfassen. Wie sollte das in dieser kontingenten Welt schicksalhafter, zum Schicksal werdender Zufälle auch möglich sein?
So bleibt dies Buch wohltuend ohne Fazit, ohne Urteil, ohne Wertung und ist eine Fundgrube des Wissens, jederzeit staunend machend. Es lohnt, sich auf diese Lektüre einzulassen. Danach bleibt eigentlich nur eine Sache unverständlich. Warum wurden die autobiographischen Notizen des Dieter Schulz nicht wie geplant verfilmt oder konventionell verlegt?
Immerhin verdanken wir der Beharrlichkeit Dierk Schäfers nun einen überaus lesenswerten Band 45 der Tübinger kriminologischen Schriftreihe. Ein echter Geheimtipp für Jurist*innen, Kriminolog*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und – last, but not least – für alle Leser*innen, die sich dafür interessieren lassen, wie es einem erging, der 1940 in ein Kriegseuropa hineingeboren wurde, darin aufwuchs, sich immer wieder berappelte und bis zu seinem Tode 2019 versuchte, das Beste daraus und aus sich zu machen.
Dierk Schäfers Schulz liest sich unterhaltsam und pendelt immer wieder zwischen bodenloser Tragik und sehr lebendiger Komik. Erlebnisse von Grass’scher Drastik wechseln sich ab mit Schilderungen, z.B. eines Banküberfalls, die wie aus dem Drehbuch der guten alten Olsen-Bande anmuten. Der Tod eines Kardinals leuchtet in den enzyklopädisch kenntnisreichen Fußnoten ebenso auf wie „das Milieu“ rund um das hannoversche Steintorviertel. Wer mag da urteilen, wer den Stab brechen? Der Rezensent schließt zu diesem lebensprallen Buch mit Nietzsches Zarathustra: „War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!“
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Fußnoten
1 Dr. med. Markus Löble, FA für KJPP, Arzt für Naturheilkunde, Suchtmedizin, systemische Familientherapie (DGSF), forensische Begutachtung (DGKJP). Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Christophsbad, Göppingen
2 Dierk Schäfer: Devianz als Schicksal. Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie (TÜKRIM), Band 45, erschienen in: TOBIAS-lib-Universitätsbibliothek Tübingen, Juristische Fakultät, Institut für Kriminologie (2021). ISSN: 1612-4650; ISBN: 978-3-937368-90-0 (elektronische Version, Kostenfreier Download: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y) und 978-3- 937368-91-7 (Druckversion, 22,70 €, beim Institut für Kriminologie, z. Hd. Frau Maria Pessiu, Sand 7, 72076 Tübingen, @ maria.pessiu@uni-tuebingen.de )
Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz sieht aus wie ein Schelmenroman – ist aber Realität
Das Leben von Dieter Schulz, geboren 1941, seine Lebensumstände und seine „Karriere“ bilden den Kern dieser Publikation[1]. Schon der einleitende Nachruf kündet von einem außerordentlichen Leben. Ausgangspunkt ist seine Autobiographie, geschrieben während eines 10jährigen Knastaufenthaltes und nach Aufforderung fortgeführt bis in die Zeit seines körperlichen Verfalls. Dieses Leben ist spannend. Vergangenheiten werden lebendig:
- Das Kriegsende und die Nachkriegswirren bis 1949 in Ostpreußen, die Rote Armee und die Überlebensbedingungen der verbliebenen Deutschen. Schulz lernt in dieser Zeit Russisch, die Grundlage für die erfolgreichen Schiebergeschäfte des 10/11-jährigen (!) später in der DDR.
- Seine Heimkarriere begann eher zufällig am 17. Juni 1953. Doch was für eine Karriere, bestimmt durch die Unfähigkeit der Heimerziehung in der DDR und abenteuerliche Heim-Fluchten, spannend erzählt.
- Im Westen, vom Vater abgeschoben, muss er sich durchkämpfen, bekommt eine erstklassige Kellnerausbildung, doch der Balkonsturz des schwarzen Liebhabers seiner Frau bringt ihm die erste Zuchthausstrafe ein.
- Eher zufällig beginnt er mit akribisch geplantem Automatenbetrug, hat immer wieder Pech mit seinen Helfern, besonders mit seinen Frauen, – das auch fürderhin.
- Schließlich misslingt ihm – auch eher zufällig – der große Coup: Ein riesiges Drogengeschäft, das er mit selbstgedruckten „Blüten“ bezahlen und dann untertauchen will. Doch ein bewaffneter Banküberfall hat mörderische Folgen.
Schulz inszeniert sich gekonnt. Lange ist man geneigt, alles zu glauben. Doch sein Sohn Sascha fügte noch ganz andere und sehr überraschende Aspekte bei und korrigiert damit das saubere Bild vom Verbrecher aus unheilvollen Verhältnissen. Doch ein Kämpfer war Schulz sein Leben lang. Klein, aber oho. Ein Aufstehmännchen.
Dieses Leben fordert kriminologische Forschung geradezu heraus. Wie kommt es zu Devianz, wie pflanzt sie sich fort? Die Publikation steht in ehrwürdiger Tradition, denn schon der Oberamtmann von Sulz am Neckar, Jacob Georg Schäffer, (1745-1814) erkannte die sozialen Missstände als Quelle von Kriminalität und wollte die noch jungen Kinder der „Janoven“ in Pflegefamilien untergebracht wissen.
Dieter Schulz als Person ist eher bedeutungslos. Zwar beschreibt er sein kleines Leben in faszinierender Weise. Doch es hülfe alles nichts. August Gottlieb Meißner (1753-1807) schrieb ganz richtig: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“
Warum also ist Schulz nicht nur für Kriminologen interessant? Er entwirft beispielhaft, lehrreich und unterhaltsam ein Sittengemälde seiner Zeit. Zwar fragt er: „War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?“ Seine Antwort lautet aber: „Mein Leben sollte nicht unbedingt als Beispiel dienen, deswegen ist mein Leben lesenswert!“
[1] Man kann sie kostenfrei herunterladen. https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y
Die Druckversion (print-on-demand) kann bestellt werden beim Institut für Kriminologie der Eberhard Karls Universität Tübingen, Sand 7, 72076 Tübingen, 07071 / 29-72931, Mail: ifk@uni-tuebingen.de
50 Jahre Knast!
50 Jahre Knast!
[1. „50 Jahre? Wat hatter denn jemacht? Für Mord gibt’s doch nich so viel.“ – „Ach so, unverbesserlich: immer mal wieder. Banküberfall und so“

… und so wurde er, Ikarus[2], zum Fachmann bundesdeutscher Corrections-Bemühungen, jedenfalls in Santa Fu[3]. Er beschreibt dem Leser den Wandel des Strafvollzugs[4], wie er ihn in seinem Knast-Alltag erlebt hat bis in die erschreckenden Details. Schon im Prolog kommt er zu einem Resümee, das dem Strafvollzug ein verheerendes Zeugnis ausstellt: „Ich habe unter langen Haftzeiten, gerichtlichen Fehlentscheidungen und fortwährenden Strafübeln gelitten, jedoch im Grunde nichts gelernt.“
Beim Lesen überkam dem Rezensenten der Gedanke an die „Übeltäter“ Max und Moritz:
„In den Trichter schüttelt er die Bösewichter. Rickeracke! Rickeracke! geht die Mühle mit Geknacke“.
Der hier dargestellte Zuchthaus-Strafvollzug meint das Böse zu brechen, indem er die „Bösewichter“ zerbricht. Die „Rollkommandos“, die entgegen jedem Übermaßverbot einen renitenten Knacki in den Arrest werfen(!) sind Folterknechte. Da können nur gebrochene Existenzen herauskommen. „Was ich gelernt habe oder geglaubt habe, gelernt zu haben, taugte und taugt in der Regel nicht für das Leben außerhalb der Knastmauern.“
Neu sein dürften für die meisten Leser die Erfahrungen in der U-Haft: Sie sei schlimmer als der normale Strafvollzug[5]; mancher Häftling sei bereit, vorschnell ein „Geständnis“ abzulegen und auf Rechtsmittel zu verzichten, nur um von der U-Haft in den Regelvollzug zu kommen. Und das trotz Unschuldsvermutung bis zum Urteil! Schlimmer kann ein Urteil über diesen Teil unseres Justizsystems kaum ausfallen.
Ikarus, Jahrgang 1942, stürzte das erste Mal mit 22 Jahren ab und lernte die verschärften Strafbedingungen im Zuchthaus gründlich kennen. – Ach, wussten Sie was ein Hartlager ist? Man nimmt Ihnen zur Strafe die Matratze weg. – Ikarus veranschaulicht den Fortschritt vom Zuchthaus zum Gefängnis[6] bildhaft mit dem Klopapierangebot: Zunächst gab es Zeitungspapier, dann unbedruckte Druckereiabfälle und schließlich handelsübliches Klopapier.
In Santa Fu war eine Bambule, ein Aufstand,[7] Auslöser für wesentliche Veränderungen: [8] Häftlinge bekamen nicht nur Mitspracherecht, sondern auch „Freiheiten in der Unfreiheit“, bei denen sich der Leser fragen dürfte, warum ein Teil dieser Freiheiten nicht schon vorher und freiwillig eingeräumt worden war, denn sie gefährden den Vollzug nicht, sondern sind Schikanen gegen die Menschenwürde.
Aber als Ikarus 1982 wieder abstürzte (warum, schreibt er nicht), kannte er seine „Mutteranstalt“ nicht wieder. Die Zellentüren hatten jetzt Vorhängeschlösser[9] zum Schutz vor Diebstahl unter den Mitgefangenen. Solidarität gab es nicht mehr. Später, nach einem Mordfall[10], kamen auch Schlösser auf der Innenseite hinzu. Auch die Beamten meldeten sich durch Klopfen an. Ikarus nutzte die Freiheiten und richtete sich in seiner „Wohnwabe“[11] von 9,5 qm ein. Sie „schloss mich aus vom realen Leben, sie bot zugleich Schutz vor dem Feindlichen und vermittelte mir ein oberflächliches, ein andermal ein tieferes Gefühl der Geborgenheit: Höhleneffekt.“ Er war angekommen.
Im Kapitel „Graue Nebel“ spricht Ikarus distanzierend von sich in der dritten Person. „Die Strafvollstreckungskammer hatte gerade seinen Reststrafenantrag abgebügelt. Einige Zeit später gab ihm seine Lebenspartnerin ihr ‚Valet‘. Kurz und bündig teilte sie ihm in einem Brief mit: ‚Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Vergiss mich.‘ Ein Karateschlag gegen seine ohnehin wunde Seele. Er knickte ein.“
Trotz der neuen Freiheiten gab es eine zweite Babule.[12] Die Befriedung des Aufstandes geschah unter Einbeziehung von knastälteren Insassen. Ikarus scheint beteiligt gewesen zu sein. Seine Beschreibung der Folgezeit offenbart einen „gereiften“ Menschen, in der Lage, Argumente abzuwiegen. Er berichtet auch über die nach Delikten gestaffelte Hierarchie und über die neue Nationalitätenmischung mit den Folgeproblemen. Wichtiger aber ist seine nächste Bruchlandung: 10 Jahre wegen bewaffneten Bankraubs plus 13 Jahre Widerruf einer Bewährungsreststrafe. Es war die vierte Verurteilung für das gleiche Delikt. Doch Ikarus hatte ja schon zu Beginn geschrieben, im Knast nichts hinzugelernt zu haben. Bankraub konnte er immer noch nicht, – aber es auch nicht lassen. Immerhin hatte er sozusagen ausgesorgt über das 80ste Lebensjahr hinaus. Nach sieben Jahren „Schreibkrieg und Gesprächskämpfen“ … „am Ende der Strecke, im März 2009 stand die Verlegung in eine psychiatrische Einrichtung.“
War das wieder ein Absturz, Ikarus? Er hat einen Suizidversuch hinter sich, ist nun 67 Jahre alt und längst im Rentenalter. Rente? Ja, dreihundert Euro aus versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Die Arbeit im Knast zählt nicht dazu. Der Staat drückt sich auch heute noch um die Beiträge zur Rentenversicherung. Arbeitgeber, die solches tun, machen sich strafbar. Der Staat nicht und bleibt ungeschoren, ein Skandal. Aber politischer Einsatz für Knackies wird vom Wähler eher abgestraft.
Ikarus bleibt in Hamburg und hat nun die Gelegenheit, den geschlossenen Strafvollzug von Santa Fu mit dem sozialtherapeutischen Vollzug[13] zu vergleichen. Die Freiheiten in Santa Fu waren durch den Druck konservativer punitiver Kreise („Schwarze Konterrevolution“) weitgehend einkassiert worden.[14] Ganz anders die Sozialtherapeutische Anstalt. So wie Ikarus sie beschreibt, kommt der Leser zur Überzeugung: So, genau so sollte Justizvollzug sein: Die Vorbereitung auf die Anforderungen der Freiheit „draußen“ stehen im Mittelpunkt.
Wer so lange im Strafsystem steckte, darf als Fachmann gelten. Er schließt darum mit einigen Thesen, die hier nur plakativ wiedergegeben seien: 1. Strafvollzug „bessert“ nicht, mag er auch noch so intensiv auf Härte angelegt sein. 2. Strafvollzug macht krank … je länger er dauert. 3. Der geschlossene Strafvollzug macht über die Jahre lebensfremd …und sollte die Ausnahme bilden.
Resümee: Ein locker geschriebenes, erlebnisgesättigtes Fachbuch aus langjähriger Erfahrung eines Insassen. Lesenswert für alle, die irgendwie mit Knast zu tun haben, sei es beruflich oder zur Vorbereitung. Merkwürdig: Ikarus umschifft weitgehend das „Thema Nummer eins“[15]. Das ist nicht glaubwürdig.
Was fehlt noch? Ein knapper Lebenslauf von Ikarus. Herkunft, Schule, Lehre, chronologischer Überblick über die Straftaten und Strafbemessung, Daten der jeweiligen Freilassung, Eheschließung(en). Was macht Ikarus heute? Ein paar Fotos der Anstalt wären nett gewesen.
Bildmaterial sei hier nachgereicht, ist allerdings aktuell und nicht aus der Zuchthauszeit.[16]
Rezensent: Dierk Schäfer, Dipl.-Psychologe&Kriminologe, Theologe
[1] Foto/Ausschnitt: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/28783322134/in/album-72157668678484066/
[2] So nennt er sich: Er sei wie Ikarus beim Höhenflug abgestürzt. Doch beim ihm sind es mehrere Abstürze. Ich nenne ihn im Folgenden auch Ikarus, weil ich nicht weiß, ob der Autorenname echt ist.
[3] Der Begriff „Santa Fu“ ist schon vor den 1970er Jahren entstanden und kommt von der alten Bezeichnung „Strafanstalt Fuhlsbüttel“, die im Verwaltungsdeutsch „St. Fu“ abgekürzt wurde. https://de.wikipedia.org/wiki/Justizvollzugsanstalt_Fuhlsb%C3%BCttel Viele Fotos und weiterführende links unter https://www.google.com/search?q=Santa+Fu&client=firefox-b-d&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwiqhtXhwIfwAhWfwQIHHUkMCfUQ_AUoAnoECAEQBA&biw=960&bih=434
[4] Wolfgang Krüger, 50 Jahre Strafvollzug, Hamburger Gefängnisalltag zwischen 1960 und 2010 aus Sicht eines Gefangenen, 2021, Kriminologie und Kriminalsoziologie, Band 22, 134 Seiten, gebunden, 29,90 €, ISBN 978-3-8309-4371-6. Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dem hier besprochenen Buch entnommen.
An dieser Stelle will ich dem Verlag bzw. seinem Lektor ein Lob aussprechen. Denn hier weiß man noch, was eine Fußnote ist und wo sie hingehört, nämlich zur Erleichterung des Lesers nach unten, an den „Fuß“ der Seite. Es ist hier aber nicht der Platz für einen Exkurs zu den üblich gewordenen gestaffelten Unverschämtheiten, Fußnoten leserunfreundlich an das Ende eines Textes zu verbannen.
[5] „Die Untersuchungshaft dient grundsätzlich nur der Sicherung des Strafverfahrens.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Untersuchungshaft_(Deutschland)
[6] In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Zuchthausstrafe im Rahmen der Großen Strafrechtsreform durch das Erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) zum 1. April 1970 abgeschafft. https://de.wikipedia.org/wiki/Zuchthaus
[7] – Langsam am Verblöden, 02.01.1972, 13 https://www.spiegel.de/politik/langsam-am-verbloeden-a-ff206415-0002-0001-0000-000043376343
– Ruhe in Santa Fu, 11. August 1972 https://www.zeit.de/1972/32/ruhe-in-santa-fu/komplettansicht
[8] Aus dieser Zeit stammen auch meine Erfahrungen mit gelockerten Knastbedingungen – als Besucher.
[9] Die Verwaltung hatte den Zweitschlüssel und damit weiterhin jederzeit Zutritt.
[10] https://www.spiegel.de/panorama/die-hoelle-hinter-gittern-a-53259ad3-0002-0001-0000-000013683647
[11] Durchgängig schreibt er vom Wohnklo.
[12] https://www.spiegel.de/panorama/die-hoelle-hinter-gittern-a-53259ad3-0002-0001-0000-000013683647
[13] Sozialtherapeutische Anstalt http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=S&KL_ID=215
https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialtherapeutische_Anstalt
https://www.hamburg.de/bjv/justizvollzugsanstalten/2231596/sozialtherapeutische-anstalt/
[14] Genannt wird der Senator Roger Kusch. Zu dieser Person mehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Kusch
[15] „Am Arbeitsplatz, in der Freistunde, überall ist Thema Nummer zwei Erfahrungsaustausch! Thema Nummer eins dürfte wohl jedem bekannt sein. Da wird angegeben, dass die Nähte krachen.“ Aus: Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Dierk Schäfer, Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Mit der Autobiographie von Dieter Schulz, Kapitel 32: Dieter zu Gast im „Hotel zur silbernen Kugel“
[16] Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 1: Drogen
https://www.youtube.com/watch?v=WJn9e4dMoRE
Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 2: Essen
https://www.youtube.com/watch?v=zAGYvNUl3Y4
Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 3: Gewalt
Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 4: Tagesablauf
Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 5: Liebe
und die andere Seite:
Alltag in Santa Fu – Beamte hinter Gittern – Teil 1
Alltag in Santa Fu – Beamte hinter Gittern – Teil 2
Kindesmissbrauch[1] – Das Suchtverhalten der Täter
Kindesmissbrauch ist endemisch
Kindesmissbrauch ist endemisch, ist tief verwurzelt in der Gesellschaft. Vermutlich war es schon immer so und wurde nur nicht beachtet. Zille beschreibt in seinen „Hurengesprächen“ die „Lutsch-Lise“, und Kindesmissbrauch dürfte sich wohl nicht nur auf sein „Milljöh“ beschränkt haben. Die klerikale Pädokriminalität, die Missbräuche in Familien, Schulen, Sportvereinen usw. haben uns das Ausmaß dieser „Normalität“ vor Augen geführt. Ich wills nicht weiter ausführen.[2]
Was ist neu?
Was ist neu? Die sich in der letzten Zeit häufenden Meldungen über Kindesmissbrauch zeigen uns über die Taten hinaus einen Tauschmarkt für Bilder und Filme von missbrauchten und sadistisch gequälten Kindern. Was früher eher ein Verbrechen in Einsamkeit und Verschwiegenheit war, hat durch die digitale Aufzeichnung und die speziellen Verbreitungskanäle im Internet Marktwert bekommen. Das Internet bietet die Möglichkeit Interessenten zu finden. Der Begriff „Marktwert“ ist irreführend. Es geht nicht so sehr um Geld. „Angesichts der Mengen, die in den Tauschbörsen verbreitet werden, ist der Erwerb von Kinderpornografie im World Wide Web gegen Entgelt eher sinnlos.“ [4]
Eher im Gegenteil. Die Täter erbringen einen hohen Aufwand, wie es gerade der Fall von Münster zeigt.
Der Aufwand besteht zunächst einmal im Arrangement der bloßen Tat. Auch wenn Kriminelle ganz allgemein eher davon ausgehen, nicht erwischt zu werden, so sind Kinder ein Unsicherheitsfaktor für den Täter. Er muss entweder ein Vertrauensverhältnis aufbauen („Das bleibt unser Geheimnis!“) oder eine total einschüchternde Drohkulisse. Außerdem könnten die Kinder unvorhergesehen so laut schreien, dass die Tat entdeckt werden könnte. Hinzu kommt der logistische Aufwand für die Tat und ihre Tarnung. Es hat sich zwar gezeigt, dass die Nachbarschaft und die Personen im „amtlichen“ Umfeld einschließlich Kita, Kindergarten und Schule oft „blind“ sind und/oder nicht kooperieren, so ist die Fehleranfälligkeit dieser Gruppen und Instanzen dennoch nicht kalkulierbar.
Der nächste Aufwand ist mit der Dokumentation der Taten durch die Täter gegeben und mit ihrem Einsatz in den Winkeln des Internets. Die Täter brauchen das Equipment und das Know-how der abgesicherten Verbindung zu anderen Tätern. Der Fall in Münster zeigt den technischen Aufwand für die professionell-verschlüsselte Speicherung der Daten.
Das Problem stellt sich bereits bei der bloßen Speicherung von Kinderpornographie, also auch ohne direkten eigenen Missbrauch. Wer speichert macht sich strafbar und in weiterem Sinne angreifbar. Das musste der Abgeordnete Edathy erfahren, obwohl er Photos gekauft und heruntergeladen hatte, die sich letztlich nicht als strafbar herausstellten. Doch der Verdacht hatte gereicht, um seine politische wie bürgerliche Reputation zu zerstören.[5]+[6]
Werden weitere Personen über das Netz kontaktiert, die anreisen, um sich real an den Kindern und ihren Qualen zu verlustieren, stellen sie die nächste Stufe möglicher Schwierigkeiten dar.
Der ganze Aufwand ist für Außenstehende zunächst ein Rätsel. Warum machen die Täter das, wenn kein Gewinnstreben im Vordergrund steht?
Verhaltenssucht
Wenn keine logischen Gründe erkennbar sind, wird man nach psychologischen suchen müssen. Einen Schlüssel zum Verstehen sehe ich darin, dass der Hauptzweck der Verwertung der Aufzeichnungen im Zugang zu einschlägigen Bildertausch-Netzen liegt. Neben die Erstmotivation der Lust am sexuellen Missbrauch von Kindern tritt also der Zusatzgewinn: Zugang zu ähnlichen, besser noch heftigeren Bildern und Filmen oder gar der Besuch bei anderen Tätern mit anderen Kindern.[7]
Hier ist ein Bogen zu schlagen zu den Auswirkungen des exzessiven Pornokonsums, über die durch das häufigere Vorkommen Erkenntnisse vorliegen.
»In den letzten Jahren hat die Sucht nach Pornographie schwunghaft zugenommen und stellt Therapeuten wie Mediziner vor eine gleichsam hohe Herausforderung. Männer jeden Alters erleben plötzlich gravierende Nebenwirkungen des dauerhaften Konsums kostenlos abrufbarer Pornographie im Internet. … Viele zwanghafte Nutzer von Internet-Pornographie laden fünf oder mehrere Videos gleichzeitig in verschiedenen Browser-Fenstern oder auch Tabs und klicken sich dann in Windeseile durch die verschiedenen Szenen.«[8] »“Mit einem jährlichen Umsatz von 800 Millionen Euro ist Deutschland weltweit der zweitgrößte Pornomarkt“, schreibt die Sozialwissenschaftlerin Esther Stahl. Ein fatales Paradies für Abhängige.« … »Weil die Droge immer und überall zu haben ist, steigt auch die Zahl der Süchtigen. „Während sich früher Personen Pornographie in einer Videothek besorgen mussten, ist die Verfügbarkeit über das Internet viel größer, einfacher und subjektiv anonymer. Dies trägt zur Steigerung des Anteils von Betroffenen bei“« … »So wie es aussieht ist aber die Pornosucht für die Wissenschaft nichts Besonderes. Brand schreibt, bildgebende Verfahren hätten gezeigt, dass die Pornosucht (Brand nennt sie Cybersexsucht) im Prinzip genauso funktioniert wie Substanzabhängigkeiten oder Verhaltenssüchte.« … »„Der Süchtige kann sich nie sicher sein, ob nicht das nächste Video noch besser zu seinen sexuellen Präferenzen passt als das, das er gerade anschaut“, sagt Brand.« … »So entgleitet den Betroffenen die Kontrolle viel schneller. Das ist wohl ein wesentlicher Mechanismus der Pornosucht.«[9]
Das passt zu meinen Erfahrungen. Wohl die meisten (männlichen) Leser dürften schon einmal auf solchen Pornoseiten gewesen sein. Soweit Sie sich auf die Szenen eingelassen haben: Eigentlich ist die meist recht monotone Vorführung des alten Steckspiels langweilig, und doch kommt man nicht gleich davon los. Das ist noch nicht schon Sucht, kann aber sehr leicht eine werden.
Was für Pornographie ohne Kinderbeteiligung gilt, für die man keinerlei Aufwand treiben muss, gilt umso mehr für Kinderpornographie.
Die Gier wächst, weil man glaubt, es gebe noch so viel und noch viel befriedigenderes zu entdecken: »Rund 600 Terabyte Videomaterial haben die Ermittler auf dem Server des IT-Technikers gesichert. Je nach technischem Endgerät bräuchte ein Mensch 30 Jahre, um das gesamte Material zu sichten.«[10] Das Suchtmittel ist also in unermesslichem Umfang immer zur Hand – wenn man in einem solchen Tausch-Club Zutritt erhalten hat – durch Lieferung weiteren „Materials“. Ich habe noch in Erinnerung, wie uns ein Staatsanwalt mit Schwerpunkt Kinderpornographie auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll, nicht die Photos, aber die Ordnerstruktur auf dem PC eines Täters vorführte: sorgfältig geführte Dateien-Verzeichnisse zeugten von pingeligster Sammelleidenschaft.[11] Für mich ist der Suchtcharakter (Verhaltenssucht) unverkennbar, er wird allerdings im ICD[12] nicht erfasst. Die Studie von Kutscher et al.[13] hebt zwar hervor, dass Kindesmissbraucher mit der Diagnose einer Pädophilie besondere Beachtung benötigen insbesondere wegen der frühen Manifestation und der lebenslangen Persistenz ihrer sexuellen Ausrichtung auf Kinder, geht aber auf eine mögliche Suchtproblematik nicht ein. Nimmt man diese jedoch an, verschärft sich das Problem sadistischen Kindesmissbrauch und seiner allzeitigen Präsenz in den Tauschbörsen.
Nach meinen Schlussfolgerungen haben wir es mit Abhängigen zu tun, die im Unterschied zu anderen Süchtigen, gemeingefährlich sind. Andere Süchtige schädigen zunächst einmal sich selbst, und ihre Angehörigen leiden mit, fungieren oft als Co-Abhängige, indem sie ihrem „Suchti“ den Rücken freihalten. Das ist hier grundlegend anders. Die Kinderporno-Sucht speist sich durch Opfer, umso schärfer, wenn Sadismus dabei ist.
Viele rufen derzeit nach Strafverschärfung, manche entwickeln dabei nicht ganz unverständliche Ideen, die ihrerseits in Richtung Sadismus gehen. Doch selbst die Rufe nach ziviler Strafverschärfung, einer generellen Hochstufung von Kinderpornographie zum Verbrechenstatbestand sind in manchen Fällen u.U. nicht angemessen. Die Optik jedenfalls ist unbefriedigend, solange Herstellung und Vertrieb von Kinderpornographie nur als Vergehen eingestuft werden. Wir brauchen angemessene Lösungen. Welche könnten das sein?
Strafvollzug?
Strafvollzug allein erscheint der Problemlage nicht angemessen, auch wenn den Tätern dort vielleicht zum ersten Mal ihre Stellung drastisch bewusst gemacht würde.[14]
Für Straftaten unter Drogeneinfluss gibt es das Instrument des Maßregelvollzugs für psychisch Kranke. »Im Maßregelvollzug … werden nach § 63 und § 64 des deutschen Strafgesetzbuches unter bestimmten Umständen psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter entsprechend den Maßregeln der Besserung und Sicherung untergebracht.« Es geht um den zweigliedrigen Umgang mit schweren Delikten, Strafe für Tatschuld, Sicherung und Besserung für Schuldunfähigkeit.[15]
»Die Unterbringung im Maßregelvollzug erfordert das Vorliegen einer schweren Straftat, einer chronischen psychischen Erkrankung oder Suchterkrankung, eine deutliche Verbindung zwischen beidem und eine weiterbestehende Gefährlichkeit.«[16]
Diese Bedingungen sind für Kinderpornographie-Suchtkranke gegeben. Es bleibt zu entscheiden, wann und unter welchen Umständen sogenannte Lockerungen des Maßregelvollzugs möglich erscheinen und welche Bedingungen für eine gegebenenfalls erforderliche Überführung in die Sicherheitsverwahrung gelten sollen. Jedenfalls sollte bei einer Verurteilung prophylaktisch die besondere Gefährlichkeit des Täters hervorgehoben werden.
Die Polizei stößt an Grenzen
Das Internet bringt Anbieter und Kunden für die merkwürdigsten und abwegigsten Interessen zusammen.[17] Es finden sich nicht nur Anbieter und Kunden[18], zusammen kommen, wie wir aus den jüngsten Fällen wissen, auch die Neigungen der Täter und die Möglichkeit, damit Zugang zu einschlägigen Netzwerken zu gewinnen. Die Polizei ist in diesem Deliktbereich oft erst durch Zufallsfunde aufmerksam geworden[19] und sie stößt an Grenzen – in Münster an technische, weil die Profi-Verschlüsselung erst zu knacken ist, aber auch an psychische. Denn das Material, was sie finden, verstört auch erfahrene Kriminalisten.[20] Die Zeugnisse der Verbrechen an den Kindern stellen sich als Überforderung derer dar, die solche Beweise sichten, beurteilen und protokollieren müssen. Ich will das nicht näher ausführen, nur ein Beispiel aus der klassischen Tatortarbeit bei Gewaltverbrechen: „Wenn meine Frau wüsste, was diese Hände anfassen müssen,“ der Kriminalbeamte hielt mir seine Hände vors Gesicht, „dann dürfte ich sie nicht mehr anfassen.“[21] Was wird aus den Menschen, die über Tage hinweg mit der Sichtung total morbiden Materials beschäftigt sind. In den „Sozialen Medien“ wird nicht ohne Grund auf die sicher schlimmeren „echten“ Erlebnisse der Kinder hingewiesen und Thomas Fischer spießt unter dem Titel „Das Leiden der anderen“[22] wie immer spitz und sachkundig die öffentliche Klage über die Belastung derer auf, die sich mit dem ganzen „Dreck“ beschäftigen müssen. Dennoch: Wie so oft laufen gesellschaftliche Fehlentwicklungen zunächst bei der Polizei auf – und sie ist nicht darauf vorbereitet.
Was also tun? Das Internet werden wir nicht abschaffen können, auch nicht wollen. Doch auch dort muss die Polizei „Streife fahren“ dürfen, besonders im „Darknet“[23]. Die Netzbetreiber müssen verpflichtet werden, Auffälligkeiten nachzugehen und gegebenenfalls Anzeige zu erstatten. Das heißt, die Betreiber werden, so problematisch das auch ist, Filter einsetzen müssen.[24] Der Gesetzgeber muss die Möglichkeiten dafür schaffen und zugleich einem Machtmissbrauch vorbeugen. Das ist leichter gefordert als umgesetzt.
Kinderrechte
Schließlich, aber nicht zuletzt, müssen wir die Kinder ertüchtigen. In den meisten Fällen werden die Kinder im sozialen Nahraum missbraucht, meist in gestörten, familiären Zusammenhängen.[25]+[26] Das bedingt die Schaffung eines Schutznetzes, dessen Übersicht wohl beim Jugendamt liegen müsste.[27] Das Wohlergehen von Kindern muss abgesichert werden, indem von Geburt an den Eltern auferlegt wird, die Frühuntersuchungen wahrzunehmen, was auch kontrolliert werden muss.[28] Jedes Kind bis zum Alter von etwa 14 Jahren sollte einmal jährlich unbekleidet von einem Arzt in Augenschein genommen und kindangemessen nach seinem Wohlergehen befragt werden,[29] dazu gehört die Meldepflicht ans Jugendamt bei Auffälligkeiten. Wenn Kinder nicht auf dem „Radar“ von Kitas und Kindergärten, später Schulen auftauchen, muss dem nachgegangen werden. Das heißt, dass die Jugendämter ab Geburt eines Kindes eine präventiv-aktive Rolle übernehmen müssen, um zu sehen, ob und wie sie in Elternrechte eingreifen müssen.[30]
Zur Ertüchtigung der Kinder gehört auch ihre Information. Ein grob missbrauchtes Kind wird merken, dass es gequält wird.[31] Doch die Dinge beginnen früher. Wir werden uns daran gewöhnen müssen[32], dass Kinder sehr früh über Sexualität und ihre Bedeutung für die Erwachsenen aufgeklärt werden, damit sie sehr früh wissen, was die Erwachsenen dürfen und was nicht. Leider ist die sexuelle Früherziehung unter die Räder von Ideologen gekommen, die meinten, Kinder müssten lernen, dass es neben den herkömmlichen Formen des Familienlebens auch noch andere gibt – und dabei übergehen, was die statistische Normalität ist. Die Kinder müssen also in den Einrichtungen, die sie besuchen, einschließlich der Grundschule, jährlich einmal in kindangemessener Weise über ihre Rechte und deren Gefährdung informiert werden.
Um die Kinderrechte ist es bei uns allerdings nicht gut bestellt. Der Widerstand gegen ihre Aufnahme ins Grundgesetz ist massiv. Familienverbände wehren sich mit Erfolg. Sie befürchten Eingriffe in ihr Grundrecht; Ängste, die zu berücksichtigen sind. Dennoch sollten Kinder zu – begrenzt – eigenständigen Rechtssubjekten werden, um einen wirksamen, einen wirksameren Kinderschutz als derzeit zu ermöglichen.
Ich habe mich seit mehr als 20 Jahren für eine neue Politik in Kinder- und Jugendlichen-Angelegenheiten eingesetzt[33] – bisher vergeblich. Die Maßnahmen für Kinder sind wirkungslos. So gibt es immer noch keine Fachaufsicht für Jugendämter, deren Versäumnisse in den letzten Missbrauchsfällen überdeutlich geworden sind.[34] Jugendhilfe-Maßnahmen sind oft nicht evidenz-, also erfolgsbasiert und den Jugendämtern sind von den Wohlfahrtsverbänden rechtlich die Hände gebunden.[35]
Hätten Kinder ihren Platz im Grundgesetz, wäre ihre Rechtsposition stärker.
Es gibt durchaus eine Reihe von ehrenamtlichen Aktivitäten für die Belange von Kindern (Personen, informelle Zusammenschlüsse, Vereine), ich habe sie auf meinen Tagungen erlebt, doch ihnen fehlt die Durchsetzungskraft. Darum brauchen Kinder einen Platz im Grundgesetz.
Aber haben wir nicht eine Kinderkommission im Bundestag? Ja, aber die ist – traurig genug – nicht durchsetzungsfähig. „Wie sieht die Arbeit der Kommission praktisch aus?[36] Die Parteien im Bundestag schicken ihre Vertreter zwar dorthin, doch die Empfehlungen der KiKo verpuffen weithin.
Für das spezielle Thema Kindesmissbrauch haben wir noch den UBSKM, den „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“[37]. Das Amt ist sehr breit aufgestellt und „Johannes-Wilhelm Rörig [wurde] zum 1. April 2019 für die Dauer von weiteren fünf Jahren erneut zum Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs berufen.“[38] Seine Homepage ist sehr professionell gemacht, und er twittert viel.[39] Es gibt auch Hinweise auf einige Tätigkeiten des UBSKM. Er kündigt Erfolge an, über die Insider sich allerding wundern.[40]+[41] Mir fehlen grundlegende Informationen: Welche Kompetenzen hat er? Etwa wie ein Untersuchungsrichter mit Zugriff auf die Akten in kirchlichen Beständen, die über klerikale Pädokriminalität Auskunft geben könnten? Ich schrieb an seine Pressesprecherin: „Wenn die Rörigkommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit all den erforderlichen Vollmachten durchsetzt, wenn diese Untersuchungen die Staatsanwaltschaften nötigen, die einschlägigen Archivakten in Jugendämtern, Kirchen, Klöstern und Jugendhilfeeinrichtungen zu beschlagnahmen, und das unabhängig von der Verjährungsfrage, dann dürfte sie auch Unterstützung von den Opfern erwarten.“[42] Doch der UBSKM antwortete nicht.
Für Kinderrechte und Kinderschutz gibt es leider immer noch viel zu tun und Kinder haben keine Lobby,[43] stehen nicht im Grundgesetz, haben kein Wahlrecht – immerhin liefern sie in ihrer Rolle als Opfer zuweilen Sensationsthemen; die Medien und wir Konsumenten wissen es zu schätzen, bevor wir zu Tagesordnung übergehen.
Fußnoten
[1] Es geht in diesem Artikel um die Kombination von gewalttätigem Kindesmissbrauch mit Internetnutzung. Das Phänomen des Cyber-grooming wird umfassend dargestellt bei Adolf Gallwitz, Pädokriminalität – Kinder und Jugendliche als Opfer im Internet https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/id/_dp200902/$file/DeuPol0902.pdf Seiten 6-17. Dieser Artikel ist schon älter, aber nicht überholt.
[2] Eine Übersicht über das Problemfeld bietet die Polizei von NRW unter: https://polizei.nrw/kinderpornografie
[3] Photo – Dierk Schäfer: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2515968357/in/album-72157605161869324/
[4] Der finanzielle Aspekt wird leicht überschätzt. Ein „Milliardenmarkt“ für Kinderpornografie ist nicht erkennbar. Quelle: Hüneke, A. (2012). Das Internet – ein Milliardenmarkt für Kinderpornografie? Abgerufen von https://www.uni-hannover.de/fileadmin/luh/content/alumni/alumnicampus/AC_8_2012/i34-36__hueneke.pdf Zitiert nach: https://polizei.nrw/artikel/studien-zum-thema-kinderpornografie
[5] Es gehört nicht zum engeren Thema, doch der Hintergrund sollte nicht in Vergessenheit geraten: Es wurde mit dem Verfahren gegen Edathy auch der unbequeme Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses gezielt ausgeschaltet: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-06/sebastian-edathy-nsu-kiyaks-deutschstunde + https://de.wikipedia.org/wiki/Edathy-Aff%C3%A4re beide links: Dienstag, 16. Juni 2020
[6] Ohne politischen Hintergrund war ein Vorfall in meinem Umkreis: Ein Kollege (kein Pfarrer!) hatte mit solchen Photos für seinen Dienst-PC auch Malware ins ganze System heruntergeladen. Das fiel auf. Man entdeckte die Dateien auf seinem PC. Ob er freiwillig ging oder gekündigt wurde, weiß ich nicht. Ich war Datenschutzbeauftragter unserer Einrichtung und richtete eine humorvoll gehaltene Warnung an unsere Beschäftigten, damals (2002) war der ernsthafte Charakter dieser Dinge noch nicht so geläufig:
[7] Ohnehin beschränkt sich der Missbrauch meist nicht nur auf ein Kind – und oft auch nicht auf nur einen Täter: Gruppensex mit Kindern.
[8] https://www.hypnovita.de/hypnose/therapie/sexualstoerungen/pornosucht-nebenwirkungen-loesungen-bei-der-abhaengigkeit-von-pornographie, (Mittwoch, 10. Juni 2020)
[9] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Wenn-der-Sex-Klick-zum-Zwang-wird-286443.html (Samstag, 13. Juni 2020)
[10] Zitiert nach: https://www.merkur.de/welt/kinderpornografie-muenster-razzia-missbrauch-durchsuchung-kindesmissbrauch-erzieherin-verdacht-nrw-zr-13789992.html (Samstag, 13. Juni 2020)
[11] Da die Photos einzeln auf ihre gerichtliche Brauchbarkeit geprüft werden müssen, behalf man sich bei der Vielzahl der Bilder, sie zur Vorabsichtung in die Bereitschaftspolizei zu geben, also an junge Beamte, deren sexuelle Entwicklung oft noch nicht abgeschlossen ist.
[12] https://www.icd-code.de/icd/code/F65.-.html
[13] Tanja Kutscher · Janina Neutze · Klaus M. Beier · Klaus-Peter Dahle, Vergleich zweier diagnostischer Ansätze zur Erfassung der Sexualfantasien pädophiler Männer file:///C:/Users/Dierk%20User/Documents/5%20kriminologie/Kutscheretal_2011_VergleichzweierdiagnsotischerAnsatzezurErfassungderSexualfantasienpadophilerManner.pdf
[14] Gefangene, die sogenannte Sittlichkeitsdelikte begangen haben, werden abfällig „Sittiche“ genannt – sie gelten bei den Mitgefangenen als Abschaum. … „Was ist?“, fragt der Häftling. „Bist du taub? Oder ein Kinderficker?“ „Nein“, sagt Karl. „Es ging nur um Bilder, einen Link und eine Website.“ Im Dienstzimmer hören die Beamten Schreie. Sie eilen heran. „Hier ist ein Kifi“, ruft einer der Häftlinge in den Flur. „Kinderficker!“ https://correctiv.org/recherchen/justiz/artikel/2017/08/16/folge-1-die-ohnmacht-des-anfangs/ t
[15] Ein ausführlicher gut lesbarer Artikel, der auch die Probleme des Maßregelvollzugs beschreibt: https://de.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%9Fregelvollzug .Weitere Informationen: https://www.forensik.de/ueber-uns/fachausschuss-forensik.html
[16] http://www.bdk-deutschland.de/arbeitskreise/ak-forensik/665-grundsaetzliches-zur-massregelvollzugsbehandlung
[17] Dort findet auch der Menschenfresser sein williges Opfer: »Ein „deutscher Computertechniker … wurde als „Kannibale von Rotenburg“ bekannt, weil er Teile der Leiche seines Opfers gegessen hatte.« https://de.wikipedia.org/wiki/Armin_Meiwes
[18] https://polizei.nrw/artikel/taeter-und-strafbarkeit-von-kinder-und-jugendpornografie
[19] Denen sie dann gezielt nachgehen kann: https://polizei.nrw/artikel/kinderpornografie-ermittlungen
[20] Münsters Polizeipräsident Rainer Furth: „Wer macht sich eigentlich dabei Gedanken über das Leid, das Elend, das Martyrium der Kinder – begangen von Tätern, Vätern, zum Teil von Müttern der Kinder? Und wer macht sich Gedanken über die Männer und die Frauen bei der Polizei, die Hunderte von Terabytes auswerten müssen von diesem abscheulichen Dreck?“ https://www.merkur.de/welt/kinderpornografie-muenster-razzia-missbrauch-durchsuchung-kindesmissbrauch-erzieherin-verdacht-nrw-zr-13789992.html Freitag, 12. Juni 2020
[21] Eigenbericht aus meiner Arbeit als Polizeipfarrer.
[22] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kinderpornografie-und-strafrecht-das-leiden-der-anderen-kolumne-a-28d03ffc-c7b0-4914-83cb-be0f2003bbd1 Samstag, 13. Juni 2020
[23] https://polizei.nrw/artikel/erfolge-im-kampf-gegen-darknet-plattformen »Die bereits im März 2018 ausgehobene Plattform „Welcome to Video“ funktionierte mit Hilfe anonymer Bitcoin-Zahlungen. Ermittler hätten rund acht Terabyte Daten sichergestellt, darunter rund 250.000 kinderpornografische Videos, hieß es weiter. Fast die Hälfte der Bilder und Videos waren vorher nirgends sonst im Internet aufgetaucht. Bei der Plattform seien rund eine Million Bitcoin-Adressen registriert gewesen, was darauf hindeute, dass es bis zu eine Million Nutzer gegeben haben könnte.« https://www.dw.com/de/gro%C3%9Fe-kinderporno-plattform-im-darknet-gestoppt/a-50861782
[24] Wir kennen die „no-nippels-policy“ von facebook https://noizz.de/lifestyle/no-nipple-policy-sechs-ausnahmen-in-denen-facebook-brustwarzen-fotos-akzeptiert/rd8wv1k
[25] https://polizei.nrw/artikel/kinderpornografie-opfer-und-opferschutz
[26] „Nach kriminologischer Einschätzung … handelt es sich in Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern bei 60 bis 80 Prozent der Täter um Bekannte oder gar Verwandte des kindlichen Opfers.“ Quellle: Hagen, K. R., Olek, K. & Dickgieser, N. (2000). Sexueller Missbrauch eines Kindes. Kriminalistik, 54 (4), 240-242. Zitiert nach: https://polizei.nrw/artikel/studien-zum-thema-kinderpornografie , dort auch eine Aufschlüsselung nach Tätergruppen aus der Studie Laumer, M. (2012). Der Zusammenhang zwischen dem Konsum von Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch von Kindern – Eine Übersicht zum aktuellen Forschungsstand. Kriminalistik, 3/2012, 139-144.
[27] Die Übersichtsakte müsste – notwendig zu erwähnen – bei Ortswechsel an das dann zuständige Jugendamt übergehen.
[28] In den Niederlanden hat man dafür die Consultatie-Büros, deren Besuch/Inanspruchnahme verpflichtend ist. https://nl.wikipedia.org/wiki/Consultatiebureau
[29] „Der ist vor meinen Augen an einer normalen Grippe verstorben, weil der Pflegevater prinzipiell alle Ärzte abgelehnt hat, um den sexuellen Missbrauch zu vertuschen.“ https://www.deutschlandfunk.de/missbrauch-von-berliner-pflegekindern-studie-sieht.1773.de.html?dram:article_id=478608 Montag, 15. Juni 2020
[30] Akten haben eine ambivalente Eigenschaft. Sind sie erst einmal in der Welt, können sie immer wieder zur Belastung herangezogen werden. Eine Schutzakte von Kindern müsste also – mit ihrem Einverständnis – spätestens mit Erreichung ihrer Mündigkeit nachweislich vernichtet werden.
[31] Das heißt allerdings nicht, dass man es ihm auch anmerkt: »Die Bild zitiert einen Garten-Nachbarn: „Adrian, die Frau und der Sohn waren oft im Garten. Der Junge kurvte oft mit dem Kettcar durch die Anlage, er war auffallend freundlich und höflich.“« https://www.merkur.de/welt/kinderpornografie-muenster-razzia-missbrauch-durchsuchung-kindesmissbrauch-erzieherin-verdacht-nrw-zr-13789992.html Freitag, 12. Juni 2020
[32] Schließlich hat ja auch die Plakatkampagne von Frau Süßmuth für den Gebrauch von Kondomen zu keinem Aufschrei der Entrüstung geführt.
[33] Wenn es gute Gesetzesvorlagen gibt, werden sie regelmäßig von den Bundesländern aus Kostengründen ausgebremst. https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/10/28/kinderschutzgesetz/ . Dazu auch mein gleichnamiges Papier: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/10/fc3bcr-eine-neue-politik.pdf
[34] Dazu: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kindesmissbrauch-diskussion-um-strafen-zu-viele-familienrichter-sind-ahnungslos-a-6626a099-78e1-4ec3-8114-85acf11183df Montag, 15. Juni 2020
[35] Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/
[36] https://www.bundestag.de/ausschuesse/ausschuesse18/a13/kiko/informationen/info2-261950
[37] https://beauftragter-missbrauch.de/
[38] https://beauftragter-missbrauch.de/der-beauftragte/das-amt
[39] Andere, die sich für Kinderrechte einsetzen, twittern auch, die machen das aber unentgeltlich.
[40] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/04/26/wir-insider-wundern-uns/
[41] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/04/29/hat-sich-die-kirche-dem-missbrauchsbeauftragten-unterworfen/
[42] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/04/26/wir-insider-wundern-uns/
[43] Prof. Salgo: „Als Insolvenzrichter muss ich in Deutschland entsprechende Kenntnisse und Fortbildungen nachweisen. Als Familienrichter nicht. Das zeigt auch, wie der Gesetzgeber diese Themen gewichtet. Die Politik sollte da dringend ihre Hausaufgaben machen.“ https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kindesmissbrauch-diskussion-um-strafen-zu-viele-familienrichter-sind-ahnungslos-a-6626a099-78e1-4ec3-8114-85acf11183df
17 Jahre Knast gab es für Dieter Schulz. Nun ist er gestorben. Wie sollen wir ihm gerecht werden?
Die Leser meines Blogs kennen Dieter Schulz. In vielen Folgen erschien hier seine Autobiographie[1].
Man sagt gern umschreibend, jemand habe das Zeitliche gesegnet. Doch das Zeitliche segnen konnte er wohl kaum. Denn die Zeiten waren nicht gut zu ihm, und er hat entsprechend reagiert.
Hier mein Nachruf:
Nachruf auf Dieter Schulz [2]
Sein Leben begann am 27. Januar 1940 und endete am 12. Juni 2019.

Was er erlebte, was er machte, reicht locker für drei Leben aus, wie ich schrieb, und keines wäre langweilig.
Was jedoch – oberflächlich gesehen – spannend ist, entpuppt sich als terrible, als erschreckend.
»War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!« fragt Dieter selber in seiner Autobiographie und fasst damit seine schrecklichen, uns erschreckenden Kindheitserlebnisse zusammen.
Wie kann Leben unter diesen Startbedingungen gelingen?
Dass es „funktionieren“ kann, ist bei ihm nachzulesen.
Aber wie hat es funktioniert?
Nachrufe, also Rückbesinnungen auf kriminelle Karrieren sind kein Problem, wenn es sich um bedeutende Kriminelle handelt, also um Staatmänner, Feldherren, Patriarchen, auch Firmengründer. Entweder man lässt die kriminellen Passagen weg oder man schönt sie – und wenn der Nachrufer vom selben Kaliber ist, verherrlicht er sie sogar.
Doch was ist mit den „kleinen Leuten“?
»unsereins hinterlässt nur flüchtige spuren, keine
zwingburgen, paläste, denkmäler und tempel
wie heilige, herrscher, heerführer, auch keine
leuchttürme von wissen und weisheit.irgendwo in archiven überdauern daten
unseres dagewesenseins, – kann sein, eines tags
kommt ein forscher und ergänzt mit belanglosigkeiten
das bild unserer zeit, und wir sind dabei.«
Als „klein, aber oho“ habe ich Dieter Schulz charakterisiert. Ich denke, das trifft ihn ganz gut und er hat auch nicht widersprochen – gelesen hat er‘s. Man kann es nachlesen, demnächst in den Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie. In meinem Dank für alle Beteiligten an dieser Veröffentlichung schreibe ich (und muss nun die Todesnachricht hinzufügen):
»Zuallererst danke ich Dieter Schulz für seine Autobiographie. Er hat sie als Mahnung an künftige Generationen verstanden und darin auch einen Sinn für seinen reichlich „schrägen“ Lebenslauf gesehen. Ich verwendete dafür im Mailwechsel das Sprichwort: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Aus seiner Idee einer eigenständigen Publikation entwickelte sich – nolens volens – eine kriminologische Fachpublikation, und Dieter Schulz musste ertragen, dass seine locker hingeschriebene und stark stilisierte Geschichte auch kritischen Augen standhalten musste mit nicht immer schmeichelhaften Schlussfolgerungen. Er hat dieses ertragen, so wie er auch – wieder nolens volens – die longue durée des Entstehungsprozesses erdulden musste, obwohl sie sich auf seine Seelenlage auswirkte: Zwischen Hoffnung und Depression. Herzlichen Dank, lieber Dieter Schulz! – Ich habe ihm diesen Dank vorweggeschickt, obwohl noch nicht alles „in trockenen Tüchern“ ist, denn sein Gesundheitszustand ist prekär.«
Nun hat ihn wenigstens dieser Dank noch lebend erreicht.
Was bleibt von diesem Leben?
Uns bleibt seine Autobiographie als „mahnend Zeichen“, ein zum Teil schrecklicher, erschreckender aber faszinierender Rückblick.
Und seine Angehörigen soweit sie noch leben? Seine diversen Frauen? seine Kinder?
Die Frauen werden wohl kaum von seinem Tod erfahren und wohl auch nicht alle seiner Kinder. Doch wer ihn „dicht bei“ erlebt hat, kommt nicht drumherum, für sich selbst das disparate, das erschreckend/schreckliche Bild von Dieter Schulz zu würdigen, – ja, zu würdigen! Er war ja nicht nur „der Täter“, von was auch immer. Er hat in seiner Lebensbeschreibung auch sein Inneres offengelegt. Er konnte weinen, nachts im Bett als Heimkind, und musste am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen, Gefühle waren tabu. Bei allen Eitelkeiten verfügte er über ein hohes Maß an Selbstreflexion, auch darin konnte er rücksichtslos sein.
Ich möchte diesen Nachruf mit zwei seiner Idealfiguren abschließen, die ihn bestimmt haben.
Da ist zunächst seine über alles geliebte Mutter. Sie warf sich schützend über ihre Kinder, wenn Tiefflieger Jagd auf die Flüchtenden machten – da wuchs in aller Bedrohung das, was wir Urvertrauen nennen. Sie „hielt uns am Kacken“ schreibt er in seiner unnachahmlichen Drastik; im Psychologenjargon steht beides für die basic needs, für die Grundbedürfnisse. Sie versteckte ihn vor VoPo und Jugendamt, aber sie griff in ihrer Erziehungsnot auch zum Ausklopfer oder gar Schürhaken und gerbte ihm das Fell. Eine Frau, hart gemacht durch das Leben.
Auf der anderen Seite die unerreichbare Monika, sein Schwarm aus Dönschten, einem seiner vielen Kinderheime. Er sah sie nur am Fenster und verehrte sie, wie ein Minnesänger seine unerreichbare Dame. Sie zählt zu den Adressaten, die er in seiner Lebensbeschreibung nennt. Sie soll nicht alle seiner Verirrungen lesen, um kein schlechtes Bild von ihm zu bekommen.
Wir
aber haben alles gelesen und müssen sehen, wie wir auf diesen krummen Linien
gerade schreiben, um ihm gerecht zu werden. Er hat es verdient.
[1] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/07/inhaltsverzeichnis.pdf
[2] Die Todesanzeige wurde mir von seinem Sohn Sascha übersandt.
Wenn die Seele zuckt: Trigger
Manche zucken zusammen, manche zucken aus. Doch beides ist wie ein Reflex: unwillkürlich, nicht abzubremsen.
Reflexe sind lebenswichtig. Wenn mein Finger einer Kerze zu nahe kommt, zucke ich blitzschnell zurück. Müsste der Reflexbogen über das Gehirn laufen, wäre der Weg zu lang und ich würde mich verbrennen. So etwas erledigt das Rückenmark-Segment viel schneller.[1] Soweit die Physiologie: Schmerzwahrnehmung und Schutzreaktion. Funktioniert auch bei Tieren.
Und die Psychologie? Hier geht es um die Erinnerung an Schmerzen und die Abwehrmaßnahmen gegen schmerzhafte Erinnerungen und deren beängstigende Wiederbelebung, um Trauma und Retraumatisierung.
Beispiel: Ein ehemaliges Heimkind berichtete mir, er sei bereits an seinem ersten Tag im Heim missbraucht worden; als Erwachsener umfassend psychotherapiert könne er nun frei über das Erlebte sprechen.
Aber kürzlich war er beim Arzt. Die Untersuchung auf krankhafte Vergrößerung der Prostata (Krebsgefahr) erfolgt rektal. Als ihn der Arzt dazu mit dem Finger penetrierte, habe er sich reflexhaft umgedreht und dem Arzt eine „geschmiert“. Natürlich, so sagte er, habe er sofort gewusst, wieso das passiert war, habe sich beim Arzt entschuldigt und ihm die Hintergründe erklärt. Der Arzt sei auch verständnisvoll gewesen. Er aber habe danach zwei weitere Sitzungen beim Psychotherapeuten gebraucht.
Reflexhaft. Solche Reflexauslöser kommen zuweilen unerwartet und können zu Problemen führen, die der Betroffene nicht immer erklären kann, manchmal nicht einmal sich selber. Dazu ein Blick auf den Ablauf von der Traumatisierung bis zur posttraumatischen Belastungsstörung. Ich benutze dafür das Modell der Traumazange von Dr. Besser, wie ich es bei seinen Vorträgen notiert habe; dazu die Erklärung von Prof. Resch, der den Vorgang der Traumatisierung beschreibt.
Ausgangspunkt ist eine Situation absoluter Hilflosigkeit, die zu einer Dissoziation führen kann – aber nicht muss. Auf jeden Fall bleibt das Geschehen nicht nur als „unangenehme Erinnerung“ im Gehirn gespeichert, sondern kann sich plötzlich und dramatisch aufdrängen und dieselbe Angstreaktion auslösen, wie in der ursprünglichen Bedrohung. Das kann die Erinnerung an das Keuchen des Täters sein, an seine Kleidung oder, nur scheinbar banal, an die Temperatur – alle Details können gespeichert sein, meist sind es nur einige. Was Dr. Besser salopp die „Tupper-Blackbox“ nennt ist nämlich nicht ganz so dicht, wie man es Tupper zutraut. Die Schutzfunktion ist hier nicht vollkommen. Zum einen ist der Schutz nicht sicher, zum anderen kann das „Verdrängen“ zu Störungen der Psyche führen, deren Ursache nicht so leicht zu erkennen ist[2], und drittens können Situationen auftreten, die der Umwelt nicht so leicht zu vermitteln sind – im obigen Fall hat das jedoch geklappt.
Zu den im Schaubild gezeigten Undichtigkeiten kommen Trigger als Auslöser der Erinnerungskaskade: die posttraumatische Stressreaktion – mit den soeben beschriebenen Problemen.
Hinzu tritt ein weiteres Problem, dass jedoch den Betroffenen nicht als solches erscheint, zumal solche Wahrnehmungsblockaden auch ohne vorgängige Traumatisierung vorkommen; dann sind sie den Vorurteilen zuzuordnen.
Dazu noch ein Schaubild.
Ich habe es im Laufe meines Berufslebens immer wieder ergänzt, um den komplexen Sachverhalt der sozialen Wahrnehmung abzubilden. Es ist entsprechend komplex – und immer noch nicht vollständig. Nicht erfasst habe ich bisher die traumabedingte Wahrnehmungsblockade, hier konkret das zum Teil aggressive Ausblenden aller Informationen, die ein differenziertes Bild zeichnen könnten von den Personen oder Institutionen, die in Zusammenhang mit der Traumatisierung gesehen werden.
Aus meiner persönlichen Geschichte: Ich konnte meiner Großmutter nie Argumente gegen die Todesstrafe nahebringen; zu sehr war sie zutiefst befriedigt darüber, dass die Mörder ihres Mannes 1936 auf der Guillotine endeten. Dieser Mord hatte sie lebenslänglich traumatisiert und die „gerechte Strafe“ hatte dem nicht abhelfen können.[3] Ich habe das alles erst viel später verstanden. Auch sehr spät habe ich verstanden, warum manche Psalmen von Hass geradezu triefen. Sie rufen keinen gnädigen Gott an, sondern den rächenden.[4]
Wenn nun im derzeit aktuellen Zusammenhang missbrauchte ehemalige Heimkinder aus kirchlichen Einrichtungen hasserfüllt sind wegen der an ihnen begangenen Verbrechen und der darauffolgenden Vertuschung, Relativierung und geheuchelten Betroffenheitsbekundungen, dann habe ich Verständnis für diesen Hass und verstehe auch, dass sie ‚Kirche’ nur unter ihrem Erfahrungshorizont wahrnehmen und verstehen wollen und können.
Dass es auch anders geht, erfuhr ich erst gestern, als mir ein Kollege einen Link schickte.[5] Doch eine solche Einstellungsänderung ist erst möglich, wenn andere Erfahrungen versöhnlich stimmen. Das war hier der Fall, wäre aber unmöglich gewesen, wenn sich die Frau total gegen neue Erfahrungen mit der Kirche abgeschottet hätte.
Doch das kann man nicht einfordern. Wenn die Seele reflexhaft zuckt bei allem, was nach Kirche aussieht und sich sperrt gegen Wahrnehmungen, die der traumatischen widersprechen bzw. ein differenziertes Framing ermöglichen, die Einordnung in ein realistisches Bild, in dem beides seinen Platz hat, das furchterregende und das hoffnungsvolle, dann hat hier niemand Vorhaltungen zu machen, schon gar nicht vonseiten der „Täternachfolger“.
Doch schade ist das schon. Denn so verharrt das Opfer in seinem Opferzustand.
Fußnoten
[1] Als Reflexbogen wird in der Physiologie die kürzeste Verbindung zwischen Rezeptor und Effektor über die Nervenzellen eines bestimmten neuronalen Erregungskreises bezeichnet. Die Verschaltung vom afferenten auf das efferente Neuron erfolgt im einfachsten Fall auf spinaler Ebene über eine Synapse im Vorderhorn des Rückenmarks. Man spricht daher bei dieser Form eines Reflexes auch genauer von einem einfachen monosynaptischen Reflexbogen. https://de.wikipedia.org/wiki/Reflexbogen_(Physiologie)
[2] und zuweilen auch zu Fehldiagnosen führt.
[3] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/mordsache-unterberg1.pdf
[4] Was mir bisher überhaupt nicht deutlich war: Missbrauchte haben ein Recht nicht nur auf Zorn, sondern auch auf Hass. Dem darf man nicht moralisierend begegnen. Zum ersten Mal habe ich die fürchterlichen Hass-Bezeugungen in manchen Psalmen verstanden. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/01/25/damit-der-boden-wieder-traegt-seelsorge-nach-sexuellem-missbrauch/
[5] https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2018/41359/sexueller-missbrauch-der-kirche
Ein höchstrichterliches Skandalurteil des EKD-Gerichtshofs, … 3. Juli 2013, https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/03/ein-hochstrichterliches-skandalurteil-des-ekd-gerichtshofs/
Leben und Arbeit im Strafvollzug
Es geht hier nicht um Sicherheitsverwahrung, sondern um den normalen Knast (Justizvollzug). Der Artikel besteht aus lauter Zitaten, die Quelle ist jeweils darunter angegeben.
Arbeit im Strafvollzug sollte daher vergleichbar derjenigen in Freiheit vergütet werden; ebenso war die umfassende Einbeziehung arbeitender Häftlinge in die Sozialversicherung vorgesehen. Diese Kernstücke des Reformkonzepts sind allerdings bis heute nicht umgesetzt. Noch immer gilt für Strafgefangenenarbeit im Regelfall eine Lohnhöhe, die der früher üblichen geringfügigen „Belohnung“ für erbrachte Arbeit entspricht; die in § 200 Abs. 2 StVollzG angekündigte Erhöhung des Entgeltniveaus hat bislang nicht stattgefunden. Desgleichen ist die Aufnahme arbeitender Gefangener in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung (vgl. § 198 Abs. 3 StVollzG) bisher nicht in Kraft gesetzt worden. http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1998/bvg98-015.html Mittwoch, 21. Februar 2018
Gefangene, die sogenannte Sittlichkeitsdelikte begangen haben, werden abfällig „Sittiche“ genannt – sie gelten bei den Mitgefangenen als Abschaum. … „Was ist?“, fragt der Häftling. „Bist du taub? Oder ein Kinderficker?“ „Nein“, sagt Karl. „Es ging nur um Bilder, einen Link und eine Website.“ Im Dienstzimmer hören die Beamten Schreie. Sie eilen heran. „Hier ist ein Kifi“, ruft einer der Häftlinge in den Flur. „Kinderficker!“ Die Beamten zerren Karl heraus, noch bevor etwas passieren kann. Mein Aufenthalt in der Zugangszelle hat keine zehn Minuten gedauert, denkt Karl, von Armen umfasst, vermutlich eine Art Rekord.
„Es sind noch andere mit Ihrem Delikt hier“, sagt der Beamte ernst, während sie Karl in eine andere Zelle bringen. „Diese Leute leben auch unerkannt. Also: Ruhig bleiben! Wenn etwas ist, drücken Sie den roten Knopf.“ https://correctiv.org/recherchen/justiz/artikel/2017/08/16/folge-1-die-ohnmacht-des-anfangs/
Ganz unten in der Gefängnishierarchie stehen die Pädophilen und Sexualstraftäter sowie die Verräter, die ausgesagt oder jemanden im Knast angeschwärzt haben. Drogensüchtige gelten als schwach. Als Nächstes kommen kleinere Diebe, einfache Einbrecher, Klein-Dealer. Danach folgen die schweren und gefährlichen Körperverletzungsdelikte und versuchte Tötungen. Ausnahmen bilden die „unehrenhaften“ Täter. Das sind Leute, die zum Beispiel Kinder, Frauen oder alte Leute überfallen oder sogar getötet haben. Wessen Opfer wehrlos war und nicht auf Augenhöhe, der ist unten durch. Als Nächstes: größere Dealer, erfolgreiche Einbrecher, Insider wie Anabolikahändler, Drogenmischer und gut vernetzte Leute wie Emil. Solche Typen werden auch systematisch von Gruppen im Gefängnis angesprochen und rekrutiert – auch für die Zeit danach. Darüber stehen die Koryphäen. Das sind Leute, die spektakuläre Dinger gedreht haben, von denen jeder im Gefängnis schon weiß – zum Beispiel aus der Zeitung oder noch besser: aus dem Privatfernsehen. Viele träumen heimlich, brillant wie diese Koryphäen zu sein. Sie sind die Posterboys im Gefängnisalltag. Zu diesen Prominenten zählen Häftlinge wie Uli Hoeneß, als er noch saß. Das Gefängnis ist so offen für Klatsch wie das „Goldene Blatt“. Ganz oben stehen die Bosse; die Dienstältesten auf dem Flur oder die Ältesten einer Bande.
Und dann gibt es noch Insassen, bei denen alle ein mulmiges Gefühl kriegen: Sadistische Killer und – vor allem – Kannibalen. Von ihnen hält man sich fern. https://correctiv.org/recherchen/justiz/artikel/2017/08/17/folge-2-die-geheime-macht/
Auch Frauenbesuch ist im Gefängnis streng reglementiert. In fast jedem Haftraum hängen dafür die Pin-up-Girls, die Becken seitlich vorgeschoben, eine Hand hinter dem Kopf. Unerreichbar. Zum Freiheitsentzug gehört auch der Entzug der sexuellen Selbstbestimmung. Außer Wichsen ist nichts mehr. Pornos sind verboten und werden, wenn sie gefunden werden, sanktioniert und konfisziert. … „Es gibt viele Frauen, die lernen Häftlinge über Kontaktportale kennen“, sagt ein Anstaltsleiter. „Diese Frauen haben ein Samaritersyndrom und wollen Menschen retten; das ist vielleicht romantisch für die, mit einem Knacki und so. … Die Angehörigen sind immer miteingesperrt. Vor dem Besuch werden sie durchsucht, hören sich vom Personal einen flapsigen Spruch über das Piercing an, werden in den großen Raum geführt, in dem niemand unter sich ist und der mit Kameras überwacht wird. Dort sitzen sie dann – mit Gruppen anderer Familien zusammen –, während Beamte durch eine Scheibe blicken. In den Arm nehmen: wird manchmal untersagt. Küssen: wird manchmal untersagt. Niemand kann schlüssig sagen, warum. … Um intim zu werden, aber auch um Zeit mit der Familie zu verbringen, dafür gibt es im Gefängnis die Langzeitbesuche. Sie dauern länger als die üblichen etwa anderthalb oder zwei Stunden und finden in einem extra Raum statt. Er ist nicht überwacht. … Manche JVAs haben extra „Kinder-Besuche“. Häftlinge sollen möglichst oft Kontakt zu ihrem Nachwuchs aufnehmen, daher fallen diese Besuche nicht in das sonst streng reglementierte Besuchskontingent. Aber manche Häftlinge beantragen sie, sagte eine Anstaltsleiterin, geben den Kindern kurz einen Kuss und setzen sie dann anderthalb Stunden auf den Fußboden, weil sie nur „mit ihrer Frau reden wollen“. https://correctiv.org/recherchen/justiz/artikel/2017/08/18/liebe-unter-generalverdacht/
Als er nach dem ersten Arztbesuch in die Zelle gebracht wurde, hatte er abends den Notruf ausprobiert: „Ich dachte: Was mache ich, wenn ich hier einen Herzanfall kriege?“, sagt er. Fast 40 Minuten habe er warten müssen, ehe sich eine Stimme in der Gegensprechanlage meldete und fragte, ob alles in Ordnung sei. „Da habe ich Panik gekriegt. Und ich wusste: Im Notfall hilft nur Schreien und gegen die Tür schlagen, bis die Mithäftlinge dich hören.“ … Einige Bundesländer verhängen Sicherheitsstufen – andere distanzieren sich von diesem Konzept mit der Begründung, es sei unterkomplex und werde den individuellen Lebensläufen nicht gerecht. Eine Einschätzung treffen alle. Die Kriterien: War oder ist der Gefangene Mitglied der organisierten Kriminalität und damit einer Gruppe, die versuchen könnte, ihn zu befreien? Welche Straftat hat er begangen? Ist er gefährlich für Mithäftlinge oder Beamte? Besteht Fluchtgefahr?
- Stufe 4 offener Vollzug (Freigang und Wohnen außerhalb der Mauern)
- Stufe 3 normaler geschlossener Vollzug
- Stufe 2 geschlossener Vollzug mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen
- Stufe 1 Hochsicherheitsstation
https://correctiv.org/recherchen/justiz/artikel/2017/08/19/folge-4-wartezimmer-hinter-gittern/
Die aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung im anstaltseigenen Betrieb ausgeübte Beschäftigung löst lediglich Versicherungspflicht zur Arbeitslosenversicherung aus. Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung kommt nicht zum Zuge. https://www.haufe.de/personal/personal-office-premium/strafgefangener-sozialversicherung_idesk_PI10413_HI727335.html Mittwoch, 21. Februar 2018
Merkblatt über die Sozialversicherung und die Arbeitslosenversicherung der Gefangenen (Stand: 01.04.2014)
Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung
Die Gefangenen unterliegen nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung. Die Zeit während des Vollzuges einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung gilt für die Rentenversicherung nicht als Ersatz- oder Anrechnungszeit. Die Vollzugsbehörde entrichtet für die Gefangenen, auch wenn sie einer gesetzlichen Arbeitspflicht genügen, keine Beiträge zur Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung. Für eine Aufrechterhaltung der Versicherungen sind die Gefangenen selbst verantwortlich; der Anstaltsleiter kann gestatten, dass hierfür auch das Überbrückungsgeld in Anspruch genommen wird. http://www.justiz.nrw.de/Bibliothek/jvv_db/jvv_pdf/Abt_IV/4524_20140410.pdf Mittwoch, 21. Februar 2018
Nach mehr als fünfjähriger Vorarbeit trat zum 1. Januar 1977 das „Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – Strafvollzugsgesetz (StVollzG)“ in Kraft. Damit gab es in Deutschland zum ersten Mal überhaupt eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für den Strafvollzug. Unter der Überschrift „Sozial- und Arbeitslosenversicherung“ war in den Paragrafen 190 bis 193 auch die Sozialversicherung der Gefangenen umfassend und detailliert geregelt. Die Sache hatte nur einen Schönheitsfehler: In § 198 Abs. 3 des gleichen Gesetzes war festgelegt, dass die Paragrafen 190 bis 193 erst durch ein noch zu erlassendes eigenes Bundesgesetz in Kraft gesetzt werden müssen. Doch dieses Gesetz hat es nie gegeben. Kostenbedenken der Bundesländer haben das bisher verhindert. So wartet die Klientel „Strafgefangene“ seit nunmehr 37 Jahren darauf, für ihre Arbeit in der Haft ähnlich sozial abgesichert zu werden wie Arbeitnehmer(innen) in Freiheit. Dies ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit. Langjährig Inhaftierte sind im Alter wegen der fehlenden Beitragsjahre häufig auf die Grundsicherung verwiesen, obwohl sie viele Jahre gearbeitet haben. Sie tragen ein hohes Armutsrisiko. Die fehlende Krankenversicherung kann für mitversicherte Angehörige zum Problem werden. Auch bleibt die Gesundheitsversorgung im Strafvollzug hinter dem Standard für die Allgemeinbevölkerung zurück. Fraglich ist, ob die eingesparten Beiträge nicht von der Gesellschaft an anderer Stelle teuer bezahlt werden müssen. https://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/jahrgang2014/artikel/arbeitnehmer-zweiter-klasse Mittwoch, 21. Februar 2018
Strafgefangene, die nicht Freigänger mit freiem Beschäftigungsverhältnis sind, sind nicht krankenversichert. Die Gefangenen selbst werden im Gefängnis zwar ärztlich versorgt, doch fällt für die Angehörigen die Familienversicherung während der Zeit der Inhaftierung weg. Die Familienangehörigen müssen sich dann selbst um ihre Krankenversicherung kümmern. Beiträge zur Rentenversicherung werden nicht gezahlt. Die Jahre der Inhaftierung fehlen (trotz geleisteter Arbeit) für den Rentenanspruch. https://www.knast.net/article/sozialversicherung_der_gefangenen Mittwoch, 21. Februar 2018
Aktionstage Gefängnis 2017: Sozialversicherung für Strafgefangene
In dieser Woche starteten die Aktionstage Gefängnis. 2017 ist das erste Jahr, in dem Wohlfahrtsverbände und andere Organisationen auch in Deutschland auf die Situation von Strafgefangenen aufmerksam machen. Vor allem die fehlende Sozialversicherung wird thematisiert. https://www.transparent-beraten.de/2017/11/10/22162/aktionstage-gefaengnis-2017-sozialversicherung-fuer-strafgefangene/ Mittwoch, 21. Februar 2018
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 41 f
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Einundvierzigstes Kapitel
Mir fehlt die Ader zum rachsüchtigen Menschen.
Fantasie besaßen sie ja, was das Aussuchen eines Observierungspunktes betraf. Weil sich nun aber keine Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, weil dort ein Park angelegt war, hatte man sich das Eisstadion zunutze gemacht. Das befand sich schräg gegenüber der Wohnung. Das Dach des Eisstadions bestand aus Zeltplane. Und da sich die Wohnung des zu Observierenden in der ersten Etage befand, konnte man mit einem guten Nachtsichtgerät genau ins Wohn- und Schlafzimmerfenster der beiden hineinschauen. Vielleicht sparten die Bullen sogar Geld dabei? Brauchten sie sich doch keine Pornofilme ausleihen.
Auch das Auto von unserem „Dummfick“ hatte man ständig im Blickfeld, welches vor dem Haus geparkt wurde. Auf diese Weise wurde die Polizei Zeuge, wie noch spät in der Nacht vom „Dummfick“ und Paule ein größeres Bündel aus dem Haus zum Auto geschleppt wurde. Nachdem die beiden das Bündel im Kofferraum verstaut hatten, fuhren sie los. So gut der Beobachtungsstandort auch gewählt war, hatte man eines nicht bedacht. Die Hindernisse, die man zu überwinden hatte, um zum eigenen Auto zu kommen, um eine eventuelle Verfolgung aufzunehmen, dazu war ihr Standort völlig ungeeignet. Längst war der nichtsahnende Paule aus deren Sichtweite entschwunden, als das SEK[1] dort ankam wo es, bzw. sie, losgefahren waren.
Nachdem Paule und „Dummfick“ sich beraten hatten, wohin mit der Leiche, um die Leiche von Wolfgang handelte es sich schließlich, wurde der erste Gedanke wieder verworfen. Der erste Gedanke war gewesen, Wolfgang auf dem Friedhof in ein frisches Grab dazuzulegen. Der zweite Plan war dann doch vielversprechender. In der Nähe von Osnabrück hatte Paule einige Jahre seines Lebens bei einem Onkel auf dem Lande verbracht. Dort kannte er sich aus. Weitab vom Straßenrand, wo kein Hund so schnell hinkam und eventuell eine Spur aufnehmen konnte, grub man ein gut zwei Meter tiefes Loch im Acker. Die letzte Ehre, die man Wolfgang erwies, war die Tatsache, dass man ihm anlässlich des ersten Adventssonntags eine große rote Schleife um den Teppich, worin er eingepackt war, band. So weit, so gut! In den nächsten hundert Jahren hätte man Wolfgangs Überreste wahrscheinlich nicht gefunden.
Wie Reni zum Beinamen „Dummfick“ kam.
Wären da nicht die impernenten[2] Bullen gewesen, die unbedingt wissen wollten, was da so mitten in der Nacht aus dem Haus geschleppt worden war. Selbstverständlich bereiteten sie sich gründlich vor, bevor sie am nächsten Tag an der Wohnungstüre von „Dummfick“ klingelten. Sie hatten im Vorfeld recherchiert, dass die Adelige noch nie etwas mit der Polizei zu tun hatte. Solch unbedarfte Bürger konnte man viel leichter überrumpeln als einen gewieften Verbrecher wie Wolfgang. Doch der war nun schon tot und Reni allein zu Haus. In dem Moment, wo Reni den Bullen die Türe öffnete, hatte sie sich von mir den Beinamen „Dummfick“ [3] verdient. Die Überrumpelungstaktik der Bullen bei unbescholtenen Menschen besteht darin, sobald die Türe geöffnet wird, einen Fuß dazwischen zu stellen, damit man ihnen nicht wieder die Türe vor der Nase zuknallen kann, sobald sie sich mit ihren Polizeimarke ausgewiesen haben. Knallhart sagte man ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht leugnen könne, in der vergangenen Nacht mit einem Mann zusammen Waffen aus der Wohnung getragen zu haben, um sie woanders zu verstecken. „Wie? Waffen? Wir haben die Leiche von Wolfgang Dietrich aus der Wohnung entfernt!“ So hübsch wie die echte Blondine war, so gut sie im Bett war, wie Wolfgang geprahlt hatte, zu einem Zeitpunkt, als er das alles noch lebend genießen konnte, so blöd war sie auch. Deshalb auch, warum ich sie fortan nur noch „Dummfick“ nannte. Bereitwillig zeigte Dummfick dann auch den Ort, wo sie Wolfgang verbuddelt hatten. Dass die Bullen sie deshalb gleich mit an den Arsch kriegen würden, hatte sie gar nicht bedacht. Wie auch? Sie war ja von Natur aus blond! Vielleicht spielte auch ein wenig der Inzuchtadel eine kleine Rolle dabei. Irgendwo muss ja ein Grund dafür vorhanden sein, dass sich soviel Dummheit in einem Kopf vereinigte. Ihren IQ, der mal gerade knapp über Zimmertemperatur lag, bewies sie dann ja gleich nochmal der Polizei gegenüber. Bei der Durchsuchung der Wohnung fiel den Beamten auf, dass ungewöhnlich viel hi-tec, und nicht gerade von der billigsten Sorte, vorhanden war. Dummfick wurde gefragt, wer denn das teure Zeug angeschafft hätte. „Na, Wolfgang!“ – „Wie, Wolfgang? der bezieht doch nur Arbeitslosengeld. Davon hat er das alles angeschafft?“ – „Wieso Arbeitslosengeld? Mir hat er gesagt, er sei Bankräuber von Beruf“, antwortete die wahrheitsliebende Komtess. Hätte das Weib gewusst, dass ich dem Wolfgang die teuren Geräte für ’nen Appel und Ei besorgt hatte, hätte sie mich bestimmt auch noch in die Pfanne gehauen und ich hätte eine weitere Anklage wegen Hehlerei am Hals gehabt. Jetzt, knapp 16 Jahre später, frage ich mich noch immer, da die Bullen kein Geld gefunden haben, wo denn das Geld aus dem Bankraub abgeblieben war. Während der einen Woche, wo er noch zu leben hatte, konnte er die Summe doch nicht schon verbraten haben! Soviel Interna mir Paule später in der gemeinsamen Knastzeit auch verriet, auf diesbezügliche Fragen ging er nicht ein.
Die Staatsanwaltschaft schaffte es bei weitem nicht, innerhalb eines halben Jahres eine Anklageschrift zu verfassen. Dummficks Rechtsanwalt stellte deshalb einen Antrag auf Haftentlassung. Das Gesetz schreibt es jedenfalls so vor. Die Anklageschrift muss vor Ablauf von sechs Monaten stehen, ansonsten muss der Angeklagte aus der U-Haft entlassen werden. Paule gab mir auf dem Hof die Begründung zu lesen, mit der man diesen Antrag auf Haftentlassung im Falle von „R von K“[4] ablehnte. Besagte Person stand unter dem dringenden Tatverdacht, Beihilfe zum Mord geleistet zu haben. Im Falle, dass man „R von K“ bis zur Verhandlung auf freien Fuß setze, stehe zu befürchten, dass sie sich weiterhin in Unterweltskreisen bewegen würde. Diese Vermutung sei dadurch bestätigt, dass sie laut eigener Aussage zunächst mit dem Berufsverbrecher Wolfgang Dietrich, dann mit dem gefährlich eingestuften Bruno Reckert eine Liaison eingegangen sei, zu dessen weiteren Bekanntenkreis auch der Mitangeklagte Paul M … und andere Unterweltgrößen gehörten. Einige dieser Sätze sind bei mir haften geblieben. Das übrige übliche Bla Bla, mit vielen Paragraphen gespickt, habe ich vergessen.
Der Polizei reichten die dürftigen Angaben.
Eigentlich hätte ich ja das Kapitel, was diese Tussi betraf abhaken können. Wäre ihr Name nicht Monate später wieder aufgetaucht. Nämlich in meiner Anklageschrift betreffs des Bankraubes in Eisenhüttenstadt. Dass es überhaupt zu der Anklageschrift kam, dabei hatte eben Dummfick einen kleinen Anteil. Natürlich hatte man sie bei den Vernehmungen ausgepresst wie eine Zitrone. Sie musste ja so einiges über die Aktivitäten von Wolfgang und Bruno Reckert wissen. Was sie wusste plauderte sie natürlich auch aus. In der Hoffnung ihren eigenen Arsch dadurch zu retten. So gab sie auch an, dass Wolfgang mit anderen, aber ohne Bruno Reckert, mit dem hätte sie sich ja an diesem Tage verlobt, in die Ex DDR gefahren sei, um seinem Beruf als Bankräuber nachzugehen. Auch dass Wolfgang dabei sehr erfolgreich gewesen sein müsse, da er eine große Summe Geld vorzeigen konnte. In dem Knastbetrieb, wo ich arbeitete, zeigte mir ein Mitgefangener einen Artikel im Stern. Die Überschrift lautete: „Die Spur des Bruno Reckert führt bis in die neuen Länder“. Na und? Was ging mich das noch an? Ich hatte doch mit dem kein Ding zusammen gedreht. Mir kam gar kein Gedanke, dass in Wirklichkeit Harry, Wolfgang und ich damit gemeint sein könnten. Wie bei den Medien so üblich wurde hier etwas aus dem Zusammenhang gerissen. Hätte die Presse allerdings korrekt berichtet, dass Bruno lediglich eine seiner Waffen, nämlich besagter Magnum Revolver, an uns verliehen hatte, wären bei mir sämtliche Alarmglocken angeschlagen.
Der Bankraub an sich war höchstwahrscheinlich bei den zuständigen Stellen schon längst in der Ablage gelandet. Doch als die Polizei in dem Mordfall zu ermitteln begann, den Hinweis von Dummfick erhielt, verfolgte man natürlich auch diese Spur. Einen bewaffneten Raubüberfall aufgeklärt zu haben, machte sich immer gut in der Personalakte und war einer Beförderung sehr dienlich. Die gelegte Spur von dem Weib war brandheiß. Konnte man diese doch auf einen bestimmten Tag einkreisen. Der Polizei reichten die dürftigen Angaben der Blondine, um letztendlich auch auf Harry und mich zu kommen. Endlich konnten die Bullen ihr weniges Hirn benutzen, um Zusammenhänge zu konstruieren. Noch einmal Bingo für die Polizei.
Seit sieben Monaten schon hatte ich mich wieder an den Knastalltag gewöhnt. An einem Junitag ging ich nach der Arbeit sofort zu der Beamtenloge und meldete ein ausgehendes Telefongespräch an. Als ich dann endlich an der Reihe war, mein fünfminütiges Gespräch führen zu dürfen, bekam ich auch gleich Helga an der Strippe. Obwohl ich eindeutig ihre Stimme erkannte, dachte ich zuerst, eine verkehrte Nummer eingetippt zu haben. Ich konnte nicht verstehen, was Helga da sagte. „Entschuldigen SIE bitte, ich werde IHNEN gleich antworten, ich muss nur noch meinen Besuch rauslassen!“ Einwandfrei, das war Helga am anderen Ende der Leitung. Aber was redete sie da für einen Mist. Von wegen SIE und Ihnen? Im Hintergrund ein paar Männerstimmen, dann das Schließen der Türe. Helga ließ hörbar Luft ab, als sie sagte: „So jetzt können wir reden!“ – „Was ist denn da los?“- „Stell dir vor, das war gerade die Polizei, die hier war. Deshalb konnte ich nicht anders sprechen. Die haben mich gefragt, ob du eine Schwester in Eisenhüttenstadt wohnen hast und haben auch dein Auto auf der Straße fotografiert!“ Jetzt ging bei mir endlich ein Licht auf. So hell wie Osram: Der kürzlich erschienene Sternbericht………..!
Mit sich überschlagenden Gedanken im Kopf war ich aus dem Weg zurück zu meiner Zelle. Da rief auch schon ein Bekannter aus dem Rotlichtviertel zu mir hoch; „He, Dieter, hast du schon gehört? Harry haben sie verhaftet!“ Kein noch so gut gesichertes Gefängnis kann verhindern, dass der Nachrichtendienst bestens funktioniert. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch zu mir kommen würden. Eine ziemlich unruhige Nacht hatte ich verbracht, trotzdem ging ich am nächsten Morgen zur Arbeit. Schon bald kam einer der Werkmeister an meinen Arbeitsplatz und sagte, ich solle mich bei der Oberaufsicht melden, ich hätte Besuch. Natürlich konnte ich mir denken, wer mich da besuchen wollte. „Nö, keine Lust!“ sagte ich dem Beamten. „Ich habe weder einen Besuchstermin, noch hat sich mein Anwalt angemeldet!“. Minuten später kommt der Beamte zurück. „Schulz, du musst hochgehen, dein Anwalt ist außerplanmäßig gekommen!“. Ich kannte ja bereits die Methoden hier in der Anstalt. Bei einer erneuten Weigerung würde das Rollkommando eintreffen und mich gefesselt nach oben schleppen. Bei der Oberaufsicht angekommen sagte man mir, dass ich zu Zimmer 4 gehen solle. Es gab eine ganze Reihe solcher Zimmer. Dort traf man sich mit seinem Anwalt zu einem Gespräch oder aber auch mit der Kripo, falls diese noch etwas wissen wollten.
Unser mickriger Bankraub
Zimmer Nummer 4 stand weit offen. Darin saßen gleich drei männliche Typen und weiter hinten in der Ecke, saß eine Frau hinter einer Schreibmaschine. An der Kleidung erkannte ich sofort, dass zwei der Kerle aus dem Osten kommen mussten. Der offensichtliche Westbulle stand doch tatsächlich auf und wollte mich mit Handschlag begrüßen. Die ausgestreckte Hand übersah ich geflissentlich, sagte statt Guten Tag, „Oh, ich muss mich im Zimmer geirrt haben. Ich wollte zu meinem Anwalt!“- „Nein, nein, Sie sind hier schon richtig! Sie sind doch Herr Dieter Schulz?“
Ich hatte natürlich sofort die Taktik des „guten“ Bullen durchschaut. Äußerlich kehrte ich den Coolen heraus, so tuend als würde ich so gar nicht wissen, worum es hier eigentlich ging. Ich will hier nicht das ganze Gespräch wiedergeben. Nur soviel: ich weigerte mich auf die Vorwürfe bezüglich Eisenhüttenstadt auch nur irgendetwas auszusagen. Somit hatte die extra dafür mitgebrachte Schreibkraft am Fenster nicht all zuviel zu schreiben. Aber dieses ausgekochte Biest hatte es faustdick hinter den Ohren. Im Polizeidienst mit allen Wassern gewaschen legte sie mich doch rein. Wie das? Selbst ich, der ja bereits viele gemeine Tricks unseres Justizwesens kannte, fiel auf ein kleines Wörtchen herein. Ich übersah einfach ein kleines Wort von gerade mal vier Buchstaben, welches die Tippse eingefügt hatte. Im Originaltext sollte es heißen: Zu den mir am heutigen Tage gemachten Vorwürfen möchte ich keine Aussagen machen. Das wollte und konnte ich unterschreiben. Diese hinterlistige Ziege hatte ein bedeutungsvolles Wort dazwischen gepackt, woran sich später bei der Verhandlung der Richter immer wieder festbiss. Zwischen den Worten möchte ich keine Aussagen machen, hatte sie listigerweise das Wort NOCH keine Aussagen machen, gehängt. Für das Gericht kam dieses kleine Wort NOCH einem Geständnis gleich.
Mir fehlt die Ader zum rachsüchtigen Menschen.
Mein Fehler; warum vertraute ich auch blind der blinden Justitia. Die Beweislage gegen mich und Harry war sehr dünn, was ja auch bei der langen Prozessdauer zum Tragen kam. Die meisten Mordfälle werden viel schneller abgehandelt und verurteilt. Unser mickriger Bankraub, wo noch nicht mal eine einzige Person zu Schaden gekommen war, zog sich über fünf Monate und 25 Prozesstage hin. Zunächst einmal verlegte man mich ganz schnell in eine weit entfernte JVA. Tätertrennung nennt man so was. Wegen der dürftigen Beweislage musste man unbedingt vermeiden, dass Harry sich mit mir die Aussagen absprechen konnte. Innerhalb derselben Anstalt hätte es immer eine Möglichkeit dazu gegeben, selbst wenn man in ganz anderen Häusern untergebracht war.
Bei dem letzten Besuch in Hannover konnte ich Helga noch, mit der Genehmigung der Anstaltsleitung selbstverständlich, vier Blankoschecks übergeben. Ich wollte nicht, dass die Bullen mein Konto plünderten in der Annahme, dass mein Guthaben aus dem Bankraub stammte. Ebensogut hätte ich aber das Konto so belassen können. Denn Helga, von der ich geglaubt hatte, dass ich auf ihre Treue zu mir Häuser bauen könne, ließ mich schon bald wissen, dass sie sich nicht mehr als meine Verlobte betrachte. Nur sehr wenige Sachen aus meinem Privatbesitz durfte ein Freund von mir später noch aus dem Keller holen. Das war der Dank dafür, dass ich sie vor Gericht aus allem herausgehalten hatte. Selbst nachdem sie sich brieflich von mir losgesagt hatte, hätte ich immer noch alles bei der Polizei beichten können. Anhand von Fotos z.B. wäre sie überführt worden, zumindest an meinem England- als auch Amsterdamreisen beteiligt[5] gewesen zu sein. Ebenso: ihre Mitwisserschaft vom Bankraub hätte ihr ein paar Jährchen gesiebte Luft eingebracht. Doch mir fehlt die Ader zum rachsüchtigen Menschen.[6]
Zweiundvierzigstes Kapitel
Neustart mit 61 Jahren
So wurden wir, Harry und ich, zu 9 bzw. 7 Jahren zum Studium von Knast und Gitterkunde verurteilt. Ein reiner Indizienprozess, waren doch extra 2 x 2 Beamte der Kripo und zwei unterschiedliche Aussagen von Beamten der JVA Hannover geladen worden. Nach dem ersten Mal musste die Kripo zurück nach Hannover, um sich eine Aussagegenehmigung zu holen, beim zweiten Mal drucksten sie auch nur herum. Erst als ich meinem Anwalt ins Ohr flüsterte, eine ganz bestimmte Frage zu stellen, verriet sich der gerade im Zeugenstand Sitzende halbwegs. Den Rest konnte ich mir selbst zusammenreimen, was meinen schon längst gehegten Verdacht aufs trefflichste bestätigte. Nach der Frage, wer denn der Tippgeber [gewesen sei], der der Kripo den Hinweis auf [mich] abgegeben hatte, wurde erklärt, dass man dem Aussagenden Vertraulichkeit zugesagt hatte. Meine Frage über den Anwalt wurde dahingehend gestellt, welchem Ressort die beiden denn in Hannover zugehörten. „Falschgeld“,—- erschrocken innehaltend verbesserte er sich ganz schnell: „Bandendiebstähle, besonders Autodiebstahl“ stotterte er.
„Geldfälscher der Polizei ins Netz gegangen.“
Mir war alles klar! Bekam ich doch wenige Tage nach meiner Inhaftierung am 6.12.90 die verklausulierte Nachricht, [dass] die Produktion der Blüten abgeschlossen sei. Besonders meine Kochkünste wurden hervorgehoben, die ihm nun abgehen würden. Damit konnte er nur meinen, dass ihm finanziell die Luft ausgeht. Ein paar Tage später schon große Schlagzeilen in den Medien: „Geldfälscher der Polizei ins Netz gegangen.“ Kaufmann hieß der Dandy; mit ihm und seiner Schwester hatte ich das Ganze aufgezogen. Doch als ich wegen der Haschischgeschichte hops-genommen wurde, gingen den beiden meine Geldzuschüsse verloren, wovon sie ausschließlich gelebt hatten. Hatten sie sich doch außerhalb von Hannover einen Bauernhof gepachtet, damit die Schwester ihrem Hobby, Pferde, nachgehen konnte. Schon im Vorgefühl des zu erwartenden Geldsegens hatten sie sich diesen Luxus geleistet. Die laufenden Kosten konnten sie nicht mehr bedienen. So machte sich denn Kaufmann auf dilettantische Weise daran, das Falschgeld zu waschen. Von Hannover über Hamburg, Bremen schlug er einen Bogen über NRW bis ins süddeutsche Gebiet. Ausgerechnet in der Hochburg der deutschen Beamten wurde er auch prompt auf frischer Tat erwischt. Seine Masche war immer die gleiche. Er tauchte immer schon kurz nach Öffnung diverser Kaufhäuser dort als Kunde auf. Bis er in Karlsruhe auftauchte, waren einige Tage vergangen und diverse Scheinchen bei der Bundesbank aufgefallen. Großalarm! Hatte man doch im Vorfeld damit geprahlt, das neue Geld sei fälschungssicher.[7] Woher die Blüten kamen, konnte man ganz gut zurückverfolgen. So wurden sämtliche Kaufhäuser der BRD gewarnt. Kaufmann, der immer vorgab, ein Kaufmann zu sein, war ein ganz simpler Schlosser. Sein Einkommen reichte allerdings nie, sich das teure Hobby, Strichjungs, zu finanzieren. So hatte er sich schon sehr früh das Image eines Geschäftsmannes zugelegt. Diese Rolle spielte er nur zu gerne. Deshalb auch seine Auftritte mit Privatklamotten einschließlich Krawatte, und ständig wichtigtuerisch. Selbst im Knast einen dicken Aktenordner unterm Arm. So hatte ich ihn kennen gelernt. Aber erst nach der Haftentlassung wegen der Münzgeschichte traf ich ihn draußen und ließ mich von seinem Auftreten blenden und einwickeln. Der Mann hatte sich in den vielen Haftjahren, die er schon hinter sich hatte, ein gewisses Pseudowissen angeeignet. Immer die gleiche Masche in den Kaufhäusern: Er kaufte sich teure Rasierwässerchen in der einen Abteilung, ebenso teure Unterwäsche in einer anderen. Weiter ging es in die Krawattenabteilung; das gleiche Spiel. Er fühlte sich sehr sicher. [Nun] hatte die Bundesbank ihre Warnungen herausgegeben und sämtliche Angestellten [waren] gleich am frühen Morgen diesbezüglich gebrieft worden. [So] ergab es sich, dass ein ziemlich gelangweilter Kaufhausdetektiv an diesem Morgen in Karlsruhe nichts anderes zu tun hatte, als den einzigen Kunden in der Abteilung zu beobachten. Er folgte Kaufmann auch zur nächsten Kasse. Erst beim dritten Einkauf klingelten beim Beobachter die Alarmglocken. Jedes Mal zahlte Detlev an der Kasse mit einem 200er. Während er den Zahlschein aus der rechten Innentasche hervorholte, [ließ er] das Wechselgeld in die linke Tasche verschwinden. Wem wäre das nicht eigenartig vorgekommen? Daraufhin bat der Detektiv Herrn Kaufmann ihm ins Büro zu folgen.
Schnell war die Polizei vor Ort. Man fand noch reichlich Zweihunderter in seinen Taschen nebst einem Schließfachschlüssel, wo sich weitere Tausende fanden. Zum xten Male wegen Betrugs vor Gericht hatte er sich sicherlich SV[8] verdient, was ihm ja bereits angedroht worden war. Um sich bessere Karten zu verschaffen, ließ [er] mich lieber über die Klinge springen, um vor Gericht einen für ihn günstigen Deal herauszuschlagen. Was ja auch geklappt hat.
Bewährungswiderruf wegen der 5-Pence Geschichte und Haschisch-Deal brachten mir im Endeffekt 11 Jahre und 8 Monate Gesamtstrafe ein. Wobei ein Monat enthalten war wegen Missachtung des Gerichts. Meine einzige Aussage vor Gericht selbst waren die Worte: „Ich weiß ja, dass sie mir nicht glauben; für den Glauben ist jemand ganz anderes zuständig: Gott !“ Erst nach zwei Jahren stand meine endgültige Strafe fest. Nachdem alle Rechtswege ausgeschöpft waren, stellte ich einen [Antrag auf] Strafzusammenzug[9]. Erst wurde der Antrag verworfen. Doch nach einer Beschwerde darüber wurde dem stattgegeben. Doch dafür war es nötig, dass ich persönlich noch mal in Frankfurt/Oder vor Gericht erschien. Ich hatte dem Gericht angeboten, einige Ungereimtheiten des Indizienprozesses aufzuklären. Was die federführende Staatsanwältin Frau K. aus Eisenhüttenstadt veranlasste, sofort persönlich nach Frankfurt zu kommen. Ich legte ein umfassendes Geständnis ab. Ich hatte ja nichts mehr zu verlieren. Was sie besonders interessierte war, wie wir trotz umfangreicher Sperren einschließlich der [durch die] Wasserschutzpolizei entkommen konnten und ob bei dem Überfall echte Waffen oder Attrappen im Spiel waren. Ich hatte ja selbst bei unserem Halt in dem Wald beim Geldzählen die Waffen zu Gesicht bekommen.
Es waren eine Magnum 457[10] nebst einer 8mm-Pistole, geliehen von Bruno Reckert. Dem konnte ich nicht mehr weh tun; kurz bevor er aus Hamburg nach Cottbus zur Aussage eingeflogen werden konnte, verstarb dieser urplötzlich, sportlich auf der Höhe und gerade mal so erst um die 40.[11] Soweit hörte sie aufmerksam zu und machte fleißig Notizen. So gar nicht daran interessiert war sie über die Tatsache der tatsächlich in unsere Hände gefallenen Raubsumme. Zumindest habe ich mir durch die nachträgliche Aufklärung inform eines Geständnisses 1 Jahr und 8 Monate erspart.
Wieder zurück in die JVA Celle bezog ich wieder mein altes Wohnklo von 8,7 qm. Wegen Platzmangel wurden diverse Pensumarbeiten in der Zelle verrichtet. Ich hatte zusätzlich eine Nähmaschine, womit ich mein mageres Taschengeld verdiente. Kaffee und Tabak nebst einiger Zusatzkost konnten wir monatlich einkaufen. Ein Teil des Verdienstes ging zur Rücklage für die Zeit nach der Entlassung. All die Jahre im Knast gearbeitet, doch nur ein Arbeitslosengeld wurde später bewilligt, wofür ich meine Beiträge abgezogen bekam. Doch die ganzen Jahre gingen von meiner Rentenanwartschaft ab[12].
„Prominenz“ im Celler Knast
Was habe ich da in Celle für „Prominenz“ kennengelernt, von der RAF über die IRA und jede Menge Kindesmörder, Mörder im allgemeinen, schließlich saß kein Gefangener in Celle ein, der weniger als 8 Jahre abzusitzen hatte: Winter, an denen der Atem an den Wänden gefror, Hitzesommer wie in einer Sauna, keine Ventilatoren mehr im Celler Handel zu erhalten.
Im Rahmen der Weihnachtsamnestie kam ich schon am 21 Dezember [2002] auf freien Fuß. Ich kam zunächst einmal bei meiner Brieffreundin unter. Ich sehnte mich regelrecht nach Arbeit, und ich fand auch welche. In einem Szenelokal arbeitete ich als Koch, schwarz natürlich. Mein Sohn hatte sich wegen seinem schlechten Gewissen, all die Jahre nicht bei mir gemeldet, keine Weihnachtskarte, geschweige denn zum Geburtstag. Hatte er doch mit Harry, der sich noch auf freiem Fuß befand, meinen „Drogenbunker“ (Wert: 75.000 DM) leergeräumt. Dieter, kein kleiner Dummer, spürte seinen Sohn wieder auf. Ich hatte mir im Januar ein paar Mal den Arsch abgefroren, konnte ihm eine schriftliche Nachricht zukommen lassen. In etwa, dass Blut dicker als Wasser sei, und: scheiß auf das verlorene Geld! Ich hätte für alles Verständnis und sei auch nicht mehr böse. Ich möchte nur meinen Sohn wiederhaben. Meine Telefonnummer als Unterschrift.
Vielfacher Opa!
Wenige Tage später erreichte ihn meine Nachricht. Ich machte gerade ein Mittagsschläfchen, als meine Brieffreundin mir das Telefon brachte. Mein Hals schnürte sich zu, meine Tränendrüsen waren auch beteiligt. Wann und wo wir uns sehen könnten, fragte mein Sohn. Ich konnte halbwegs stammeln; die Adresse und bei wem er klingeln solle. Überhaupt keinen Sinn mehr, den unterbrochenen Mittagsschlaf fortzusetzen, nachdem er gesagt hatte, dass er mit seiner Freundin ohnehin ganz in der Nähe sei. Als es klingelte raste ich zum Türspion. Aus dem Fahrstuhl trat ein echt stattlicher Mann, im Schlepptau, in seiner Begleitung eine zierliche, nett anzusehende weibliche Person. Und noch jemand kam aus dem Fahrstuhl, ein kleiner Junge von ca. 5 Jahren, mein Enkel! Davon hatte ich deren zwei und dazu noch eine Enkelin, wie ich gleich darauf erfuhr. Mein Sohn war sogar schon verheiratet gewesen. Die Enkel allerdings hatten drei verschiedene Mütter. Dieser Schlawiner. Mein Sohn war hoffnungslos verschuldet. Bald suchte ich eine eigene Wohnung, groß genug, wo mein Sohn samt Freundin mit einzog. [13]
Witz komm raus, du bist umzingelt
Bald schon wieder war ich meinen Job los, weil der Wirt glaubte, ich hätte zuviel Interesse an seiner Frau gezeigt. Seiner Statur gemäß wurde mein Sohn gerne bei einer Security-Firma angestellt. Durch seine Fürsprache wurde auch ich in der Firma angenommen. Witz komm raus, du bist umzingelt. U.a. wurde ich bei der Eishockey-Europameisterschaft in Hannover [eingesetzt], ausgetragen auf dem Expogelände[14]. Wenig später schon wurde die CeBIT[15] eröffnet. Was heute wohl kaum noch möglich ist: ich als vorbestrafter Bankräuber wurde dazu eingeteilt (ua. weil ich mit einem schönen schwarzen Anzug bekleidet war), den Tisch zu bewachen, an dem später nach der Eröffnungsrede unser Bundeskanzler Schröder mit einer russischen Delegation Platz nahm. Erst als ich den Job gekündigt hatte, schickte man mir diverse Papiere zu, wo ich erklären sollte, nicht vorbestraft zu sein………ha..ha.
Mein Kündigungsgrund allerdings war: Während der Eröffnungsfeierlichkeiten wurde in meinem Bereich reichlich Hektik verbreitet. Im Hintergrund wurde ein riesiges Büffet aufgebaut, in unmittelbarer Nähe von mir mühte man sich ab, Tische und Stehtische für den kommenden Ansturm vorzubereiten. Die Menge an Personal war gar nicht so leicht zu rekrutieren. Man hatte alles genommen, z.B. Schüler und Studenten; mein Kellnerprofiherz begann zu bluten, was ich da an Dilettantismus mir ansehen musste. Ein schwarzgekleideter Herr im Frack und einem gepflegten Schnäuzer versuchte etwas Ordnung da reinzubringen. Da er ein Namensschild an seinem Frack trug, fragte ich ihn geradeheraus, ob er, da ja die CeBIT mit vielen Restaurants bestückt war, ob man noch Fachleute benötige. Ich brauchte nur das Hotel zu benennen, in dem ich gelernt hatte, da schaute er auf seine Uhr, bedauerte, dass es schon zu spät sei, gab mir eine Telefonnummer, wo ich unbedingt am nächsten Morgen anrufen sollte. Schon bei der Personalchefin avisiert sollte ich mich sofort auf den Weg machen, wurde ich beschieden. Ich war wieder voll in meinem Element und der Verdienst war auch nicht schlecht. Nicht nur während der Messe war ich gefragt, im Laufe des Jahres gab es auf dem Expogelände reichlich Events und Betriebsfeiern. Ich meldete mich ganz brav für die Tage, wo ich einen Job hatte, beim Arbeitsamt ab, nahm noch einen zweiten Aushilfsjob als Kellner an und der Aufstieg begann mit sage und schreibe 61!!
§§§
Hier endet die in sich geschlossene und von ihm vorgelegte Darstellung des Lebenslaufs von Dieter Schulz. „Der Aufstieg begann mit sage und schreibe 61!!“, schreibt er.
Doch wie ging es weiter?
Sein Kontakt zu mir begann am 30. März 2005 mit einem Mail, da war Schulz 64 Jahre alt: „Guten Tag Herr Schaefer, wie das Leben einem so mitspielt, dachte ich erst gestern, als ich im ZDF den bewußten Bericht über Kriegskinder sah.“
Ich hatte an der Evangelischen Akademie Bad Boll zu der Zeit insgesamt drei „Kriegskindertagungen“ organisiert. Er hatte im Netz nach Schicksalsparallelen gesucht und war dabei auf mich gestoßen. Ich ging auf ihn ein und erfuhr von seinem Manuskript. Der Mailwechsel hatte mich neugierig gemacht und ich hatte gemerkt, dass Dieter Schulz Gesprächspartner suchte. Er war, wie er schrieb, in einer „Depri-Phase“. Zwei Dinge halfen ihm, da rauszukommen. Der Kontakt mit mir und die Aussicht, sein Leben in einem Buch, vielleicht gar in einem Film darzustellen, und dann seine „Wahlfamilie“ in Königsberg. Dort wollte er sein Leben beschließen. Dazu mehr im Anhang.
Am 12. August 2005 lernten wir uns aus Anlass eines Gesprächs mit den Dokumentarfilmern Dr. Krieg und seiner Frau Monika Nolte in Köln persönlich kennen. Ich hatte ihm am 9. August gemailt: „Dr. Krieg übernimmt Ihre Fahrtkosten. Ich stehe ab 14:12 h am Aufgang zu Gleis 10 und halte eine blaue Kriegskinder-Dokumentation, die Sie ja kennen, in der Hand. Dann fahren wir gemeinsam mit der S-Bahn nach Deutz. Ich melde uns für spätestens 15:15 bei Dr. Krieg an, dann haben wir noch ein bißchen Luft, uns vorher persönlich kennenzulernen.“
Er war zu dieser Zeit „voll-fit“; wir sprachen lange miteinander und er erzählte von seinem Leben nach der Niederschrift seiner 111-Seiten-Autobiographie. Wir bekamen einen Einblick in das Milieu von Unterschichtkriminalität und staunten. Das wollten wir natürlich als Fortsetzung der bisherigen Biographie für ein Buch- und Filmprojekt haben. Schulz sagte zu und lieferte bis hin zu dem hier mit Kapitel 42 abgeschlossenen Teil. Das Filmprojekt mit Dr. Krieg lief an, eine Fahrt mit Dieter Schulz nach Königsberg mit Einsatz der Handkamera und Recherchen nach im Text genannten Personen. Alles sehr erfolgreich. Doch Dr. Krieg konnte keine Geldgeber für den geplanten Doku-Film auftreiben und ich keinen Verlag für das Buch.
Das 42. Kapitel konnte Herr Schulz nur unter Mühen schreiben, denn er hatte zu diesem Zeitpunkt zwei Schlaganfälle hinter sich, war seit 2007 auf einen Rollator angewiesen und konnte nur einhändig tippen. Er mailte es mir am 24.8.2011. Der Gesundheitszustand (bei klarem Kopf) erklärt die durchgängige Kleinschreibung in seinem Mail und wohl auch die sonstigen Ausfallserscheinungen schon zum Zeitpunkt der Abfassung seines Mails. Es machte ziemlich viel Mühe, dieses Mail werkgetreu zu überarbeiten. Inzwischen sitzt Dieter Schulz nach mindestens dem dritten Schlaganfall im Rollstuhl und in Telefongesprächen habe ich oft Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Dann blieb das Projekt trotz mancher Versuche einen Verlag zu finden erst einmal liegen; schließlich kam ich auf die Idee, es kapitelweise hier im Blog zu veröffentlichen. Dieter Schulz stimmte zu – und meine Arbeit begann im Juli 2016. Sie ist noch nicht abgeschlossen.
Wie soll es weitergehen?
Geplant ist eine PDF-Gesamtfassung mit Vor- und Nachwort sowie einem Materialanhang hier im Blog; wenn’s klappt bis Ende des Jahres. PDF deshalb, weil die typographischen Möglichkeiten in meinem Blog nicht zufriedenstellend sind. Vielleicht wird es auch ein echtes eBook oder ein Buch in einer kriminologischen Reihe geben. Toll wäre es, wenn sich jemand aus dem Bereich Sozialpsychologie/Psychologie/Kriminologie finden ließe, der am Beispiel von Dieter Schulz eine Masterarbeit zu Fragen krimineller Karrieren verfasst. Das wäre zwar das sprichwörtliche weite Feld, das aber abzugrenzen wäre. Auch der Mailverkehr mit Dieter Schulz ist eine wahre Fundgrube wie auch einiges aus seinem Besitz, mir von ihm zur Verfügung gestellt.
Das „Cover“ aber steht schon und wird bei Veröffentlichung der Gesamtausgabe hier im Blog wieder auftauchen.
Mir hat der Lebenslauf von Dieter Schulz die Augen geöffnet für meine oft unverdienten Chancen im eigenen Leben und ich habe Respekt gewonnen für seine Lebensleistung, auch wenn sie über weite Strecken hinweg eine kriminelle war.
Dierk Schäfer
Fußnoten
[1] Dieter Schulz benutzt SEK (Spezialeinsatzkommando) https://de.wikipedia.org/wiki/Spezialeinsatzkommando stets in maskuliner Form. Das hat mich gestört. Ich war 15 Jahre Polizeipfarrer und habe mit SEK und MEK https://de.wikipedia.org/wiki/Mobiles_Einsatzkommando gearbeitet. Ich hab’s verbessert.
[2] Natürlich die „impertinenten“ Bullen. https://de.wikipedia.org/wiki/Impertinenz Ich hab’s nicht verbessert, weil Schulzes Umgang mit Fremdwörtern zuweilen an die sympathische Figur des „Bräsig“ aus Fritz Reuters Ut mine Stromtid erinnert.
[3] Dieter Schulz benutzt in grimmiger Überzeugung für Reni, Freifrau, Renate von … die Bezeichnung „Dummfick“. Immerhin hat schließlich ihre unbedachte Äußerung gegenüber der Polizei zur Aufklärung des Bankraubs und seiner Verurteilung geführt, auch wenn er mit der Mordsache nichts zu tun hatte. „Ich nenne sie nur noch Dummfick“, sagte er mit viel Affekt in der Stimme bei unserem Gespräch in Köln. Im Folgenden werde ich die Anführungszeichen bei Dummfick weggelassen.
[4] Die Initialen mit Adelstitel.
[5] Helga auf der steilen Treppe des Amsterdamer Drogenlieferanten. Photo aus dem Besitz von Dieter Schulz.
[6] Dazu mehr im Anhang der Gesamtausgabe
[7] „Der neue Schein ist zwar computerlesbar und automatensicher, aber in puncto Kopierer ist er schlechter als der alte.“ Hier wird auch der Komplize Wolf-Detlev Kaufmann erwähnt: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488254.html
[8] Sicherheitsverwahrung
[9] § 55, Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe https://dejure.org/gesetze/StGB/55.html
[10] http://smith-wessonforum.com/s-w-hand-ejectors-1896-1961/132608-big-magnum-bigger-magnum.html
[11] Im Telefongespräch zweifelte Dieter Schulz einen natürlichen Tod an und meinte: Der wurde gestorben.
[12] Noch heute werden Strafgefangene für ihre Arbeit im Gefängnis um ihre Rentenansprüche betrogen.
[13] Mail vom 5. Oktober 2007: Das Neueste ist: ich bin mit meinem Sohn in ein Haus in Wunstorf eingezogen. Einer meiner größten Fehler des Lebens! Ich bin schon wieder auf der Suche nach einer Bleibe. Das haut heutzutage einfach nicht hin, drei Generationen unter einem Dach.
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Expo_2000
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/CeBIT
Inhaltsverzeichnis _Inhaltsverzeichnis
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 39 f
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Neununddreißigstes Kapitel
Banküberfall erfolgreich abgeschlossen – wohin mit dem Geld?
Dieser gehirnbenebelte Idiot war drauf und dran unsere Aktion vorzeitig zu beenden. Wollte er doch auf den Polizeiwagen ballern, der sich auf der in Gegenrichtung befindlichen Fahrbahn mitten in einem Stau befand. Es ist doch ganz natürlich, dass man in einer Stadt mal einem Polizeiwagen begegnet. Wäre unser Auto schon zur Fahndung ausgeschrieben, hätte man irgendwo Straßensperren errichtet, unmittelbar nach dem Raub die Ausfallstraßen aus Eisenhüttenstadt heraus. Ich zweifelte ja gar nicht daran, dass er mit seinem Ballermann mit einem gezielten Schuss den Motor des Polizeiautos außer Gefecht setzen könne. Nur würde das dann wirklich eine Jagd auf uns auslösen. Mit diesen Argumenten konnte ich ihn dann doch noch wieder beruhigen. Wolfgangs Hektik musste ich dann noch ein zweites Mal unterbinden. Kurz vor dem ehemaligen Grenzübergang Marienborn/Helmstedt hörten wir das typische Geräusch, welches Polizeiautos so an sich haben, wenn sie schnell zu einem Einsatzort müssen. Wieder hatte Wolfgang seinen Schießprügel zur Hand das Seitenfenster heruntergedreht. Ob er denn meine, die Polizei sei so doof, sich mit Martinshorn anzumelden, wenn sie drei bewaffnete Bankräuber im Begriff sei festzunehmen? Wahrscheinlich, wovon wir dann auch schnell überzeugt wurden, wären die zu einem Autobahnunfall unterwegs. Kein Wunder, dass Wolfgang überall Gespenster sah. Wann war er schon mal mit einem Auto unterwegs gewesen? Zumindest in den letzten 20 Jahren. Wieder gelang es mir Wolfgang zu beruhigen.
Sie habe sich neu verlobt.
Sehr bald steckten wir in einem Stau. Wir erreichten gerade noch so eben die Autobahnraststätte Marienborn, ergatterten einen der letzten noch freien Parkplätze. Den so erzwungenen Aufenthalt nahmen wir dann auch gleich für eine Nahrungsaufnahme, die erste seit dem Frühstück. Wolfgang, inzwischen ganz euphorisch, nutzte die Fahrtpause dazu, seine adelige Freundin in Hannover anzurufen. Er kündigte an, recht bald wieder zuhause zu sein. Sie solle, falls Gäste in der Wohnung wären, diese wegschicken. Sie beide hätten allen Grund eine kleine Privatfeier zu starten. Wie ich erst viel später erfuhr, hatte Reni gar nicht daran gedacht ihre Gäste weg zu schicken. Im Gegenteil. Sie konfrontierte ihren Verlobten mit der Aussage, dass sie sich neu verlobt hätte. Und zwar mit seinem ehemaligen Knastbruder Bruno Reckert. Sie erinnern sich? Das war der meistgesuchte Verbrecher von Deutschland zu der Zeit, weil er sich mit einer Waffe aus der JVA Lingen selbst entlassen hatte. Wolfgang nahm diese Kündigung gelassen hin. Voller Stolz zeigte er den Anwesenden seine Beute und meinte, dass er ein paar Tage brauche, um sich selbst eine Wohnung zu suchen. Diese authentischen Insider-Informationen erhielt ich später in der JVA Celle von einem der an diesem Abend Anwesenden. Paule traf ich dort wieder, weil er 15 Jahre sitzen musste und im Anschluss an die 15 Jahre noch einmal LL[1]. Die 15 Jahre Höchststrafe für die Überfälle, die er gemeinsam mit Bruno Reckert begangen hatte. LL gibt es nur für Mord! Aber darauf komme ich noch zurück.
Am 20ten November 1990, einem Freitag, waren wir 13 Stunden nach dem Banküberfall wieder in Hannover. Für den kommenden Sonntag hatten wir ausgemacht, dass ich ihm[2] 200 Gramm Haschisch vorbeibringen würde. Für seinen jüngeren Bruder, der bei der Bundeswehr diente. Schon bei diesem Besuch merkte ich, dass zwischen Wolfgang und Reni nicht alles so war, wie bei meinen früheren Besuchen. Ich sprach ihn deswegen an, als wir eine Weile alleine im Wohnzimmer saßen. Wolfgang meinte nur, dass er mich die Tage anrufen würde. Er wollte sich dann mit mir treffen und alles erklären. Es kam aber zu keinem weiteren Treffen.
An jenem Freitagabend setzte ich Harry in seinem geliebten Rotlichtviertel ab. Er überredete mich, doch wenigstens einmal auf unseren gelungenen Coup anzustoßen. In einer von ihm bevorzugten Bar bestellte er zwei Bier für uns und fragte natürlich die anwesenden Animierdamen und den Wirt selbst, ob sie mit ihm was mittrinken würden. Natürlich ließen die sich nicht großartig bitten. Wofür waren sie schließlich Animierdamen? Harry, der von mir vornehmlich kleine Scheine von der Beute erhalten hatte, holte selbstverständlich einen von den wenigen Zweihundertern heraus und zahlte seine Zeche sofort. Alle sollten sehen, dass er wieder einmal ein Vollstecker[3] war. Dementsprechend war er auch mit dem Trinkgeld mehr als großzügig. Ich nuckelte man gerade aus Höflichkeit an meinem Bier. Harry dagegen hatte seine Flasche mit fast einem Zug geleert. Und schon hieß es für ihn eine neue Runde. Für alle versteht sich. Ich selbst lehnte dankend ab. Ich musste ja noch Auto fahren. Ich durchschaute sein Spielchen. Wieder zahlte er aus der Tasche, wo sich die Zweihunderter befanden. Diese Großkotzigkeit schien man hier am Steintor von Harry schon zu kennen. Allen war klar, dass Harry wieder ein größeres Ding mit Erfolg abgezogen hatte. Ich dachte gar nicht daran, mich von den Animierdamen becircen zu lassen. Anders dagegen Harry. Der hatte schon längst eines der Mädchen auf seinem Schoß sitzen und seine Finger sonst wo. Trotz aller Überredungskünste ließ ich mich nicht darauf ein, mich weiterhin von Harry einladen zu lassen. Ich wollte ganz einfach nach Hause, zu meinem Sohn und meiner Lebensgefährtin.
Wann in meinem Leben wurde ich auch schon mal belobigt?
Helga wollte natürlich eine Erklärung von mir, warum ich so plötzlich und so lange die Wohnung verlassen hätte. Sie war auch gerade erst von ihrer Spätschicht nach Hause gekommen. Mein Vertrauen zu Helga war derzeit noch riesengroß. Hinzu kam noch, dass auch ich endlich meiner angestauten Freude über das Gelingen des Raubzuges Luft verschaffen musste. Ein wenig Bewunderung, was meiner Seele gut tun würde, hatte ich mir verdient. Wortlos zog ich den Reißverschluss meiner Erste-Hilfe-Tasche auf und schüttete die Geldbündel zwischen uns auf die Couch. Solch einen Geldsegen hatte meine hochverschuldete Helga noch nie auf einem Haufen gesehen. Ihre schönen großen Augen, in die ich mich eigentlich verliebt hatte, wurden noch viel größer. An dem Tag, als ich von ihrem miesen Kontostand erfuhr, hatte ich ihr versprochen, dass wir zusammen das wieder auf die Reihe kriegen würden. Mit diesem Einreden [?] konnte ich mein Versprechen einlösen. Zunächst einmal konnte sie gar nicht glauben, was sie da sah. Sie wollte dafür eine Erklärung haben. Die gab ich ihr auch, ohne etwas an der Wahrheit zu beschönigen. Ihre bewundernden Blicke gingen mir wie Honig herunter. Wann in meinem Leben wurde ich auch schon mal belobigt?
Am nächsten Tag schon ließ ich mich auch bei meinem Geschäftspartner im Büro blicken und konnte ihm grünes Licht für unser Vorhaben geben. Das heißt, ich konnte ihm verkünden, dass die weitere Finanzierung gesichert sei. Im Glauben daran, dass ein Geschäftspartner, mit dem ich ein viel größeres Ding abzuziehen im Begriff stand, der ja selbst ein vielfach Vorbestrafter war, den könnte ich ebenfalls einweihen, woher das Geld stammte, schenkte auch ihm reinen Wein ein. Meine Gutgläubigkeit an Menschen war eben grenzenlos. Ich unbelehrbarer Idiot lernte wohl nie aus! Ich brachte noch schnell das Haschisch unter die Leute. War ich doch nach meiner Einkaufsreise nach Amsterdam gleich zu dem anderen Coup abberufen worden, hatte somit noch den gesamten 3-Kilo-Vorrat im Bunker. Nicht dass ich jetzt unbedingt Geld benötigt hätte. Das Warmhalten meines Großdealers in Amsterdam gehörte ganz einfach zu meinen zukünftigen Plänen in Verbindung mit den selbsthergestellten Geldscheinen. Längst hatte ich das volle Vertrauen meines Geschäftspartners in Amsterdam erworben.
Ich glaubte, ich würde fliegen.
Der Besitzer eines pikfeinen Coffee-Shops in der City von Amsterdam hatte natürlich niemals solche großen Vorräte im Haus, wie ich sie jedesmal haben wollte. Haschisch an sich war in Holland ganz legal zu erwerben, aber auch nur bis zu fünf Gramm pro Person. Zählte er die ersten Male noch ganz pingelig die Scheine ab, die ich ihm beim Kauf der Ware rüberreichte, so legte er später meine Geldbündel ziemlich achtlos zur Seite und bestand darauf, dass ich die Ware auch noch selbst prüfte. Ich jedoch begnügte mich damit die Qualität mit meinem Geruchssinn festzustellen. Einmal hatte ich aus der Wasserpfeife ein paar Züge getan. Als ich die 500 Kilometer lange Rückfahrt nach Hannover antrat glaubte ich, hinter dem Steuer meines Autos sitzend, ich würde fliegen. Ich schaffte es gerade mal bis zur Autobahn. Dann übergab ich das Steuer an Helga und legte mich auf die Rückbank zum Schlafen hin. Diese verfehlte dann auch prompt die Abzweigung in Richtung Venlo.
So wie er mir also vertraute, vertraute ich ihm, was die Qualität anging. Auf Drängen meiner Abnehmer in Hannover fuhr ich einmal an einem Sonntag nach Amsterdam. Sein Personal gab sich alle Mühe, ihren Chef aufzutreiben. Bis der dann endlich eintraf, die benötigte Ware beisammen hatte, das Ganze schön vakuumverpackt bereit zum Transport war, vergingen Stunden. In der Zwischenzeit wurden ich und Helga hofiert wie Staatsgäste. Es wurde nicht zugelassen, dass wir in ein nahegelegenes Restaurant gingen. Der Chef persönlich besorgte uns eine Speisekarte und holte dann auch selbst das ausgesuchte Menu. In besagten Coffee-Shops wurde laut Gesetz auch kein Alkohol ausgeschenkt. Ein Bier zum Essen wurde ebenfalls aus der Nachbarschaft herbeigeschafft. Während wir uns mit Speis und Trank stärkten, drehte man wegen der übrigen Gäste die Musik auf volle Lautstärke. Die eilig herbeigeschafften Einzelteile, die für das Vakuumverpacken nötig waren, wurden im Getränkelager aufgebaut. Die laute Musik deshalb, weil der eigentliche Vorgang beim Absaugen und Verschweißen in Frischhaltefolien einen unheimlichen Krach machte. Diesem sonntäglichen Stress wollte sich mein Geschäftspartner nicht unbedingt noch einmal unterziehen. Deshalb gab er mir seine direkte Durchwahl-Telefonnummer. Damit konnte ich meine Bestellung schon vor Abfahrt aus Hannover durchgeben. Was den Vorteil hatte, dass alles schon säuberlich verpackt war, wenn wir dort ankamen. Längst hatte er mir das Angebot unterbreitet, doch mal eine Sammelbestellung zu machen. Bei der Abnahme von 20 Kilo und mehr würde er alles frei Haus liefern. Schon als die Sache mit der eigenen Geldherstellung Konturen annahm machte ich ihm Hoffnungen, dass ich daran arbeiten würde. Einige solvente Türken in Hannover würden mich schon länger bedrängen, für sie nicht nur Haschisch mitzubringen. Was ja auch den Tatsachen entsprach.
Ich sagte Detlev nicht, wie ich das Geld waschen wollte.
Ich gab dem Mann in Amsterdam vorsorglich schon mal einen Tipp, in welcher, wenn überhaupt, Größenordnung ich da einsteigen würde, weil ich ja das Risiko tragen würde und es sich von daher auch schon lohnen müsse. Skeptisch fragte ich ihn, ob er solch eine Menge auch bewerkstelligen könne. Er schien beleidigt zu sein. Ich bin daraufhin eine so schmale Treppe hinaufgestiegen.[4] [Die gibt es] noch nicht einmal auf einem Schiff. Voller Stolz zeigte er mir sein Warenlager. Es mussten Millionenwerte sein, die er vorrätig hielt. Generös bot er mir eine Nase Koks an. Ich, keine Ahnung wie man das Zeugs anwendete, tat das, was man mir mal darüber gesagt hatte, wie man die Qualität testen könne. Ich rieb mir etwas davon aufs Zahnfleisch. „Papperlapapp! So macht man das!“. Er bereitete zwei Linien auf einem Spiegel vor und zog sich diese mit einem silbernen Röhrchen in die Nase. Beim Weglegen des Röhrchens stieß er versehentlich mit dem Ellenbogen gegen das noch fast volle Päckchen mit dem übrigen Koks. Es fiel auf den Teppichboden, verteilte sich dort. Er machte sich erst gar nicht die Mühe das Häufchen wieder in den Beutel zu kratzen. Er trat ganz einfach mit seinem Schuh drauf und verrieb es in den Teppich. Auf welche Weise ich vorhatte unser Geld zu waschen, hatte ich Detlev bisher nicht verraten. Aus welchen Gründen auch immer. Mein Plan war, auf keinen Fall mehr als 1,5 Millionen in Umlauf zu bringen. Und das möglichst gezielt an einer Stelle. Dann sollte durch drei geteilt werden und Schluss. Notfalls, so hatte ich ihm und seiner Schwester erklärt , die ja die eingetragene Geschäftsführerin war, würde ich das Kopiergerät eigenhändig zerstören. Mit jeweils einer halben Million konnte man sich sehr gut ein solides, legales Geschäft aufbauen. Können Sie sich schon denken, worauf ich abzielte?
Obwohl ich das volle Vertrauen meines Amsterdamer Geschäftspartners genoss, hatte ich mir schon längst ein Pseudonym zugelegt. Auch hatte er nie mein Auto zu Gesicht bekommen. So konnte ich ihm weismachen, dass ich aus Frankfurt käme und dort ein mehr schlecht als recht gehendes Immobilienbüro betreibe. Weshalb ich auch dieses Nebengeschäft betreibe. Im Falle, dass unser großangelegtes Geschäft zum Tragen kommen würde, hätte ich kurzfristig ein Büro in Frankfurt angemietet, ein dementsprechendes Aushängeschild angebracht und mir die Ware dorthin schicken lassen. Wie später von der Bundesbank bestätigt wurde, war unser „Geld“ wirklich gut. Es dauerte Wochen bis man dies entdeckte. Wie also sollte mein Lieferant den Betrug auf Anhieb erkennen? Er wäre damit zurück nach Holland gefahren, hätte allerfrühestens nach ein paar Tagen den Beschiss bemerkt. Wahrscheinlich wäre er sogar im Knast gelandet. Selbst wenn er so einen langen Arm gehabt hätte, mich suchen zu lassen, hätte er sich daran die Zähne ausgebissen. Bis er oder seine beauftragten Häscher festgestellt hätten, dass es mich in Frankfurt gar nicht gab, wäre ich schon längst im „Erholungsurlaub!“
Gezielt im Knast untertauchen
Ich hatte schon lange genügend Connection bei gewissen Türken aufgebaut, um zu wissen, dass es kein Problem darstellte, Marihuana, Koks und auch Heroin in dieser Größenordnung mit einem Schlag loszuwerden. Natürlich nicht zu meinem Einkaufspreis. Detlev brauchte ja nicht zu wissen, dass ich dabei mein eigenes Süppchen kochte. Mir wären dabei nämlich unter dem Strich etwa zwei Millionen übrig geblieben, während er und seine Schwester die vereinbarten Fünfhunderttausend bekamen. Abzüglich der von mir verauslagten Unkosten, versteht sich. Sobald besagtes Geschäft abgeschlossen war, hätte ich mich, um mich vor eventuellen Verfolgern aus Holland zu schützen, beim Gericht gemeldet und darum gebeten meine laufende Bewährungsstrafe zu widerrufen. Mit vorgeschobenen Begründungen hätte man meinem Ersuchen zustimmen müssen. Ich würde meine Bewährungsstrafe resultierend aus der Münzgeschichte als Erholungsurlaub betrachten. Meine letzte Reise nach Amsterdam hatte ich auf zwei Krücken gehend angetreten. Schuld daran war so ein böser Rottweiler, der mir kräftig ins Bein gebissen hatte. Eine schmerzhafte aber nicht zu ändernde Tatsache. Ansonsten lief alles bestens.
Die Geschichte mit Eisenhüttenstadt, wo wir uns ein Darlehen gegen eine Sicherheit von nur 9mm[5] geholt hatten, schien längst in Vergessenheit geraten zu sein. Zumindest hatte die Polizei dort schon längst die Hoffnung aufgegeben, den Fall noch lösen zu können. Ein kleiner, beleidigter Straßendealer seines Zeichens Junkie, den ich nicht mehr für wert hielt von mir Ware zu beziehen, weil er seine Schulden bei mir nicht bezahlte, machte meine ganzen Zukunftspläne zunichte. Mit 500 Gramm Hasch im Auto fuhr ich in die City, wo ich einen Liefertermin einhalten wollte. Helga war zu ihrer Spätschicht gefahren, mein Sohn hatte sich mit seinen 15 Lenzen schon bei seiner Freundin einquartiert. Ich hatte Langeweile, fuhr deshalb schon frühzeitig in die Stadt. Wie ich so an meinen Krücken durch die Passerelle humpele, werde ich von gleich vier Zivilbullen eingekreist.
Vierzigstes Kapitel
Ein fast perfekter Mord, wenn Frau „Dummfick“ nicht gewesen wäre.
Mir ihre Hundemarken vor die Augen haltend verlangen sie von mir die Taschen zu leeren. Dummerweise hatte ich ganz gegen meiner Gewohnheit 24 Gramm der verschiedensten Haschsorten in meiner Hemdtasche. Das genügte natürlich, mich gleich aufs Revier zu schleppen. Nackt ausziehen war angesagt. Jedes Teil meiner Kleidung wurde akribisch durchsucht. Dabei ließ man mich mit nackten Füßen auf den dezemberkalten Fliesen stehen. Wie „gut“ unsere Polizei geschult ist erkannte ich daran, dass sie den kleinen Zettel (vier Mal zwei Zentimeter) geflissentlich übersah. Darauf war allerdings eine holländische Vorwahlnummer und die Direktwahl meines Lieferanten vermerkt. Dadurch, dass die Schlafmützen von Polizisten diesen so wichtigen Zettel nicht weiter beachteten, konnte ich später meine Verteidigungsstrategie vor Gericht aufbauen und gleichzeitig meine persönliche kleine Rache an meinem ehemaligen Geschäftspartner auskosten, der während meiner Abwesenheit in MEINEM Büro das Schloss ausgewechselt hatte. Sie erinnern sich, dass ich erwähnte ihm zu einer Kochlehre im Gefängnis verholfen zu haben?
Ich dachte gar nicht daran, der Polizei ihre Arbeit leicht zu machen.
Den so wichtigen Zettel in meiner Brieftasche hatten die Bullen übersehen. Sie übersahen allerdings nicht, dass sich an meinem Schlüsselbund ein Autoschlüssel befand. Sie wollten wissen, wo das Auto steht. Wusste ich doch, dass ich aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen würde, würde man das Auto durchsuchen und die 500 Gramm darin finden. Ich versuchte sie deshalb hinters Licht zu führen, behauptete, dass meine Verlobte damit zur Arbeit gefahren sei und dies nur ein Zweitschlüssel sei. Offiziell lief der Wagen ja sowieso auf ihren Namen. Leider glaubten sie mir diese Geschichte nicht. Nach etwa einer halben Stunde kamen zwei meiner Häscher triumphierend zurück zur Wache. Meinen Aktenkoffer in der Hand, worin sich die 500 Gramm befanden. Ade, du schönes, weiches Bett zu Hause!
Ich dachte gar nicht daran, der Polizei ihre Arbeit leicht zu machen. Wenn sie mich schon für ein paar Jahre einbuchten wollten, sollten sie gefälligst auch etwas dafür tun. Zunächst bemühten sie sich, einen Drogenspürhund aufzutreiben. Selbstverständlich hatten sie vor, auch meine Wohnung nach weiteren Drogen zu durchsuchen. Weit und breit war kein solcher Hund verfügbar. Nicht einmal der Zoll vom Langenhagener Flugplatz konnte ihnen helfen. So mussten die Bullen sich auf ihre eigenen Nasen verlassen. Als erstes rissen sie die schmiedeeiserne Flurgarderobe aus der Verankerung, als wir in der Wohnung ankamen. Ein zweiter stieß die Badezimmertüre mit einem Fußtritt auf, stürmte bis ans Ende zur Toilette hin, trat auch dort kräftig gegen den Klodeckel und riss fast den Wasserkasten aus der Wand. Mit den Türen des Alibertschrankes ging er auch nicht gerade zimperlich um. Dies alles geschah aus Frust darüber, dass sie mir keine ihnen genehme Aussage hatten entlocken können. Nachdem er sich im Badezimmer ausgetobt hatte, nahm er sich die Küche vor. Dort, so wusste ich, würde er pfundig[6] werden.
Der Begriff Vandalismus bekam für mich eine ganz neue Bedeutung.
Im Regal, gleich über dem Gewürzständer lag eine Zigarilloschachtel aus Blech. Darin befanden sich ein paar Gramm. Das waren kleine Bruchstücke, die von den Haschischplatten abgesplittert waren, wenn ich die Platten auf genau 100 Gramm zurechtschnitt. Die Menge war kaum der Rede wert, nachdem man ja schon 500 Gramm im Auto gefunden hatte und fiel nicht weiter ins Gewicht. Mit einer Acht an den Händen gefesselt stieß man mich im Wohnzimmer auf die Couch und erlaubte mir sogar, mir eine Zigarette zu drehen. „Hier ist bestimmt noch mehr!“ kam der aus der Küche freudestrahlend ins Wohnzimmer. Dabei wies er auf die kleinen Bruchstücke in der Blechschachtel aus der Küche. Dann begab er sich in das Zimmer, wo mein Sohn noch bis vor kurzem sein Domizil gehabt hatte. Ein anderer filzte das Wohnzimmer, wobei er sämtliche Schubladen herausriss. Noch nicht einmal den Sittichkäfig ließ er aus. Ich dagegen beobachtete angespannt, was der im Kinderzimmer anstellte. Darin stand auch unser Staubsauger. In diesem Staubsauger hatte ich als Notgroschen 5000 Mark versteckt. Würde der Bulle das Geld finden? Was würde er mit dem Fund tun? Würde er der Versuchung widerstehen, die nicht gerade unerhebliche Summe einzustecken? Würde er so denken wie ich? Es war ja nicht davon auszugehen, dass ich ihn fragen würde, ob er die 5000 Mark gefunden hätte. Er hätte sich also gut und gerne die etwa zwei Monatsgehälter unbemerkt einstecken können. Immerhin dauerte es fast ein halbes Jahr, bis ich Gewissheit darüber erhielt, ob das Geld im Staubsauger gefunden worden war. Im Beschlagnahmeprotokoll jedenfalls stand nichts davon. Was allerdings gar nichts heißen sollte. Aber auch dieser Mann hatte eine schlechte Polizeischule besucht oder nicht gut genug aufgepasst.
Dafür aber überraschte mich der Typ aus dem Schlafzimmer. Kurz zuvor hatte ich ihn noch gefragt, ob er das bei sich zu Hause auch machen würde, nämlich sich mit den Schuhen auf meinem Bettlaken stehend räumte er den Kleiderschrank auf. Und wie. Wahllos zerrte er alles daraus hervor, ließ alles auf die Erde fallen, ohne sich zu vergewissern, ob sich zwischen den Kleidungsstücken nicht etwas versteckt sei. Der Begriff Vandalismus bekam für mich eine ganz neue Bedeutung. Seine Antwort auf meine Beschwerde, dass er mit Schuhen auf meinem Bett stand, tat er mit den Worten ab: „Das macht gar nichts. In diesem Bett wirst du in den nächsten Jahren ohnehin nicht mehr schlafen!“ Dass ich seitdem kein gutes Verhältnis mehr zu unserem Freund und Helfer aufbauen konnte, werden Sie vielleicht verstehen!?
„Bingo!“ – „Der Nikolaus war da!“
Das war aber gar nicht die angekündigte Überraschung. Erst als der Kerl meine Seite des Doppelbettes hochgeklappt hatte und eine Keksbüchse hochhielt und „Bingo!“ rief, erkannte ich den Grund seiner Freude. Bei den Kilomengen Hasch, die ich fast immer vorrätig hatte, war mir gar nicht aufgefallen, dass mir 700 Gramm irgendwie fehlten. Als der Bulle seine Trophäe in die Höhe hielt und Bingo rief, fiel mir siedend heiß ein, wieso ihm dieser Fund gelingen konnte. Tage zuvor war ich gerade im Begriff gewesen aus dem Haus zu gehen, um eine bestellte Lieferung pünktlich abzuliefern, klingelte das Telefon. Eine weitere Bestellung wurde mir angetragen. Diese musste ich dann noch abwiegen. Das nahm seine Zeit in Anspruch. Mein Pünktlichkeitswahn ließ es nicht zu, dass ich den Rest wie vorgesehen wieder zu dem eigentlichen Bunker (Bunker = Versteck) bringen konnte. So deponierte ich die 700 Gramm eben noch schnell im Bettkasten. Wo ich die 700 Gramm dann auch prompt vergaß. Keine Frage, dass sich die Fahnder darüber sehr freuten. So sangen sie dann auch auf der Fahrt zum Polizeipräsidium, wo sich auch das Haftgefängnis befand. Dort verblieb der vorläufig Festgenommene bis zur Vorführung bei einem Haftrichter.
Wollen Sie auch wissen was die so erfolgreichen Fahnder sangen? Weil sich meine Verhaftung am 6. Dezember ereignete, sangen sie passend dazu: „Der Nikolaus war da!“
Ich, eigentlich aus dem Alter heraus, wo man noch an den Nikolaus glaubt, hätte mir wenn schon eine ganz andere Bescherung gewünscht, als ich sie nun serviert bekam. Bevor die Bullen meine Verhaftung mit besagtem Gesang feiern konnten, mussten sie erst noch einen Polizei Bulli bestellen. Außer der nicht gerade geringen Menge Haschisch beschlagnahmten sie auch noch sechs originalverpackte CD Player, einige schnurlose Kopfhörer und anderes zu damaliger Zeit noch recht teures Elektro-Equipment. Einige „Kleinabnehmer“ hatten nicht immer das nötige Kleingeld, um meine Ware zu bezahlen. In der Szene war es durchaus üblich, sich mit Dingen bezahlen zu lassen, deren Herkunft nicht ganz koscher war. Was sollte das? Wenn man nicht gerade im Pleitefeuer brannte, sich Zeit lassen konnte, konnte man auch an dieser Ware seinen Reibach machen. Im Verlauf der nächsten drei Monate konnte die Ermittlungsbehörde nicht feststellen, woher die bei mir gefundenen Gegenstände kamen. Zähneknirschend teilte die Polizei mir mit, dass ich mir mein „Eigentum“ wieder abholen könne. Diese Scherzkekse! Zum einen mussten sie doch wissen, dass ich mich längst in Haft befand, ich die Sachen somit nicht abholen konnte, zum anderen sagte ich ihnen am Telefon, dass sie mir die Dinge genauso wieder in die Wohnung bringen sollten, wie sie sie mitgenommen hatten. Was also blieb ihnen übrig, mir die zu unrecht beschlagnahmten Sachen auf Steuerkosten wieder ins Haus zu schaffen.
Die Strafe? Peanuts. Doch es kam noch viel dicker.
Natürlich wurde dieses Thema später bei Gericht nochmal angeschnitten. Der Richter wollte dann schon wissen, wie soviel neue Technik in mein Haus gekommen sei. Meine diesbezügliche Erklärung konnte man schlecht widerlegen. Hatte ich doch im gerade wiedervereinigten Deutschland, in der Ex-DDR eine Schwester samt Kinder und Enkelkinder. Es war doch ganz natürlich, dass ich in der Vorweihnachtszeit schon mal passende Geschenke eingekauft hätte. Auch die bei meiner Festnahme konfiszierten 1.900 Mark musste man wieder herausrücken. Gehörte das Geld doch gar nicht mir, sondern Helga, meiner schwer arbeitenden Lebensgefährtin. Das wurde dazu auch noch glaubhaft belegt, in dem wir einen Kontoauszug vorlegen konnten. Daraus ging einwandfrei hervor, dass Helga tags zuvor 2.000 Mark von ihrem Konto abgehoben hatte. Die Strafe, die ich für diesen Geschäftszweig erhielt, waren Peanuts gegen das, was danach noch dazu kommen sollte.
„Der fast perfekte Mord“
Zwischen dem Rottweilerbiss und meiner Verhaftung geschah aber noch etwas Gravierendes. Es lagen immerhin zwischen dem Ding in Eisenhüttenstadt und meiner Verhaftung wegen Drogenbesitzes ganze 16 Tage. Zunächst tangierte es mich nur peripher, als mir beim Besuch in einer Rotlichtkneipe eine Zeitung vor die Nase gelegt wurde. Ich selbst war gerade aus Frankfurt zurückgekehrt, wo ich mich schon mal nach einem geeigneten Büro umgeschaut hatte für das viel größere anstehende Geschäft. So war ich als fleißiger Zeitungsleser nicht auf dem Laufenden. Irgendwie, wahrscheinlich durch Harrys Propaganda, war ich zu einer Nummer im Milieu gekommen. Gespannt beobachtete man mich als ich die Überschrift las.
„Der fast perfekte Mord“ stand da in großen Lettern als Überschrift. Dass der fast perfekte Mord an meinem Mittäter beim Banküberfall in Eisenhüttenstadt stattgefunden hatte, erfuhr ich erst aus dem fast ganzseitigen Artikel der Zeitung. Na und? Welche Schuld traf mich dabei? fragte ich mich. So eine enge Freundschaft hatten wir ja nicht gepflegt, als das es mich weiter belastete. An den Tod war ich schon während meiner Kindheit gewöhnt worden. Der Zeitungsartikel war wie gewöhnlich in solchen Fällen ziemlich reißerisch aufgemacht. Jedoch dachte ich nicht daran mich bei der Polizei zu melden, um einiges richtigzustellen. Es waren ja auch nur Vermutungen, die das in der Zeitung Geschilderte in gewissen Punkten hätten widerlegen können. An Wolfgangs Tod ließ sich ohnehin nichts mehr ändern. Mein Kopf war mit ganz anderen Problemen beschäftigt. Ganze acht Tage hatte Wolfgang sich an seiner Beute noch erfreuen können, während ich einen Großteil meiner Beute in das nächste Geschäft investiert hatte. Dieses Geschäft wollte gut durchdacht sein, wollte ich mich doch danach endgültig aus diesem Milieu verabschieden.
Doch wie bereits bekannt sollte es dazu nicht mehr kommen. Das Schicksal hatte eine andere Zukunft für mich vorgesehen. Die so gar nicht meinen rosaroten Träumen entsprach. Ich wurde also ins Polizeigefängnis verbracht. In einem zweiten Polizeiauto, welches zur gleichen Zeit mit uns dort eintraf, saß Helga. Weil die 700 Gramm Hasch in unserem Doppelbett gefunden wurde, hatte man sie natürlich gleichfalls in Verdacht, dass sie an dem nicht ganz legalen Drogenhandel beteiligt sei. Was im Grunde genommen ja auch stimmte. War sie doch jedesmal bei meinen Amsterdamreisen dabei gewesen, hatte selbst Bestellungen am Telefon angenommen, wenn ich nicht da war. Obwohl sie an allen Aktivitäten, einschließlich der Londonreisen teilgenommen hatte, sie auch die erste war, die von der Bankbeute wusste und davon profitierte, habe ich es geschafft, sie vor Gericht da vollkommen rauszuhalten. Ihren Dank dafür bekam ich erst später präsentiert.
Die Selbstmordgefahr ist in der ersten Haftnacht am größten.
Aus Frust darüber, dass die Bullen mir kein Geständnis hatten entlocken können, hatten sie mich trotz meiner Gehbehinderung mit auf dem Rücken gefesselten Händen durch die Stadt kutschiert. Selbstverständlich waren die Handschellen bis an den Anschlagspunkt eingerastet worden. Purer Sadismus musste dabei eine Rolle spielen, wenn sie die Kurven so nahmen, dass ich auf dem Rücksitz hin und her geschleudert werden musste. Mit den Füßen fand ich auch keinen Halt. Hatte man mir doch im Krankenhaus ganz schön viel Fleisch rund um die Bissstelle herausgeschnitten und vernäht. Jede Anstrengung tat höllisch weh. Noch saurer als sie ohnehin schon waren, wurden die mich begleitenden Bullen, als sich der Wachhabende an der Gefängnispforte weigerte, mich krückenbehafteten Neuzugang überhaupt anzunehmen. Er verlangte ordnungsgemäß von meinen Begleitern ein ärztliches Attest über meine Haftfähigkeit. Diesen konnten die natürlich nicht vorweisen. Mit viel Überredungskunst gelang es ihnen dann doch noch den Wachhabenden dazu zu überzeugen, uns einen Raum zur Verfügung zu stellen, wo wir auf das Eintreffen eines Arztes warten könnten. Es dauerte aber eine geraume Weile, bis ein solcher auftauchte. Währendessen moserte einer der Beamten herum. Wegen der Überstunden, die er meinetwegen schieben musste, und dass er wegen mir eine Fortsetzung von „Mission Impossible“ verpasse. Was gingen mich deren Probleme an. Meine Uhr hatte seit etwa 10 Stunden begonnen von meiner 10 jährigen Haftstrafe herunter zu ticken. Dann kam er endlich. Der Arzt. Nein, nicht etwa der Notarzt. Wozu hatte man seine eigenen Polizeiärzte, der aber musste erstmal seinen Job im 30 Kilometer entfernten Neustadt am Rübenberge erledigen, bevor er zu uns nach Hannover kam. Der Arzt hatte noch nicht einmal die übliche Notfallarzttasche dabei, der löste lediglich meinen Verband am Bein, besah sich die frische Wunde, erklärte mich für hafttauglich. Jeder Laie hätte den Verband besser wieder anlegen können als es dieser Arzt anschließend wieder tat. Nach ein paar Stunden Schlaf auf der versifften Strohmatratze in der Gefängniszelle hätte ich mir aus dem gelösten Verband einen Strick drehen können. Gürtel, Schnürsenkel, alles, was zum Selbstmord tauglich war, wurde ja vorsorglich jedem Gefangenen abgenommen. Es ist ja statistisch bewiesen, dass die erste Haftnacht die selbstmordgefährdeste ist. Wenige Stunden später, im richtigen Gefängnis, wo eine Zugangsuntersuchung Pflicht ist, schüttelten die Sanis dort nur den Kopf wegen meines notdürftigen Verbandes. Die drückenden Beweise, die die SOKO (dass eine SOKO eigens für mich installiert worden war, erfuhr ich erst jetzt!) gegen mich gesammelt hatte, machten es dem zuständigen Haftrichter leicht, sich für einen Haftbefehl zu entscheiden. Daran konnte auch der von Helga, die inzwischen schon wieder auf freiem Fuß war, alarmierte Rechtsanwalt nichts ändern.
Die vielfältigen Rückschläge, die ich in meinem bisherigen Leben bereits erlitten hatte, ließen es mich nicht ganz so tragisch nehmen, was mich nun erwartete. Es gibt im Leben nun mal keine Zeit, die man zurückdrehen könnte, einmal gemachte Fehler korrigieren kann man allenfalls in einem Diktat. Dass alles noch viel schlimmer kommen würde, daran dachte ich zu dieser Zeit überhaupt nicht. Einschließlich der noch offenen Bewährungsstrafe rechnete ich damit, die nächsten vier Jahre aus dem Verkehr gezogen zu werden. Im guten Amtsdeutsch begründet man eine Gefängnisstrafe mit dem Hinweis, dass durch die Inhaftierung die übrige Bevölkerung für eine Weile vor den Straftätern geschützt wird. Erst kürzlich hatte die Polizei ja wieder einen guten Fang gemacht. Sie konnte vermelden, dass der gefährliche Serienräuber Bruno Reckert wieder in das Netz des SEK gegangen war. Dass dies überhaupt möglich geworden war, lastete man meinem Mittäter Wolfgang Dietrich an. Das war auch der Grund, dass er nicht älter als 39 Jahre wurde. Sie erinnern sich? Am späten Abend des 20ten November waren wir von unserem erfolgreichen Beutezug aus Eisenhüttenstadt zurückgekehrt. Vorgesehen war aus Wolfgangs Sicht eine Feier mit seiner Verlobten. Aus seiner himmelhochjauchzenden Euphorie wurde ein Absturz der feinsten Sorte. In der Wohnung angekommen, bekam er statt eines Begrüßungsküsschen vor den Latz geknallt, dass Reni ihre Verlobung aufgelöst hätte, sich dafür seinen „Freund“ Bruno Reckert als neuen Verlobten auserkoren hatte. Nach wochenlanger Abwesenheit aus der JVA, einigen erfolgreichen Bank und Supermarktüberfällen wurde Reckert ausgerechnet drei Tage nach seiner Verlobung mit dem Fräulein von K……aus seinem Versteck geholt.
Der Streit eskalierte schließlich.
Für „Paule“ war klar, dass Wolfgang der Tippgeber gewesen sein musste. In der Wohnung des adeligen Fräuleins, wo Wolfgang noch ein Bleiberecht hatte bis er etwas anderes gefunden hatte, kam es zwischen Paule und Wolfgang zum Streit. Eben wegen des Vorwurfs, der Verräter von Bruno gewesen zu sein. Der Streit eskalierte schließlich. Paule griff sich eine in der Ecke stehende Hantelstange und zog dem Wolfgang seinen Scheitel etwas nach. Das adelige Fräulein will angeblich von dem Streit nichts mitbekommen haben. Dabei spielte sich das Ganze nur knapp einen Meter vor der Schlafzimmertüre ab. Bei der Obduktion stellte man in der Pathologie auch noch Würgemale an dem Hals des Toten fest. Meine bescheidene Insidermeinung ist die, dass ich glaube, dass Reni Wolfgangs Krawatte etwas enger zog, nachdem er schon mal ganz friedlich und wehrlos auf dem Boden lag, und sie dem Wolfgang das Weiteratmen verweigerte. Paule wurde deswegen zu LL verurteilt. Reni dagegen zu nur 7 Jahren. Während die in meinen Augen jedenfalls eigentliche Schuldige keine 5 Jahre ihrer Strafe absaß, erblindete Paule im Knast. Meine letzte Information besagt, dass er bis vor drei Jahren immer noch als Blinder im Knast saß.
Und ich dachte immer das Verbrecher eingesperrt werden, um die Bevölkerung vor weiterem Unheil zu schützen. Quizfrage: Wen kann ein Blinder noch gefährden?
An dieser Stelle könnte ich ja eigentlich aufhören, über den Fortgang meines Lebensweges zu schreiben. Dafür könnte ich ein paar Hundert Seiten Gerichtsakten kopieren und dem geneigten Leser es selbst überlassen zu entscheiden, was Recht und Gesetz sind. Ich meine aber, dass ein jeder mal, vor allen Dingen diejenigen, die selbst noch nie vor Gericht gestanden haben, erfahren sollte, welche Fallstricke die Justiz zur Verfügung hat. Klar, vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Nur! Einige sind etwas gleicher!
Ich will dabei gar nicht auf Gerichtsurteile verweisen, wo die Großkopfeten aus Politik und Wirtschaft nie eine Zelle von innen gesehen haben. Einen kleinen Zigarettenautomatenbetrüger kann man getrost ein paar Jahre gesiebte Luft verpassen. Das geht aber auf keinen Fall bei einem gewissen Grafen oder Milliardenbetrüger der Großindustrie. Die Einzigen wirklich „Prominenten“, die ich während meiner langjährigen Haftzeit kennengelernt habe, waren Männer aus der RAF, ebenso der IRA. Beide Gruppen, wovon ich einige persönlich kennenlernen und mich mit ihnen unterhalten konnte, stehen mir viel näher als die „unschuldigen“ Großabzocker. Die standen wenigstens zu ihren Taten und Ansichten. Bei mehrfachen Gesprächen mit einem gewissen Knut habe ich erst den von der Presse geprägten Ausdruck: Stockholm Syndrom[7] verstanden.
Hier darf ich noch einfügen, dass die beiden oben genannten Gruppen sich im Knast von den 15 übrigen, gemeinen Verbrechern distanzierten. Ich hatte es nur meinen Fremdsprachenkenntnissen zu verdanken, dass ich überhaupt von denen anerkannt wurde. Ohne mir teure Bücher kaufen zu müssen habe ich viel mehr von der irischen Geschichte erfahren, als ich hätte nachlesen können. Ebenso erging es mir bei dem Kontakt mit dem RAF Mann. Man möge mir meine wiederholten Abschweifungen vom eigentlichen Thema verzeihen. Doch zehnjähriges Eingesperrtsein, bedeutet noch lange nicht, dass alles spurlos an einem vorübergeht. Ereignisse finden überall statt. Ob ich nun als nackter „Wilder“ durch den Urwald husche oder mich im Großstadtdschungel bewege, so natürlich auch in einer Haftanstalt, wo es nur so von Menschen wimmelt. Menschen mit den verschiedenartigsten Charakteren. Allein das alltägliche Leben, aber insbesondere die herausragenden Ereignisse während einer langjährigen Haftzeit, würden ein dickes Buch hergeben. So einige habe ich kennengelernt, die so gar nicht scharf darauf waren, was ihnen die Haftzeit so an Abwechslungen zu bieten hatte. Sie hängten sich einfach weg. Natürlich habe auch ich oft daran gedacht. Aber ich finde dazu gehört viel Mut. Den hatte ich nun mal nicht. Ich sitze also in U-Haft, warte darauf wie es weitergeht. In der Freistunde draußen auf dem Gefängnishof treffe ich auf Paule, erfahre die näheren Umstände, die zum Tode von Wolfgang geführt haben und muss wieder mal innerlich über die Dummheit der Polizei grinsen, als ich von Paule erfahre wie der „Fast Perfekte Mord“ schließlich doch aufgeklärt wurde. Nicht die vielgepriesene Polizeiarbeit führte zum Erfolg. Eher würde ich dazu sagen, „Witz komm raus, du bist umzingelt.“ Natürlich stand davon kein Wort in der Zeitung, WIE der Mordfall aufgeklärt wurde. Es war wirklich der fast perfekte Mord, wäre den Bullen nicht Kommissar Zufall zu Hilfe gekommen. Oder besser noch Reni, die ich fortan nur noch „Dummfick“ nannte. Darf ich das hier näher ausführen? Ich tu es einfach, vielleicht lernen Sie ja dabei etwas über die Polizeiarbeit im Allgemeinen. Etwas weiter oben konnten Sie lesen, dass man den gefährlichen Verbrecher Bruno Reckert endlich wieder eingefangen hatte. Damit aber gab sich die Kripo nicht zufrieden. Sie wollte natürlich auch seine Mittäter dingfest machen. Alle ausgewerteten Spuren nach diversen Raubüberfällen wiesen darauf hin, dass Bruno nicht alleine die Überfälle begangen hatte. Jetzt hieß es, die Verbrechensaufklärungsquote zu vervollständigen. Brunos Mittäter waren ja nicht weniger gefährlich. Außerdem hatte man bei Brunos Festnahme keine Beute noch die Tatwaffen gefunden. So observierte man schon etwas länger einen potentiellen Verdächtigen, der als Mittäter in Frage kam. Aus den Akten von Bruno Reckert, die in jedem Gefängnis fleißig vervollständigt werden, hatte das SEK recherchiert, mit wem der Bruno besonderen Kontakt im Gefängnisalltag gepflegt hatte. Weil auch deren Entlassungszeitpunkt ziemlich nahe beinander lag, hatte man ganz schnell auch den Paule in Verdacht, dem Bruno bei seiner Flucht geholfen, als ihm auch ein Versteck besorgt zu haben. Damit lagen sie gar nicht so falsch.
Fußnoten
[1] Lebenslänglich
[2] Gemeint ist Wolfgang
[3] [?] Laut Netzauskunft synonym für Gerichtsvollzieher https://www.mundmische.de/bedeutung/22878-Kuckuckskleber
[4] Photo aus dem Besitz von Dieter Schulz
[5] Gemeint ist das Kaliber der Schusswaffe
[6] Eine Freud’sche Fehlleistung? Gemeint ist fündig
[7] Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Stockholm-Syndrom
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