Dierk Schaefers Blog

Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 3 von 4: Die Bewirtschaftung der Bedürftigkeit

Seid klug wie die Schlangen[1] … auch bei den Finanzen.

Am Beginn stand die Idee vom barmherzigen Samariter, der einfach nur half.[2] Er sah sich zuständig im Gegensatz zu den Amtspersonen und (Schrift-)gelehrten. Der von ihm bezahlte Wirt gehörte sozusagen schon zu einem rudimentären Hilfesystem. Und wenn man das ausbaut?

Dann kommt man in der Moderne zur Bewirtschaftung der Bedürftigkeit.

Das Stephansstift ist ein Beispiel für die Geschichte so mancher der heutigen Sozialkonzerne. Die Autorinnen haben in ihrer Studie die Geschichte des Stifts ausführlich beschrieben[3], allerdings sehr unkritisch. Zwar sind sie nur bedingt zu kritisieren. Bilanzen lesen zu können gehört m. W. nicht zu den Studieninhalten von Historikern. Da müssen Spezialisten ran. Aber man sollte seine Grenzen bewusst wahrnehmen und dann Spezialisten heranziehen.

Das habe ich getan, denn auch ich kann keine Bilanzen lesen. Udo Bürger[4] hat sich die Bilanzen des Stephansstifts angesehen und damit wesentlich zu diesem faktengestützten Narrativ vom unaufhaltsamen Aufstieg dieser Einrichtung beigetragen.

Doch einige Fragen tauchen auch dem Laien auf: Warum, zum Beispiel, ist den Autorinnen die Expansion vom Stephansstift von seinen Anfängen bis hin zur Größe der „Dachstiftung“[5] keine Frage wert gewesen? Sie kannten die Bedingungen der Gemeinnützigkeit. Sie sind steuerfrei und dürfen deswegen keine Gewinne erwirtschaften.

Den so naheliegenden Fragen soll hier ansatzweise nachgegangen werden.

Da die Software von „wordpress“ wie wild die Formatierungen wechselt, folgt hier, nach den ersten Fußnoten, wieder die PDF-Version.

Demnächst geht es weiter mit dem abschließenden Teil 4 von 4.


[1] Jesus Christus spricht: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16).

[2] Das war eine Idee. Sie funktionierte nur bei reichen Geldgebern als Absicherung für das Jenseits.

Beispiele:

„Ich, Nicolas Rolin, … im Interesse meines Seelenheils, danach strebend irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen, […] gründe ich, und vermache unwiderruflich der Stadt Beaune ein Hospital für die armen Kranken, mit einer Kapelle, zu Ehren Gottes und seiner glorreichen Mutter.“

Oder die Fuggerei: Für das Wohnrecht gilt noch heute, Gebete für die Stifterfamilie zu sprechen:  „täglich einmal ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Stifterfamilie Fugger. https://de.wikipedia.org/wiki/Fuggerei

Abgesehen von solchen Beispielen sah die Realität meist anders aus, wenn es keine vertragliche Verpflichtung für die Versorgung von Bedürftigen gab.( https://de.wikipedia.org/wiki/Altenteil, https://www.proventus.de/blog/aktuelles/altersvorsorge-damals-und-heute.html

[3] Die Seitenanzeigen in diesem Teil beziehen sich auf die Studie. Sie sind auch in Teil 2 von 4 in diesem Blog zu finden: https://dierkschaefer.wordpress.com/2022/09/25/eine-jubeldenkschrift-zum-firmenjubilaum-das-stephansstift-hannover-teil-2-von-4/

[4] Name verändert. Ich beanspruche Quellenschutz.

[5] Vorab das Organigramm: https://www.dachstiftung-diakonie.de/fileadmin/user_upload/20210715_Dachstiftung_Diakonie_Organigramm.pdf

Zeitvergleich

Geschichte wiederholt sich nicht – so heißt es. Doch es gibt merkwürdige Parallelen.

Heute sehen wir einen Artikel aus der Frankfurter Zeitung vom 01.11.1929.[1] 90 Jahre ist es her, dass diese Zeitung eine detaillierte Analyse des Aufstiegs der Nazi-Partei vorlegte. Vier Jahre später galt keine Pressefreiheit mehr, war alles gleichgeschaltet zu einer Nazi-Lügen­presse.

Schnuppern wir doch kurz die Luft der damaligen Freiheit:

»der Kern der Wählerschaft hat an der guten demokratischen Tradition des Landes festgehal­ten; nur ein – allerdings ansehlicher – Bruchteil ist der nationalsozialistischen Werbung wider­standslos erlegen, nämlich der Teil der Bauernschaft und des Bürgertums, den Kriegsende, Umwälzung und Inflation politisch aus dem Gleise geworfen und derart direktionslos gemacht haben, daß er, verstärkt durch wirtschaftlich Unzufriedene aller Art, seit zehn Jahren von Wahl zu Wahl anderen Phantomen nachjagt.« » Für den [badischen] Landtag bedeutet der Einzug der Nationalsozialisten eine Vermehrung der Elemente, die sich weigern, überhaupt fair mitzuarbeiten, die die Aufgabe des Landtags nicht fördern, sondern von innen heraus sabotieren wollen. Zu den fünf Kommunisten kom­men sechs Nationalsozia­listen; ein volles Achtel des Landtags wird damit aus Abgeordneten gegen den Landtag bestehen. Sie treiben ein unehrliches Spiel, indem sie trotzdem die volle Gleich­berechtigung mit den andern Parteien in Anspruch nehmen – die ihnen selbstver­ständ­lich gewährt werden wird –, wie es auch unehrlich ist, selbst einen Staat des Zwanges, der bruta­len Vergewalti­gung aller Andersdenkenden zu propagieren und gleichzeitig laut zu lamen­tieren und vor Entrüstung außer sich zu sein, wenn der bestehende Staat sich gegen ihre Wühlarbeit mit sehr zahmen Mitteln zur Wehr setzt.«

Zeitsprung

»Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD. Das erklärt natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AfD. Aber es ist ein wichtiger Faktor, ähnlich wichtig wie andere Erklärun­gen, die man bislang oft hören konnte:  Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung.«[2] »Was die beiden Parteien gemein­sam haben, ist, dass sie offensichtlich Menschen mit ihren rechtspopulistischen Denkweisen ansprechen, mit relativ schnellen und national gefärbten Lösungen für Probleme und Krisen der Zeit, mit ihrem Insider-Outsider-Denken.«

Dies ist die eine Seite des Problems und seiner Parallelen. Die weiteren Details sollte man den angegebenen Artikeln entnehmen. Dann sieht man auch, dass ein 1:1 Vergleich nicht funktioniert.

Doch auf der anderen Seite des Problems haben wir wieder eine Parallele.

Vor 90 Jahren schrieb die Frankfurter Zeitung: »Die Empfänglichkeit weiter Volkskreise für die nationalsozialistische Agitation könnte nicht so groß sein, wenn die Republik die volle Ueberzeugungs- und Anziehungskraft entfaltet hätte, die gerade einer auf dem demokrati­schen und sozialen Prinzip aufgebauten Institution innewohnen muß. Deshalb muß der Nationalsozialismus der Republik ein Stachel zur Selbstkritik sein; die Republik ist robust genug, um solche unablässige Selbstkritik ertragen zu können.«

Die Überzeugungs- und Anziehungskraft unserer Demokratie ist im Sinken und als enttäusch­ter/empörter Bürger könnte man geneigt sein, mancher AfD-Argumentation zu folgen – wenn es nicht die AfD wäre. Unsere Funktionseliten haben ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren durch zahlreiche Skandale. Es sind ja nicht nur die Großbauprojekte, die merkwürdi­gerweise nicht von der Stelle kommen, es ist nicht nur der Zustand unserer maroden Infra­struktur, bei dem man sich fragt, wo die Steuergelder hingeflossen sind. Es ist vor allem die Kumpanei mit Wirtschaft und Industrie geschmiert durch die Lobbyvertreter, genannt sei hier nur die Autoindustrie, die gerade durch ihre Betrügereien dabei ist, unsere Wirtschaft gegen die Wand zu fahren. Transparenz in diesen Dingen ist Tabu und die „Abgeordnetenwatch“ ein böser Bube.

Unser Gemeinwesen wird von zwei Seiten bedroht: Von seinen Vertretern, die gekonnt auf der Klaviatur gesetzlicher Möglichkeiten spielen – und dabei auch manchmal falsch spielen. Ihnen muss man auf die Finger hauen und sie bei den Wahlen abstrafen – wenn es da denn Alternativen gibt. Die erklärten Gegner unserer menschenrechtsbegründeten freiheitlichen Lebensweise sind Feinde dieses Staates und der Mehrheit der rechtlich Denkenden. Hier müssen unsere Staatsorgane mit allen rechtlichen Möglichkeiten durchgreifen bis hin zum Parteienverbot. Es wird Zeit. 1929 hatte man nur noch vier Jahre bis zur Machtergreifung der Feinde der Menschheit.


[1]Zitate aus :  https://www.faz.net/aktuell/politik/historisches-e-paper/historisches-e-paper-nsdap-erstmals-im-badischen-landtag-16402663.html

[2] Die gegenwartsbezogenen Zitate sind entnommen aus: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-02/afd-waehler-rechtsextremismus-nsdap-gemeinden-milieu/komplettansicht

17 Jahre Knast gab es für Dieter Schulz. Nun ist er gestorben. Wie sollen wir ihm gerecht werden?

Die Leser meines Blogs kennen Dieter Schulz. In vielen Folgen erschien hier seine Autobiographie[1].

Man sagt gern umschreibend, jemand habe das Zeitliche gesegnet. Doch das Zeitliche segnen konnte er wohl kaum. Denn die Zeiten waren nicht gut zu ihm, und er hat entsprechend reagiert.

Hier mein Nachruf:

Nachruf auf Dieter Schulz [2]

Sein Leben begann am 27. Januar 1940 und endete am 12. Juni 2019.

Was er erlebte, was er machte, reicht locker für drei Leben aus, wie ich schrieb, und keines wäre langweilig.

Was jedoch – oberflächlich gesehen – spannend ist, entpuppt sich als terrible, als erschreckend.

»War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!« fragt Dieter selber in seiner Autobiographie und fasst damit seine schrecklichen, uns erschreckenden Kindheitserlebnisse zusammen.

Wie kann Leben unter diesen Startbedingungen gelingen?

Dass es „funktionieren“ kann, ist bei ihm nachzulesen.

Aber wie hat es funktioniert?

Nachrufe, also Rückbesinnungen auf kriminelle Karrieren sind kein Problem, wenn es sich um bedeutende Kriminelle handelt, also um Staatmänner, Feldherren, Patriarchen, auch Firmengründer. Entweder man lässt die kriminellen Passagen weg oder man schönt sie – und wenn der Nachrufer vom selben Kaliber ist, verherrlicht er sie sogar.

Doch was ist mit den „kleinen Leuten“?

»unsereins hinterlässt nur flüchtige spuren, keine
zwingburgen, paläste, denkmäler und tempel
wie heilige, herrscher, heerführer, auch keine
leuchttürme von wissen und weisheit.

irgendwo in archiven überdauern daten
unseres dagewesenseins, – kann sein, eines tags
kommt ein forscher und ergänzt mit belanglosigkeiten
das bild unserer zeit, und wir sind dabei.«

Als „klein, aber oho“ habe ich Dieter Schulz charakterisiert. Ich denke, das trifft ihn ganz gut und er hat auch nicht widersprochen – gelesen hat er‘s. Man kann es nachlesen, demnächst in den Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie. In meinem Dank für alle Beteiligten an dieser Veröffentlichung schreibe ich (und muss nun die Todesnachricht hinzufügen):

»Zuallererst danke ich Dieter Schulz für seine Autobiographie. Er hat sie als Mahnung an künftige Generationen verstanden und darin auch einen Sinn für seinen reichlich „schrägen“ Lebenslauf gesehen. Ich verwendete dafür im Mailwechsel das Sprichwort: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Aus seiner Idee einer eigenständigen Publikation ent­wickelte sich – nolens volens – eine kriminologische Fachpublikation, und Dieter Schulz musste ertragen, dass seine locker hingeschriebene und stark stilisierte Geschichte auch kritischen Augen standhalten musste mit nicht immer schmeichelhaften Schlussfolgerungen. Er hat dieses ertragen, so wie er auch – wieder nolens volens – die longue durée des Entstehungsprozesses erdulden musste, obwohl sie sich auf seine Seelenlage auswirkte: Zwischen Hoffnung und Depression. Herzlichen Dank, lieber Dieter Schulz! – Ich habe ihm diesen Dank vorweg­geschickt, obwohl noch nicht alles „in trockenen Tüchern“ ist, denn sein Gesundheitszustand ist prekär.«

Nun hat ihn wenigstens dieser Dank noch lebend erreicht.

Was bleibt von diesem Leben?

Uns bleibt seine Autobiographie als „mahnend Zeichen“, ein zum Teil schrecklicher, erschreckender aber faszinierender Rückblick.

Und seine Angehörigen soweit sie noch leben? Seine diversen Frauen? seine Kinder?

Die Frauen werden wohl kaum von seinem Tod erfahren und wohl auch nicht alle seiner Kinder. Doch wer ihn „dicht bei“ erlebt hat, kommt nicht drumherum, für sich selbst das disparate, das erschreckend/schreckliche Bild von Dieter Schulz zu würdigen, – ja, zu wür­digen! Er war ja nicht nur „der Täter“, von was auch immer. Er hat in seiner Lebensbe­schreibung auch sein Inneres offengelegt. Er konnte weinen, nachts im Bett als Heimkind, und musste am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen, Gefühle waren tabu. Bei allen Eitelkeiten verfügte er über ein hohes Maß an Selbstreflexion, auch darin konnte er rück­sichtslos sein.

Ich möchte diesen Nachruf mit zwei seiner Idealfiguren abschließen, die ihn bestimmt haben.

Da ist zunächst seine über alles geliebte Mutter. Sie warf sich schützend über ihre Kinder, wenn Tiefflieger Jagd auf die Flüchtenden machten – da wuchs in aller Bedrohung das, was wir Urvertrauen nennen. Sie „hielt uns am Kacken“ schreibt er in seiner unnachahmlichen Drastik; im Psychologenjargon steht beides für die basic needs, für die Grundbedürfnisse. Sie versteckte ihn vor VoPo und Jugendamt, aber sie griff in ihrer Erziehungsnot auch zum Aus­klopfer oder gar Schürhaken und gerbte ihm das Fell. Eine Frau, hart gemacht durch das Leben.

Auf der anderen Seite die unerreichbare Monika, sein Schwarm aus Dönschten, einem seiner vielen Kinderheime. Er sah sie nur am Fenster und verehrte sie, wie ein Minnesänger seine unerreichbare Dame. Sie zählt zu den Adressaten, die er in seiner Lebensbeschreibung nennt. Sie soll nicht alle seiner Verirrungen lesen, um kein schlechtes Bild von ihm zu bekommen.

Wir aber haben alles gelesen und müssen sehen, wie wir auf diesen krummen Linien gerade schreiben, um ihm gerecht zu werden. Er hat es verdient.


[1] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/07/inhaltsverzeichnis.pdf

[2] Die Todesanzeige wurde mir von seinem Sohn Sascha übersandt.

„Möchtest du dem Onkel einen blasen, oder wollen wir spazierengehen?“

Zuvor hat man dem Kind die Füße verbrannt.[1]

Was muss in diesem Rabenvaterland eigentlich noch passieren, damit Kinder endlich besser geschützt werden? Wann reagiert der träge politische Apparat? Setzt der sich nur aus Apparatschiks[2] zusammen?

Was tut die Kinderkommission?[3] Sie tagt oft. Schauen Sie doch mal rein![4] Es gibt auch dringend wichtige Tagesordnungspunkte, zB: in der 5. Sitzung am 17. Oktober 2018:

Tagesordnungspunkt 1: Beratung der Stellungnahme zum Themenkomplex „Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren: Qualifizierung von Familienrichtern, Sachverständigen und Verfahrensbeiständen“.

Doch medial tritt die Kinderkommission nicht in Erscheinung. das ist nicht ihre Aufgabe. Sie ist ein Gremium zur Hintergrundberatung der Abgeordneten. Was die dann aus den Expertisen machen, wird nicht verfolgt. Man tagt also und tagt, doch hell wird es nicht.

Kinder sind nicht wahlberechtigt, sie haben keine Stimme im politischen Prozess. Sie haben auch keine einflussreiche Lobby.[5] Sie haben nur Experten, die schon lange vergeblich versuchen, ihre Expertise politisch wirksam werden zu lassen. Darum können Kinder keinen Druck machen. Und wenn sie mal medial erfolgreich Druck machen, wie gerade bei den Freitagsdemonstration gegen den Klimawandel, dann setzt die Kultusbürokratie zum Würgegriff an. Ein Wahlrecht für Kinder würde ihre Position und die der Familien stärken.

Sicher, es gibt die Medien, die Skandale aufgreifen. Man sollte sie nicht schelten. Es gibt uns, die Nutzer der Medien. Doch in den Politikpaketen (Wundertüten) die jeweils zur Wahl stehen, kommen konkrete Vorhaben zur Förderung des Kinderschutzes nicht vor. Politiker machen Politik für ihre eigenen Interessen, rein zufällig mag auch mal etwas für die Belange der Kinder dabei sein – damit meine ich die ideologisch hochgeputschten Themen zu den Schulformen, zur Notengebung, zu Inklusion, zum „Wechselmodell“ und anderen, je nach politischer Ausrichtung. Kindesmissbrauch beginnt bei der Instrumentalisierung von Kindesbelangen für eigene Zwecke.

Der föderale Aufbau unseres Staates hat den Kernbereich der Kindesbelange, soweit sie das individuelle Kind und Gruppen, denen die Kinder angehören (Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen), weit nach unten verlagert, zum Teil bis auf die Ebene der Kommunen. Übergeordnete Probleme können dort nicht angegangen werden.

So die Frage

  • der Fachaufsicht über die Jugendämter,
  • der Fachaufsicht über Jugendhilfe-Maßnahmen
  • der Zusammenarbeit von Jugendamt, Familiengerichten, Schulen und Polizei ,
  • der Kontrolle der tatsächlichen Durchführung der ärztlichen Untersuchungen im Kindesalter und der Maßnahmen, die bei Unterlassung zu ergreifen sind,
  • der schulärztlichen Untersuchungen, bei denen man überprüfen könnte, ob die Kinder zumindest äußerlich unversehrt sind.
  • der Gestaltung des Strafrahmens bei Taten gegen Kinder, die durch erheblichen Sadismus geprägt sind, wie im Beispiel von Fußnote 1 nachzulesen. Hier müsste fallweise Sicherungsverwahrung möglich sein.
  • der Gestaltung des Strafrahmens bei Taten gegen Kinder, die kommerziell-sexuell ausgebeutet werden. Auch hier müsste fallweise Sicherungsverwahrung möglich sein.
  • Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Nicht immer sind die Eltern die besten Hüter des Kindeswohls.Eisberg.jpg

 

Ich bin tagungserfahren in diesen Dingen, doch hell ist es durch meine Tagungen an der Evangelischen Akademie Bad Boll nicht geworden.

Fußnoten

[1] https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2019/43165/organisierter-missbrauch-auch-von-vaetern-und-muettern Hier geht es um die Spitze des Sadismus. Eine Kombination von Sadismus mit der kommerziellen Verwertung von Kindesmissbrauch haben die kürzlich bekanntgewordenen Fälle aus Staufen und Lütge gezeitgt. Solchen Meldungen tauchen periodisch immer wieder auf und belegen den Stellenwert von Kindern in unserer Gesellschaft.

[2] Nach Pierre Bourdieu ist der Apparatschik vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sein zentrales oder gar einziges soziales Bezugssystem der organisatorische Apparat ist, dem er seine gesellschaftliche Stellung verdankt. https://de.wikipedia.org/wiki/Apparatschik

[3] https://www.bundestag.de/ausschuesse/ausschuesse18/a13/kiko

[4] https://www.bundestag.de/ausschuesse/a13/kik/tagesordnungen

[5] Damit ist nicht nur eine wirtschaftlich mächtige Lobby gemeint, sondern auch auch die mitgliederstarken Lobbies.

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Was ist denn an Bad Boll so toll?

Der Ort hat doch nicht mal 6.000 Einwohner!

Dennoch, Bad Boll: Ein Dorf, mehr als manche Stadt

Wieso?

Wer aufmerksam durch den Ort geht, dem fallen Häuser auf, deren Architektur unty­pisch für ein Dorf ist. Auch die Siedlungs­struktur, denkt man sich die Neubau­gebiete weg, erscheint merkwürdig. Friedhöfe gibt es gleich mehrere – und das nicht nach dem Schema alter und neuer Friedhof. Bei der Kirche gibt es einen alten und zum neuen muss man nur durch ein Tor. Diese Friedhöfe gehören zu Boll und seinen zwei Siedlungskernen. Der dritte, das ursprüng­liche BAD Boll hat auch zwei beieinander liegende Friedhöfe. Beide erstaunen, weil viele der dort Bestatteten aus so ziemlich allen Winkeln der Welt hier gelandet sind.[1] Wie kommt es zu den acht Trigrammen aus dem I GING[2] auf dieser Grabstätte?

 

Der Ort hat also was. Doch was?

 

Das Besondere begann mit „des Königs Wunderbad“ und seinen illustren Besuchern, die kamen wegen der Blumhardts und danach kamen mehr oder weniger zufällig die Anthroposophen und schließlich die Evangelische Akademie.

 

Manche sprechen vom „Kraftort Bad Boll“; so eine Referentin beim Abendgespräch im Café Heuss; sie stieß auf Zustimmung bei anderen Teilnehmerinnen. Der Künstler KWAKU-Eugen Schütz sprach bei seiner Vernissage[3] vom „Heiligen Boden“, und meinte damit die Akademie.

 

Das brachte mich in eine gewisse Verlegenheit. Normalerweise hätte mein geschätzer und hochkompetenter Kollege Albrecht Esche den Vortrag im Literarischen Salon übernehmen sollen.

Blumhardts Literarischer Salon in der Villa Vopelius in der Evangelischen Akademie Bad Boll [4]literatursalon.jpg

Er hätte dann von der Teufelsaustreibung bei der Gottliebin Dittus und dem glaubens­starken Blumhardt berichtet, mit dem alles begann. Ich hätte still dabeigesessen und mir meine Gedanken gemacht. Nun aber, der Kollege war im Urlaub, musste ich einspringen – Magie und Zauberei sind wirklich nicht meine Sache[5]. Schließlich nannte mich jemand den „am meisten säkularisierten Pfarrer unserer Akademie,“[6] und spuk­hafte Erscheinungen halte ich eher für erklärungsbedürftig und prinzipiell auch erklä­rungs­fähig.[7] Ein Kraftort? Ich halte es eher mit Sankt Hieronymos, der meinte, es komme nicht darauf an, in Jerusalem gewesen zu sein, denn „sowohl von Jerusalem wie von Britannien aus steht der Himmel gleichermaßen offen; denn das Reich Gottes ist inwendig in euch.“[8] Was also tun? Ich schlug also folgerichtig das Stich­wort „Ort“ im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ nach.[9] Das lässt dann ganz schnell an andere Verbindungen von Ort und Magie denken (Friedhöfe, Wallfahrtsorte), aber auch an „stoffgebundene“ magische Vorstel­lungen (Sakramente, Reliquien). Ja, der Aber­glaube kennt Kraftorte, gute wie böse.

Und Bad Boll?

Ob Kraftort oder nicht: Es gibt drei Aspekte für die besondere Bedeutung von Bad Boll

  1. Das Kurhaus
  2. Die Anthroposophie
  3. Die Akademie

ad 1: Herzog Friedrich I. von Württemberg ließ ohne Erfolg nach Salz graben.

1595 stieß man dabei auf Versteinerungen und auf die Schwefel- und Thermalquellen. Das „Wunder­bad“ bezog sich auf die Versteinerungen, die hielt man für ein Wunder Gottes.

1596 wurde das heutige Kurhaus in seiner ersten Form von Heinrich Schickhardt[10] erbaut. Es gab 12 Freiplätze für „Gnadenbädler“. Das Bad florierte nicht so sehr. Die erhofften „oberen Stände“ kamen nicht.

1821 – 23 lässt König Wilhelm I die noch heute das Kurhaus bestimmende schlossartige Anlage in Huf­eisen­form errichten.

1852 erwirbt Blumhardt d.Ä. das Kurhaus mit 400 Gulden Eigenkapital (Der Preis war schon auf 25.000 Goldgulden gesunken)[11]. Mit seinem Wirken beginnt die nationale und internatio­nale Ausstrahlung von Bad Boll.

Wer war Johann Christoph Blumhardt? Ein Wunderheiler? Ein Teufelsaustreiber?

Johann Christoph Blumhardt (* 16. Juli 1805 in Stuttgart; † 25. Februar 1880 in Boll) war ein Pfarrer der württembergischen Erweckungsbewegung, evangelischer Theologe und Kirchenlieddichter. … 1820 – nach einer zweiten Aufnahmeprüfung, dem „Landexamen“ – wurde er Stipendiat des Evangelisch-theologischen Seminars in Schöntal. Während seines Theologiestudiums in Tübingen lernte er u.a. Eduard Mörike kennen, der ebenfalls als Student im Evangelischen Stift wohnte und zu dem sich eine innige Freundschaft entwickelte. … Im Juli 1838 wurde er zum Pfarrer in Möttlingen (bei Bad Liebenzell) ernannt. Hier heiratete er Doris Köllner, eine Tochter seines Missionsfreundes Karl Köllner. 1842 wurde ihr Sohn, der spätere Theologe Christoph Friedrich Blumhardt, geboren.

Gottliebin Dittus, eine junge Frau aus der Gemeinde, litt an einer unerklärlichen Krankheit: sie wurde von Krämpfen geplagt, fremde Stimmen redeten aus ihr.[12] Zwei Jahre lang – 1842 und 1843 – begleitete er diese Frau seelsorgerlich, indem er sie immer wieder an Gottes Ver­heißungen erinnerte und mit ihr betete. An Weihnachten 1843 endete ihr Leiden, das Blum­hardt später in einem Krankheitsbericht an das kirchliche Konsistorium als „Geister­kampf“ bezeichnet. Der laute Ruf der Geheilten „Jesus ist Sieger“ wird zum Losungswort Johann Christoph Blumhardts.[13]

Diese Heilung löste in Möttlingen eine Buß- und Erweckungsbewegung aus. [14]

Wenn ein Ort eine Ausstrahlung hat, ein Kraftort ist, dann wäre Möttlingen zunächst ein böser Ort, der dank Blumhardt zum guten Kraftort wurde und nach seinem Weggang nicht mehr war. Am Ort kann’s also nicht gelegen haben.

Die Erweckungsbewegung brachte Turbulenzen und die Kirchenbehörde begrenzt Blum­hardts Aktivitäten. Er darf nun keine Auswärtigen mehr empfangen und keine Heilungen (Handauf­legen) mehr tätigen. So sucht er nach Alternativen und kauft das Kurhaus. Damit beginnt der „Aufstieg“ des Kurbades und Ortes von Bad Boll. Jetzt kamen die „illustren Besucher“.

„Bad Boll war im 19. und beginnenden 20. Jahr­hundert ein vielbesuchtes »protestantisches Lourdes«. Im Kurhaus versammelten sich neben einheimischen Gästen aus Württemberg auch Angehörige des reformierten und lutherischen Bürgertums aus der Schweiz, dem Elsass und aus Norddeutschland, darunter nicht wenige Adelige. Sie hofften von Krankheiten geheilt zu werden, suchten aber auch ihr Seelenheil, also Lebenshilfe, Lebenssinn und Orientierung.

Zwischen 1852 und 1919 wirkten hier Vater (Johann Christoph) und Sohn (Christoph) Blumhardt als Pfarrer und Therapeuten. Wurde der Ältere vor allem als erfolgreicher Heiler – im Dienste seines Heilandes – wahr­genommen, so erlangte der Jüngere eine spektakuläre Berühmtheit durch sein politisches Engagement in der SPD. Deshalb galt Bad Boll seit 1900 auch als Treffpunkt von Sozialisten, politischen wie religiösen.“

Zu Johann Christoph Blumhardt sind drei Persönlichkeiten zu nennen, die im Literatur­salon präsentiert werden.

ð Eduard Mörike, mit ihm bestand eine Freundschaft seit dem Studium am Tübinger Stift.

ð Ottilie Wildermuth war mehrmals bei Johann Christoph Blumhardt und – wie sie eigens betonte – seiner Ehefrau Doris zu Besuch. Sie bewunderte Doris noch mehr als Johann Christoph, die mit großer Ruhe und Gelassenheit das umtriebige Gewimmel von zahlreichen Menschen aus ganz Deutschland und dem angrenzenden Ausland „managte“. Ottilie bekam als begabtes und intelligentes Kind früh einen „Wunderkindstatus“. Ihre Stellung als bekann­teste und geschätzte Autorin der Zeit war durchaus etwas Besonderes und Ungewöhn­liches.

Sie schrieb vom „Frieden, der auf diesem Haus ruht“. Mit den Worten „Wenn selten Wunder noch geschehen. Weil jetzt der Herr nur leise schafft“ hatte sie den Wandel in der Blumhardt­schen Wirkung getroffen.

ð „Christian Buddenbrook“, alias Friedrich Wilhelm Leberecht Mann. Er war der Onkel von Thomas Mann, war psychisch-labil, und wird in einer krankhaft belasteten Zeit zu Blum­hardt nach Bad Boll geschickt. „Was Blumhardt bewirken konnte, wissen wir nicht – von Heilung spricht niemand.“ Übrigens: Buddenbrook war der Name eines Sekundanten im Effi Briest-Duell.

1880 nach dem Tod seines Vaters übernahm Christoph Friedrich Blumhardt die Leitung von Bad Boll. Er gewann als Seelsorger und wortgewaltiger Bußprediger einen Ruf weit über seine Heimat hinaus. Ging es seinem Vater überwiegend um individuell-seelsorgerliche Hil­fen, so dem Sohn um die Heilung der Strukturen. Er sah in der Sozialdemokratie die Kraft zur Förderung des Reiches Gottes.

1888 gründete er in Eckwälden das „Haus für Nerven- und Gemütsleidende“, er verkaufte es 1901. Den Grund dafür konnte ich nicht herausfinden.

Persönlich kamen zu ihm und sind im Salon präsentiert:

ð Ludwig Richter (und Sohn) war insgesamt sechs Mal »in dem lieben Boll«. Anlass dafür gab ihm sein Sohn Johannes Heinrich (1830-1890), der seit 1872 häufig Hilfe bei den Blum­hardts suchte und seit 1888 ganz in Eckwälden, in dem von Christoph Blumhardt gegründeten „Haus für Nerven- und Gemütsleidende“, lebte. Er hatte Depressionen, wohl auch Paranoia. „Heinrich Richter fand in Bad Boll einen Zufluchtsort, der ihm Leben ermög­lichte. Er starb am 12. Juli 1890 und liegt auf dem Blumhardt-Friedhof begraben.“

ð „Effi Briest“, alias Elisabeth (Else) Baronin von Ardenne[15] »Ein gütiges Schicksal führte mich nach Bad Boll im lieben Württemberg, das mir zur zweiten Heimat wurde. Die Seele des großen Hauses, Pfarrer Blumhardt, dessen helfende Liebesfäden weit über Deutsch­land liefen, wusste auch mir festen Grund unter die lahm gewordenen Füße zu geben und meiner Seele neuen und besseren Aufschwung.« Christoph Blumhardt setzte sie als Pflegerin im Haus für Nerven- und Gemüts­kranke in Eckwälden ein. Sie starb in Lindau und bekam ein Ehrengrab bei Potsdam.[16]

ð Hermann Hesse „hatte das Dasein »Unterm Rad« im evangelischen Seminar Maulbronn satt und riss aus. Deshalb wurde er von seinen hilflosen Eltern dem Rettungsanker Christoph Blumhardt anvertraut und landete im Mai 1892 in Bad Boll. … Sechs »selige Wochen in Boll« erlebte Hermann Hesse. Nach einer Suizidvorbereitung wegen unerwiderter Liebe setzte Blumhardt ihn zornig vor die Tür und empfahl ihn nach Stetten in die Heil- und Pflegeanstalt für Schwach­sinnige und Epileptische.“

ð Gottfried Benn „begann auf Wunsch seines Vaters 1903 in Marburg ein Theologie- und Philosophiestudium. Viel lieber aber wollte er Medizin studieren. Deshalb reiste Pastor Gustav Benn aus Sellin/Brandenburg 1904 mit seinem Sohn nach Bad Boll, um Rat und Hilfe einzuholen, sicherlich auch um Unterstützung durch den berühmten Gottesmann zu erhal­ten. Christoph Blumhardt ergriff Partei für den jungen Gottfried Benn und leitete so die Karriere ein, die den späteren Dichter und Arzt berühmt machen sollte.“

ð Richard Wilhelm   „kam 1897 als Vikar nach Boll und freundete sich rasch mit Christoph Blumhardt sowie dessen 18-jähriger Tochter Salome an, seiner späteren Frau. 1899 reiste er als Missionar nach China aus und lebte in Tsingtau/Kiautschou.[17]“ Der Boxeraufstand[18] 1900 mit der Parole von Wilhelm II. »Pardon wird nicht gegeben« öffnete Richard Wilhelm die Augen für die Motive des Kolonialismus und der sie stützenden Mission. »Unter Umständen müsst Ihr Chinesen mit den Chinesen werden, sei es auch, dass es zu einer Trennung von den kirchlich denkenden Menschen kommt. […] Christen brauchen sie gar nicht zu werden. Diesen Namen sollte man in fremden Ländern gar nicht aufkommen lassen. Wer den Willen Gottes tut, ist des Himmelreichs Kind, ob er von Konfuzius oder von Kirchenvätern abstammt.« – Christoph Blumhardt an Richard Wilhelm, 21. Januar 1901.“ Man beachte die Weite des Horizontes dieses ansonsten sehr pietistischen Mannes.

ð Hermann Kutter – „Sein Buch »Sie müssen!« (1903) wurde zum wirkungsmächtigsten Dokument der religiös-sozialen Bewegung[19]. Jenseits aller Differenzierungen und Vorbehalte werden darin die Sozialdemokraten für Gottes Wirken in der Welt in Anspruch genommen.“

ð Karl Barth »Das Einzigartige, wir sagen mit vollem Bedacht: das Prophetische in Blum­hardts Botschaft und Sendung lag darin, wie sich das Eilen und Warten[20], das Weltliche und das Göttliche, das Gegenwärtige und das Kommende in seinem Reden und Tun begegnete, vereinigte, ergänzte, immer wieder suchte und fand.«

Es fehlt August Bebel: „Wenn er bei Blumhardt in Bad Boll sei, könne sogar er an Gott glauben.“[21]

Auch Clara Zetkin besuchte Bad Boll und schrieb an Blumhardt: „Mit der Versicherung herzlichster Hochachtung grüßt Sie Ihre ergebene Clara Zetkin.“

Zu nennen wäre noch Max Reger, der auf Vermittlung von Blumhardt in Boll kirchlich getraut wurde. Reger war katholisch, seine Braut war evangelisch und geschieden. Zu damaliger Zeit ein Hindernis für eine kirchliche Trauung. Reger wurde nach der Trauung exkommuniziert.

Die Eingabe Heine/Blumhardt gibt bei Google keinen passenden Treffer. Die beiden werden einander nicht gekannt haben. Und doch unterstelle ich eine Seelenverwandtschaft zwischen dem ernst-frommen Blumhardt und dem Spötter Heine.

Die Heineverse wären jedenfalls, von der Frivolität abgesehen, durchaus nach dem Sinn von Blumhardt gewesen:

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.[22]

Im Laufe der Jahre wurde Blumhardt zu einer bedeutenden Person der Zeitgeschichte. Als 1888[23] Kaiser Wilhelm I. auf dem Sterbebett lag, wurde Blumhardt zu ihm gerufen.[24]

1887/1988 ließ Blumhardt in Eckwälden das „Haus für Nerven- und Gemütsleidende“ bauen. Baronin von Ardenne hatte hier ihr Arbeitsfeld. Das Haus wurde bereits 1901/1902 an die vier Schwestern Härlin verkauft, die hier bis 1930 ihr Pensionat „für höhere Töchter“ führten.[25] Ob und wie dieser Verkauf mit dem Weggang der Baronin zusammenhing, konnte ich bisher noch nicht ermitteln.

1920 (erw)erben die Herrnhuter[26] von den Blumhardt-Erben das Kurhaus, das den Erforder­nis­sen der Zeit nicht mehr entsprach.[27]

Im Gefolge der Herrnhuter sozusagen kam nach dem Krieg die „Europäisch-Festländische Brüder-Unität“[28] nach Bad Boll (1961).

Mit den Herrnhutern beginnt die Fortsetzung der Geschichte des Kurhauses, zunächst ganz im Sinne von Blumhardts Erben. Heute, nach mehrfachem Besitzerwechsel, ist das Kurhaus ein normaler Rehabi­li­tationsbetrieb. Noch (?) wird der große Saal, der „Kirchensaal“ für Gottes­dienste genutzt. Im „Blumhardtzimmer“ fällt eher die Nutzung durch die Kurseelsorge auf: ein großer dominierender Tisch aus der Jetzt-Zeit und das Regal voll mit den derzeit gebräuchlichen Gesangbüchern; das „Zinzendorfzimmer“ taucht nur noch im Wegweiser auf. Fragt man penetrant nach, wird einem die Zimmertür zum psychologischen Dienst des Kurbetriebes gezeigt.

Albrecht Esche schreibt: Mit dem Tod der Blumhardts „war dann in Bad Boll alles aus und vor­bei. Auch das gute Wasser, die Schwefelquelle sowie die — al­lerdings erst vor einigen Jahr­zehnten aufgefundene — Mi­neralquelle, wurde nicht als Geschenk des Schöpfers und der Schöpfung religiös-therapeutisch genutzt, auch nicht die einmalige Lage und Naturlandschaft. So bleiben die Besucher mit sich allein und auf sich selbst gestellt. Und so bleibt uns heute nur noch die Erinnerung — oder aber ein neuer Aufbruch zu den unerschöpflichen spirituellen Quellen, die dieser Ort zu bieten hat.“

ad 2: Nur kurz zur Anthroposophie

Anknüpfungspunkt: Wala und Blumhardthaus in Eckwälden

  •  1935 gründet Rudolf Hauschka die Firma „Wala“ in Bad Boll-Eckwälden.[29] Mit dieser Gründung begann die Ausbreitung der Anthropo­sophie in Bad Boll-Eckwälden.
  •  1937 Im Blumhardthaus eröffnet der Anthroposoph Dr. Geraths[30] das „Heil-und Erziehungs­institut[31] für seelenpflegebedürftige Kinder“[32] Er knüpfte auch bewusst an das geistige Erbe der Blumhardt’s an.
  •  1965 gründet Geraths das „Rudolf Steiner-Seminar für Heilpädago­gik“[33]. In diesen Umkreis gehört auch die
  •  1962 gegründete „Margarethe-Hauschka-Schule für künstlerische Therapie und Massage“.
  • O 1987 wird in Bad Boll das „Seminar für freiheitliche Ordnung e.V“.[34] gegründet.

So kamen im Lauf der Zeit viele Anthroposophen nach Boll und Bad Boll; man sieht’s im Ortsbild an der alternativen Bekleidung der Frauen. Es gibt auch eine anthroposophische Apotheke[35]. Bad Boll scheint für die Anthroposophen ein Kraftort zu sein.

Zwei Anmerkungen zur Anthroposophie in Bad Boll.

  1. Aus einem unveröffentlichten Protokoll von „Karma“[36]-Arbeits-Sitzungen hier in Bad Boll:

„Frau M. ist „hellsichtig“, stieß bei der Karmaarbeit mit X. auf dunkle gemein­same Geschichten, die sie den Engeln zur „Transformation“ übergaben. Sie bekamen von diesen den Auftrag, zu ihnen Kontakt zu halten, weiter alle vier Wochen Karmaarbeit zu betreiben, sich um die Landschaft und ihre Geschichte zu kümmern.

Y gab den Hinweis auf unerlöste Orte in der Gegend. So kam man auf den Brunnen im Kurhaus mit unerlösten Gestalten.“

X und Y kenne ich persönlich. Über X habe ich im vorigen Jahr ein religionspsychologisches Gutachten zur forensischen Verwendung erstellt.

  1. Das „Heil-und Erziehungs­institut für seelenpflegebedürftige Kinder“, 1937 in Eckwälden gegründet, hat es geschafft, dass kein einziges der behinderten Kinder der T4-Aktion[37] der Nazis zum Opfer fiel.

Aus meinen vielfachen Kontakten mit Anthroposophen und ihren Einrichtungen habe ich den Eindruck gewonnen, dass diese mit Menschen mit Behinderung angemessener umgehen, als das in unseren kirchlichen Einrichtungen oft der Fall zu sein scheint. Die Aussicht auf spätere Inkarnationen reduziert offenbar den Erfolgsdruck, Menschen mit ihrem einzigen Erdenleben auf den richtigen Weg zum Himmel zu bringen oder gar zu zwingen.

ad 3: Die Akademie

Der Künstler der augenblicklichen Ausstellung sprach vom „heiligen Boden“ und meinte damit die Begegnungen auf Tagungen der Akademie. Er pries die Dynamik; hier entstehe etwas Neues.

Was hat es damit auf sich?

Schon vor Kriegsende gab es Pläne für eine Akademie, die sich mit der Initiative von Eber­hard Müller und Prof. Helmut Thielecke konkretisierten. Sie wollten eine Art Forum für gesell­schaftspolitisch wichtige Fragen schaffen: Meinungsvielfalt, die es unter der Nazi-Herrschaft nicht gab. Die Anfänge waren turbulent und sind hier nicht im Detail darzustellen. Das Kurhaus wurde nur rein zufällig der Ort der ersten Tagung und der folgenden. Banaler Grund: Es stand leer, weil die Amerikaner die Betten abtransportiert hatten. Eberhard Müller besorgte die Betten und konnte die erste Tagung mit knapp 160 Teilnehmern eröffnen. Die Tagung wendete sich an „Männer des Rechts und der Wirtschaft“, Frauen waren nicht „mitge­meint“[38]. Die Teilnehmerliste zeigt: Hier war die erhoffte Nachkriegselite angespro­chen. Die zweite Tagung diente der Verankerung der Akademie-Idee in der Württember­gi­schen Landeskirche, die dritte hatte die Arbeiter im Focus.

Um die Auswirkungen der Akademiearbeit nur kurz zu skizzieren: Lange galt es als Aus­zeich­nung, (auch ohne Honorar) in der Akademie zu referieren. Neben hochrangigen Wissen­schaftlern war auch viel Politprominenz zu verzeichnen, oft auch auf dem Weg zum Aufstieg ins Spitzenamt. Wenn man unbedingt will, könnte man meinen, dieser Kraftort habe den end­gültigen Kick zur Spitze gegeben.

Die Evangelische Akademie Bad Boll wurde zudem die Mutter aller kirchlichen Akademien, bundesweit, evangelisch wie katholisch. Auch eine Akademie auf Kreta ist Ergebnis der Arbeit von Eberhard Müller. Veranstaltungen dieser Akademien waren –wie ich es nenne – Talkshows vor dem Begriff. Heute haben die Talkshows im Fernsehen den Akademien erfolg­reich die Teilnehmer und Zuschauer streitig gemacht. Mit den Talkshows können Politiker sehr schnell auf vorgegebene aktuelle Fragen reagieren, die Zuschauer brauchen sich nicht vom Sofa zu erheben und haben keinen – inzwischen wirklich sehr teuren – Tagungs­beitrag zu entrichten.

Die Kirchen bauen ihre Akademien zurück oder geben sie auf.

img 13404Es ist eine Ironie der Geschichte: Auf dem architekto­ni­schen Höhepunkt der Akade­mie[39], 1995 zum 50jährigen Jubi­läum (Kapelle und erhebliche Erweiterung des Café Heuss) wurde das Dilemma der Akademien deutlich formu­liert. 2001 kamen das Symposium und 2010 der neue Süd­flügel hinzu, all dies Glanzstücke moderner Architektur.

Ich sagte damals: Der Hotel­betrieb ist Chance der Akademie und zugleich Klotz am Bein. Nun, der Hotelbetrieb floriert dank der Gasttagungen, die Akademie-Tagun­gen gehen zurück. Wer seine Teilnahme selber finanzieren muss, überlegt sich das.

Vom „Kraftort Bad Boll“ bleibt die Erinnerung an kraftvolle, tatkräftige, phantasievolle und begeisterungsfähige Persönlichkeiten. Erinnerungen, die ständig der Neubelebung bedürfen, wenn der Ort seine museale Anziehungskraft behalten will und er braucht Menschen, die aufs Neue Zeichen setzen, die über Bad Boll hinauswirken.

Warten (auf das Reich Gottes) und pressieren (sein Kommen beschleunigen) – dafür stan­den die Blumhardts. Der Skeptiker merkt an, dass dies auch verheerende Folgen haben kann, wenn man zu sehr pressiert, aber die uneigennützige Liebe zu den Menschen fehlt. Ein Reich Gottes gab es auch zur Täuferzeit in Münster[40] und in der historischen Abfolge manche ideo­logische Verirrung, mit der kraftvolle, tatkräftige, phantasievolle und begeisternde Per­sönlich­keiten die Völker ins Verderben gestürzt haben. Die Blumhardts waren vor der Hybris gefeit, weil sie trotz aller Begeisterung für Gottes Reich ihm Raum ließen, es zu voll­enden. Und auch für uns ließen sie Platz für die kraftvolle, tatkräftige, phantasievolle und begei­sternde Mitwir­kung am Reich Gottes.

Die nächste Blumhardttagung im Oktober trägt Blumhardts Motto: „Wir müssen Gott in die Hände arbeiten“.

 

Editorische Nachbemerkung

Dieser Text entstand im Rahmen eines Klassentreffens der Abiturklasse 13d des Jahrgangs 1964 der Humboldt­schule in Hannover-Linden. Da mein Kollege Albrecht Esche urlaubs­bedingt verhindert war, musste ich mich einar­beiten und den Vortrag in Blumhardts Literatur­salon in der Villa Vopelius in der Evangelischen Akademie Bad Boll übernehmen. Ich habe es nicht bereut.

Sehr viele Informationen stammen aus dem Buch von Albrecht Esche, Reich Gottes in Bad Boll, 20164. Ich verdanke ihm sehr viel. Die Zitate sind nicht im Detail nachgewiesen. Das Buch ist in der Akademie erhältlich und sehr empfehlenswert. ISBN 978 936369-53-3

Viele Informationen habe ich auch entnommen aus GEMEINDE BOLL (ed.), Boll, Dorf und Bad an der Schwäbischen Alb, 1988. Auch diese Zitate sind nicht eigens ausgewiesen.

Fußnoten

[1] Der Blumhardt-Friedhof, der im Jahr 1866 angelegt wurde, gilt als kulturhistorisch bedeutsam, nicht nur für die Region. In seiner Erde ruhen sowohl viele Mitglieder der weitläufigen Familie Blumhardt als auch Menschen aus aller Herren Länder, die sich um Johann Christoph Blumhardt (1805–1880) und später um seinen Sohn Christoph Friedrich Blumhardt (1842–1919) scharten. https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.bad-boll-blumhardt-friedhof-wird-restauriert.67efc5ee-65c2-404c-9543-c564177e90ee.html

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/I_Ging

[3] 10. Juni 2018

[4] Photo: Dierk Schäfer

[5] Obwohl wir 15 Jahre in einem „Spukhaus“ gewohnt haben. Doch die ungeklärten Klopfgeräusche haben uns nicht aus der Ruhe gebracht. Wir lachen immer noch darüber.

[6] So wurde ich vom Kollegen Wolfgang Wagner einem Besucher vorgestellt. Ich wusste gar nicht, dass er mich so gut kennt.

[7] Mit Parapsychologie habe ich mich vielfach beschäftigt und wurde regelmäßig in meiner skeptischen Haltung bestätigt. Interessant, dass auch Thomas Mann bei spiritistischen Sitzungen Protokoll führte und sich bluffen ließ. Auch der „Geisterkampf“ der Gottliebin mit Blumhardt (d.Ä.) bietet manche Erklärungsansätze für spukhafte Erscheinungen.

[8] Zitiert nach Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land, Stuttgart, o.J., S. 13

[9] Sp. 1308 – 1311

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Schickhardt

[11] Der „Rest“ wurde durch eine großzügige Spende abgedeckt und durch Stellung einer Bürgschaft.

[12] Man fühlt sich an der Film „Der Exorzist“ erinnert: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Exorzist . Als Skeptiker denkt man aber eher an „Chopper“ http://www.sueddeutsche.de/bayern/jahre-geist-chopper-spuk-in-der-zahnarztpraxis-1.1299536 oder an den Lehrling im Haushaltswarengeschäft: https://www.zeit.de/1979/08/der-kriminalist-und-der-spukprofessor

[13] Sein Bericht an die Kirchenbehörde: Möttlingen, den 31. Juli 1850. http://www.christliche-autoren.de/sieg-ueber-die-hoelle.html Montag, 16. Juli 2018 Die Webseite, auf der der Bericht gehostet ist, wird von Personen mit vergleichbarer Vorstellungswelt und Glaubensintensität betrieben.

[14] nach Wikipedia

[15] geb. Elisabeth von Plotho ð https://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_von_Plotho

[16] Der Tagesspiegel vom 9.2.09 schrieb: „Elisabeth von Ardenne ist 34 Jahre alt, als ihr Ehe-Albtraum ein Ende hat. Von da an lernt sie, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie reist ins württembergische Bad Boll zu einem Guru, [sic!] von dem sie sich spirituelle Orientierung erhofft. Der Bußprediger Christoph Blumhardt steht im Ruf, ein Wunderheiler zu sein, später wird er Sozialist und SPD- Landtagsabgeordneter. Blumhardt redet der Ehebrecherin ihre Schuldgefühle aus und ermutigt sie, eine Ausbildung zur Krankenpfle­gerin zu beginnen. Sie arbeitet in vielen Heilanstalten in Süddeutschland, der Schweiz, in Schlesien und in Berlin-Zehlendorf. Besonders gut kann sie mit Patienten umgehen, die unter psychischen Störungen leiden, die Ärzte schätzen die kluge Für sorglichkeit und Engelsgeduld der Krankenschwester. Ab 1915 verdient sie ihren Lebensunterhalt als ständige Begleiterin der schwer nervenkranken Margarethe Weyersberg. Die wohlhabende Familie der Pflegetochter finanziert nicht nur die gemeinsame Wohnung, sondern auch Reisen der beiden Frauen nach Italien.“ Zum Thema „Ehrengrab“ gibt die Vorsitzende der „AG Histo­rische Friedhöfe und Kirchhöfe Berlins“ am 27.6.18 per Mail die Auskunft: „meines Wissens nach wurde die Grabstätte E.V. Ardenne als Ehrengrab anerkannt, weil sie das Vorbild für Fontanes Effie Briest war. einen anderen Grund kenne ich nicht.“

[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Kiautschou

[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Boxeraufstand

[19]Religiöser Sozialismus https://de.wikipedia.org/wiki/Religi%C3%B6ser_Sozialismus#1900_bis_1945

[20] Am Kurhaus stehen die Initialen des Königs und seiner Frau: W und P, Wilhelm und Pauline wurde auch als „Warten und Pressieren“ interpretiert, warten auf das Reich Gottes und seine Ankunft beschleunigen.

[21] https://kochmeint.wordpress.com/tag/blumhardt-friedhof/ „Bebel- und auch bibelfest“ sei er, so stellte die Göppinger SPD in einem Wahlplakat zur Landtagswahl 1900 ihren Kandidaten Blumhardt vor. https://lassalle-kreis.de/print/795

[22] http://gutenberg.spiegel.de/buch/-383/2

[23] Dreikaiserjahr https://de.wikipedia.org/wiki/Dreikaiserjahr

[24] https://lassalle-kreis.de/print/795

[25] https://www.swp.de/suedwesten/landkreise/lk-goeppingen/mit-blumhardt-verwoben-17625939.html

[26] https://de.wikipedia.org/wiki/Herrnhuter_Br%C3%BCdergemeine

[27] https://www.bruedergemeine-bad-boll.de/brueder-unitaet/geschichte/

[28] https://www.ebu.de/startseite/

[29] https://de.wikipedia.org/wiki/Wala_Heilmittel https://www.wala.de/unternehmen/

[30] http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=217

[31] http://institut-eckwaelden.de/

[32] Anthroposophische Seelenpflege – für eine Person, die sich in ihrer gegenwärtigen Inkarnationsform nicht in der uns geläufigen Art zu realisieren vermag, die jedoch der Pflege und Bildung bedarf, um dadurch für spätere Inkarnationen bessere Voraussetzungen zu erlangen. Quelle nicht mehr gefunden.

[33] https://www.akademie-anthroposozial.de/rudolf-steiner-seminar/ueber-uns/

[34] https://www.dreigliederung.de/profile/badbollseminarfuerfreiheitlicheordnungev

[35] Ich spreche vom „Kugellager“.

[36] „Karma“ und „Doppelgänger“ sind Schlüsselbegriffe bei Rudolf Steiner. https://anthrowiki.at/Doppelg%C3%A4nger https://anthrowiki.at/Doppelg%C3%A4nger

[37] https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4

[38] Dennoch gibt es vier namentlich genannte Frauen in der Teilnehmerliste. Bei drei Teilnehmern war der Vermerk c. ux. (cum uxore) hinzugefügt.

[39] Die Evangelische Akademie Bad Boll ist – wie auch manche andere – durch zahlreiche Erweiterungen (aufgrund ihrer Erfolge) ein Spiegelbild der architektonischen Entwicklung in Deutschland. Photo: Werner Feirer, © Evangelische Akademie Bad Boll

[40] https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%A4uferreich_von_M%C3%BCnster

Deutschland – Rabenvaterland

Kind zu sein kann schwierig sein, geradezu gefährlich, wie man immer wieder liest.

Kürzlich griff die FAZ das Thema sogar auf der ersten Seite auf: „Im Zweifel für das Kindeswohl“:

Dass das eigene Kind einem pädophilen Sexualstraftäter zum Op­fer fallen könnte, ist eine unerträgli­che Vorstellung. Der elterliche Schutz von Kindern ist ein menschlicher Urinstinkt. Der Breisgauer Missbrauchsfall ist deshalb so erschütternd, weil sich der Beschützerinstinkt der Eltern in sein perverses Gegenteil verkehrt hat: Die Mutter des neunjährigen Jun­gen und ihr Lebensgefährte, den das Kind „Papa“ nannte, haben ihm selbst die schlimmsten Qualen zugefügt und dabei zugeschaut, wie andere Pädokriminelle das Kind gegen Bezahlung se­xuell missbraucht haben. Schutzloser kann ein Kind nicht sein. Es wäre hier Aufgabe des Staates ge­wesen, für das Kind da zu sein. Die Be­hörden und Gerichte hätten den Jun­gen in Sicherheit bringen müssen. Zwar schützt das Grundgesetz die Fa­milie als Einheit, der Staat hat sich zu­rückzuhalten. Kinder von ihren Eltern zu trennen, darf nur das letzte Mittel sein – aber es muss auch das letzte Mit­tel sein, wenn Gefahren für das kör­perliche oder seelische Wohl des Kin­des drohen. [1]

Doch was ist los mit diesem Staat? „Den Staat“ gibt es hier nur in seinen pluralen Verpuppungen:

  • Als Gesamtstaat, der sich weigert, Kindern und ihren Rechten einen Platz explizit im Grundgesetz zu gewähren.
  • Als Bundesrat, der im Interesse der Bundesländer die Kosten für Kinder eng begrenzt sehen will, mit Rücksicht auf
  • die Kommunen. Sie müssen schließlich die Sozialkosten tragen, also auch die Kosten für die Jugendhilfe – und sie sperren sich, soweit es geht.

Bei so zersplitterten Zuständigkeiten ist niemand so recht verantwortlich, und wenn es – leider oft genug – schiefläuft, sucht man nach einem Schuldigen. Im Freiburger Fall ist es die Mutter. Für rechtzeitige professionelle Kooperationen vor Ort (Jugendamt, Jugendhilfe-Einrichtungen, Beratungsstellen, Gericht, Verfahrensbeistände, Rechtsanwälte) ist man zu bequem, man kennt wohl auch die Fachliteratur nicht. Dabei weiß man sehr gut, dass Eltern nicht nur Schicksal sind, sondern oft auch Schicksalsschläge.

Was das für die Kinder bedeutet, kommt nur als Spitze eines Eisbergs ans Tageslicht.Eisberg

Als ich meine Zusammenfassung „Für eine neue Politik in Kinder- und Jugendlichen-Angelegenheiten“[2] verfasste, war mir die starke Position der Sozialkonzerne, aber auch kleinerer Jugendhilfe-Einrichtungen noch nicht klar: Kinder sind in unserem Land gar nicht vernachlässigt, sie sind ein Geschäftsmodell. Das wurde in der Heimkinderdebatte deutlich, trifft aber auch neuere Jugendhilfemodelle[3], an deren Beispiel deutlich wurde, dass die Jugendhilfe-Marktbetreiber nicht wirksam zu kontrollieren sind, weil sie die „Marktordnung“ maßgeblich bestimmt haben.[4] Marktaufsicht? Weitgehend Fehlanzeige.

Das Thema ist hochkompliziert – und die Politik überfordert. Lediglich die Medien greifen strukturelle Missstände auf, wie oben genannt die FAZ, oder heute die Basler Zeitung mit dem Titel „Das grosse Geschäft mit dem Kindswohl“[5]

An die FAZ schrieb ich einen Leserbrief:

Strukturfehler beim Kinderschutz

Wenn „Kindeswohl“ prominent auf der ersten Seite einer seriösen, nicht sensationsgeilen Tageszeitung erscheint, muss es einen gravierenden Grund geben. Es geht nicht um nur einen der vielzuvielen Einzelfälle von Kindesmissbrauch, – misshandlung oder grober Vernachläs­sigung, sondern um strukturelle Fehler, die solche Fälle begünstigen. Der Fall im Breisgau – er ist hier nicht darzustellen – zeigt in besonders eklatanter Weise diese Fehler auf und sie werden von der Autorin auch benannt. Die Gerichte und das zuständige Jugendamt haben mitt­lerweile selbst eine Aufarbeitung an­gekündigt. Das zeigt die Fortschritte in der Fehlerkultur der Justiz, schreibt sie weiter. Ich fürchte, da irrt sie sich. Natürlich mussten die beteiligten Behörden nach diesem grobem Fall so reagieren, aber Zerknirschung oder eine Demutshaltung ist das nicht. Denn die Schuldige steht fest: Die Mutter. In der hatte man sich geradezu kollegial getäuscht.

Ich bin als ehemaliger Tagungsleiter in diesem Themenbereich mit der Materie vertraut. Die Evangelische Akademie Bad Boll hat zusammen mit der Fachhochschule Esslingen ein Curriculum zur Ausbildung von Verfahrensbeiständen, zu Beginn sprach man vom Anwalt des Kindes, entwickelt und trotz vieler Widerstände einige Jahre durchgeführt. Widerstände?

Auf politischer Seite meinte man, eine Ausbildung brauche man dafür nicht. Ehrenamtliche könnten das machen, oder aber Juristen. Die Länder sorgten dafür, dass eine erforderliche Ausbildung nicht ins Gesetz kam. Als die Professionalisierung schließlich nicht mehr aufzuhalten war, setzten sie sich erfolgreich für die pauschalierte Bezahlung der Verfahrensbeistände ein in einer Höhe, zu der professionelle Arbeit nicht zu leisten ist. Damit ist der eine Struktur­fehler benannt: Der Spar-Föderalismus in Kinderschutzbelangen. Ein weites Feld, das hier nicht abgeschritten werden kann.

Der zweite Strukturfehler ist die Bedeutung des Elternrechts. Das ist wirklich hoch zu schätzen, darf aber keine heilige Kuh sein. Eltern sind zwar Schicksal –zuweilen aber Schicksalsschläge. Hier ist das Wächteramt des Staates gefordert. Doch der weigert sich bis heute, Kinderrechte ins Grundgesetz zu schreiben. Die könnten schließlich in Konkurrenz zu den Elternrechten treten.

Der dritte Strukturfehler liegt in der Aus- und Fortbildung der Richter. Siegfried Willutzki, Gründer des Deutschen Familiengerichtstags, hat sich mehrfach auf unseren Tagungen über Kollegen beklagt, die unter Berufung auf ihre Unabhängigkeit Fortbildung verweigern. Familienrichter stehen in der Bedeutung innerhalb des Justizsystems ohnehin nicht an herausragender Stelle. Die Funktion wird zuweilen einem Berufsanfänger aufgedrückt, der froh sein kann, wenn er vom jeweiligen Jugendamtsleiter in die Materie eingeführt wird, denn Familienrecht hatte er an der Universität links liegen lassen. In unseren Kursen zum Anwalt des Kindes fiel allen Beteiligten immer wieder die große Differenz im Denken von Juristen und Sozialpädagogen auf. Da kamen verschiedene Welten zusammen. Einig war man sich, dass ein solcher Kurs nicht nur für angehende Verfahrensbeistände, sondern auch für jeden Familienrichter unabdingbar sein sollte. Doch es geht ja nur um „Familie und das ganze Gedöns“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man für ein großes Konkursverfahren einen Richter bestellt, der von Ökonomie keine Ahnung hat.

Kinderbelange haben in unserem Land keine Priorität, also auch nicht bei Politikern. Erst wenn etwas passiert, merkt man auf. Mehr passiert aber auch nicht.

Deutschland – ein Rabenvaterland.

 

Der im Leserbrief genannte Siegfried Willutzki gab vor wenigen Tagen ein Interview[6]. Doch ich fürchte, auch das Interview eines versierten, renommierten Fachmannes wird die Politiker nicht zu wirklichen Reformen motivieren. Die produzieren lieber ideologisch geprägte Schulversuche (zulasten der Kinder) oder propagieren „Inklusion“, für die sie aber möglichst kein Geld ausgeben wollen (zulasten der Kinder).

Als ich diese Graphik zusammenstellte, standen Misshandlung und Missbrauch noch nicht so im Focus. Doch die Zusammenhänge werden deutlich.

der wert von kindern

Fußnoten

[1] von Helene Bubrowski, FAZ, Dienstag, 23. Januar 2018, S. 1

[2] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/11/fc3bcr-eine-neue-politik.pdf

[3] https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/politik/friesenhof-skandal-so-wehren-sich-betreiber-gegen-eine-kinderheim-reform-id10039671.html

[4] Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, 24. Juni 2015, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/

[5] „Das grosse Geschäft mit dem Kindswohl“ Wie private Sozialfirmen mit Steuergeldern und ohne Erfolgskontrolle wirtschaften. Die Zahl der Personen, die im Sozialwesen tätig sind, hat sich seit 1991 verdoppelt. https://bazonline.ch/schweiz/standard/das-grosse-geschaeft-mit-dem-kindswohl/story/27864419

[6] https://www.swr.de/swraktuell/bw/suedbaden/interview-mit-familienrechtler-willutzki-voellig-unangemessen/-/id=1552/did=21064478/nid=1552/1p45kyw/index.html

Die Betroffenen sitzen mal wieder am Katzentisch

Asymmetrische Machtverteilung in der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“.

Das Papier war aus dem Netz verschwunden, nun ist es wieder da – und hier auch.Stiftung-Anerkennung-und-Hilfe-Praesentation-BeB-2017

Wer aufmerksam liest, kennt das Spiel schon von Runden Tisch Heimkinder her.

Ein Blick auf die Folie 29 zeigt die Funktionsweise des Lenkungsausschusses, das ist der, der lenkt, bei ihm liegt die Macht. Die Liste der dafür ernannten Personen findet man auf den Folien 34 – 37.29.jpg

Wer ist Mitglied?

Je drei Vertreter der Institutionen, die zahlen sollen. Die wollen möglichst wenig zahlen, was in der Natur der Sache liegt.

Das sind

  • Bundesregierung,
  • Länder,
  • Kirchen.

Um es bildhaft zu machen:lenkungsausschuß

 

Dann gibt es den Fachbeirat. Er hat beratende Funktion. Wer gehört dazu?

Je drei Vertreter von

  • der Gruppe der Betroffenen,
  • der Gruppe der Betroffenenvertreter,
  • der Gruppe der Sachverständigen.

Das sieht dann so aus:fachbeirat

Der Fachbeirat entsendet Vertreter in den Lenkungsausschuß. Das werden maximal 3 sein, aus jeder Gruppe einer.

Für den Sachverständigen vom Dienst nehmen wir einmal an, dass er tatsächlich neutral ist, also für niemanden Partei ergreift, sondern seinen Sachverstand einbringt (unter welchen Gesichtspunkten?).

Ob die Betroffenenvertreter, sei es von der Aktion psychisch Kranke, der Deutschen Gesellschaft für bipolare Störungen oder von der Bundesvereinigung Lebenshilfe wirklich die Betroffenen vertreten und nicht hauptsächlich ihren Verband, vermag ich nicht zu beurteilen. Nehmen wir also an, sie ergreifen Partei für die Betroffenen.

Dann hat die Betroffenenpartei zwei Sitze im Lenkungsausschuß. Ihnen sitzen neun Parteienvertreter gegenüber, die möglichst wenig Geld ausgeben wollen.

Ohnehin ist der Finanzrahmen vorab festgelegt worden. Das Dokument zeigt die Entwicklung der Kompromisse auf, die ohne die Betroffenen ausgehandelt wurden.[1]

Diese Asymmetrie setzt die Veranstalter ins Unrecht, selbst wenn halbwegs gute Entscheidungen für die einzelnen Betroffenen gefällt werden sollten. Doch um Verhandlungen auf Augenhöhe hatte man sich ja bereits schon am Runden Tisch gedrückt [2] und den Sachverständigen Prof. Dr. Manfred Kappeler[3] ausgeschlossen, der war zu kritisch.

Was im Lenkungsausschuß fehlt ist die parteiliche Rechtsvertretung der Betroffenen durch eine kompetente Anwaltskanzlei. Doch eine anwaltliche Vertretung der Betroffenen hatte ja schon Antje Vollmer gescheut wie der Teufel das Weihwasser.

Eine Beschwerdemöglichkeit haben die Betroffenen selbstverständlich auch nicht. Antragsteller sind sie, Almosenempfänger werden sie, soweit sie Glück haben.

[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/19/man-befurchtet-dass-sich-der-neue-fonds-als-fass-ohne-boden-entpuppen-wird/ https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/03/behinderte-werden-als-menschen-zweiter-klasse-behandelt-der-bundesverband-evangelische-behindertenhilfe-beb-begruesst-das/

[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/

[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/11/12/prof-dr-manfred-kappeler-vom-%e2%80%9ezwischenbericht%e2%80%9c-des-runden-tisches-heimerziehung-zum-entwurf-des-%e2%80%9eendberichts%e2%80%9c-%e2%80%93-zwischen-den-zeilen-gelesen-ii/

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 39 f

logo-moabit-kDieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

       Eine Kindheit,

       die keine Kindheit war

Neununddreißigstes Kapitel

Banküberfall erfolgreich abgeschlossen – wohin mit dem Geld?

Dieser gehirnbenebelte Idiot war drauf und dran unsere Aktion vorzeitig zu beenden. Wollte er doch auf den Polizeiwagen ballern, der sich auf der in Gegenrichtung befindlichen Fahrbahn mitten in einem Stau befand. Es ist doch ganz natürlich, dass man in einer Stadt mal einem Poli­zeiwagen begegnet. Wäre unser Auto schon zur Fahndung ausgeschrieben, hätte man irgendwo Straßensperren errichtet,  unmittelbar nach dem Raub die Ausfallstraßen aus Eisenhüttenstadt heraus. Ich zweifelte ja gar nicht daran, dass er mit seinem Ballermann mit einem gezielten Schuss den Motor des Polizeiautos außer Gefecht setzen könne. Nur würde das dann wirklich eine Jagd auf uns auslösen. Mit diesen Argumenten konnte ich ihn dann doch noch wieder beruhigen. Wolfgangs Hektik musste ich dann noch ein zweites Mal unterbinden. Kurz vor dem ehemaligen Grenzübergang Marienborn/Helmstedt hörten wir das typische Geräusch, welches Polizeiautos so an sich haben, wenn sie schnell zu einem Einsatzort müssen. Wieder hatte Wolfgang seinen Schieß­prügel zur Hand das Seitenfenster heruntergedreht. Ob er denn meine, die Polizei sei so doof, sich mit Martinshorn anzumelden, wenn sie drei bewaff­nete Bankräuber im Begriff sei fest­zunehmen? Wahrscheinlich, wovon wir dann auch schnell überzeugt wurden, wären die zu einem Autobahnunfall unterwegs. Kein Wunder, dass Wolfgang überall Gespenster sah. Wann war er schon mal mit einem Auto unterwegs gewesen? Zumindest in den letzten 20 Jahren. Wieder gelang es mir Wolfgang zu beruhigen.

Sie habe sich neu verlobt.

Sehr bald steckten wir in einem Stau. Wir erreichten gerade noch so eben die Autobahnraststätte Marienborn, ergatterten einen der letzten noch freien Parkplätze. Den so erzwungenen Aufenthalt nahmen wir dann auch gleich für eine Nahrungsaufnahme, die erste seit dem Frühstück. Wolf­gang, inzwischen ganz euphorisch, nutzte die Fahrtpause dazu, seine adelige Freundin in Han­nover anzurufen. Er kündigte an, recht bald wieder zuhause zu sein. Sie solle, falls Gäste in der Woh­nung wären, diese wegschicken. Sie beide hätten allen Grund eine kleine Privatfeier zu starten. Wie ich erst viel später erfuhr, hatte Reni gar nicht daran gedacht ihre Gäste weg zu schicken. Im Gegenteil. Sie konfrontierte ihren Verlobten mit der Aussage, dass sie sich neu verlobt hätte. Und zwar mit seinem ehemaligen Knastbruder Bruno Reckert. Sie erinnern sich? Das war der meistge­suchte Verbrecher von Deutschland zu der Zeit, weil er sich mit einer Waffe aus der JVA Lingen selbst entlassen hatte. Wolfgang nahm diese Kündigung gelassen hin. Voller Stolz zeigte er den Anwesenden seine Beute und meinte, dass er ein paar Tage brauche, um sich selbst eine Woh­nung zu suchen. Diese authentischen Insider-Informationen erhielt ich später in der JVA Celle von einem der an diesem Abend Anwesenden. Paule traf ich dort wieder, weil er 15 Jahre sitzen musste und im Anschluss an die 15 Jahre noch einmal LL[1]. Die 15 Jahre Höchststrafe für die Überfälle, die er gemeinsam mit Bruno Reckert begangen hatte. LL gibt es nur für Mord! Aber darauf komme ich noch zurück.

Am 20ten November 1990, einem Freitag, waren wir 13 Stunden nach dem Banküberfall wieder in Hannover. Für den kommenden Sonntag hatten wir ausgemacht, dass ich ihm[2] 200 Gramm Haschisch vorbeibringen würde. Für seinen jüngeren Bruder, der bei der Bundeswehr diente. Schon bei diesem Besuch merkte ich, dass zwischen Wolfgang und Reni nicht alles so war, wie bei mei­nen früheren Besuchen. Ich sprach ihn deswegen an, als wir eine Weile alleine im Wohnzimmer saßen. Wolfgang meinte nur, dass er mich die Tage anrufen würde. Er wollte sich dann mit mir treffen und alles erklären. Es kam aber zu keinem weiteren Treffen.

An jenem Freitagabend setzte ich Harry in seinem geliebten Rotlichtviertel ab. Er überredete mich, doch wenigstens einmal auf unseren gelungenen Coup anzustoßen. In einer von ihm bevorzugten Bar bestellte er zwei Bier für uns und fragte natürlich die anwesenden Animierdamen und den Wirt selbst, ob sie mit ihm was mittrinken würden. Natürlich ließen die sich nicht großartig bitten. Wofür waren sie schließlich Animierdamen? Harry, der von mir vornehmlich kleine Scheine von der Beute erhalten hatte, holte selbstverständlich einen von den wenigen Zweihundertern heraus und zahlte seine Zeche sofort. Alle sollten sehen, dass er wieder einmal ein Vollstecker[3] war. Dementspre­chend war er auch mit dem Trinkgeld mehr als großzügig. Ich nuckelte man gerade aus Höflichkeit an meinem Bier. Harry dagegen hatte seine Flasche mit fast einem Zug geleert. Und schon hieß es für ihn eine neue Runde. Für alle versteht sich. Ich selbst lehnte dankend ab. Ich musste ja noch Auto fahren. Ich durchschaute sein Spielchen. Wieder zahlte er aus der Tasche, wo sich die Zwei­hunderter befanden. Diese Großkotzigkeit schien man hier am Steintor von Harry schon zu kennen. Allen war klar, dass Harry wieder ein größeres Ding mit Erfolg abgezogen hatte. Ich dachte gar nicht daran, mich von den Animierdamen becircen zu lassen. Anders dagegen Harry. Der hatte schon längst eines der Mädchen auf seinem Schoß sitzen und seine Finger sonst wo. Trotz aller Überredungskünste ließ ich mich nicht darauf ein, mich weiterhin von Harry einladen zu lassen. Ich wollte ganz einfach nach Hause, zu meinem Sohn und meiner Lebensgefährtin.

Wann in meinem Leben wurde ich auch schon mal belobigt?

Helga wollte natürlich eine Erklärung von mir, warum ich so plötzlich und so lange die Wohnung verlassen hätte. Sie war auch gerade erst von ihrer Spätschicht nach Hause gekommen. Mein Ver­trauen zu Helga war derzeit noch riesengroß. Hinzu kam noch, dass auch ich endlich meiner ange­stauten Freude über das Gelingen des Raubzuges Luft verschaffen musste. Ein wenig Bewun­de­rung, was meiner Seele gut tun würde, hatte ich mir verdient. Wortlos zog ich den Reißverschluss meiner Erste-Hilfe-Tasche auf und schüttete die Geldbündel zwischen uns auf die Couch. Solch einen Geldsegen hatte meine hochverschuldete Helga noch nie auf einem Haufen gesehen. Ihre schönen großen Augen, in die ich mich eigentlich verliebt hatte, wurden noch viel größer. An dem Tag, als ich von ihrem miesen Kontostand erfuhr, hatte ich ihr versprochen, dass wir zusam­men das wieder auf die Reihe kriegen würden. Mit diesem Einreden [?] konnte ich mein Verspre­chen einlösen. Zunächst einmal konnte sie gar nicht glauben, was sie da sah. Sie wollte dafür eine Erklä­rung haben. Die gab ich ihr auch, ohne etwas an der Wahrheit zu beschönigen. Ihre bewun­dernden Blicke gingen mir wie Honig herunter. Wann in meinem Leben wurde ich auch schon mal belobigt?

Am nächsten Tag schon ließ ich mich auch bei meinem Geschäftspartner im Büro blicken und konnte ihm grünes Licht für unser Vorhaben geben. Das heißt, ich konnte ihm verkünden, dass die weitere Finanzierung gesichert sei. Im Glauben daran, dass ein Geschäftspartner, mit dem ich ein viel größeres Ding abzuziehen im Begriff stand, der ja selbst ein vielfach Vorbestrafter war, den könnte ich ebenfalls einweihen, woher das Geld stammte, schenkte auch ihm reinen Wein ein. Meine Gutgläubigkeit an Menschen war eben grenzenlos. Ich unbelehrbarer Idiot lernte wohl nie aus! Ich brachte noch schnell das Haschisch unter die Leute. War ich doch nach meiner Einkaufs­reise nach Amsterdam gleich zu dem anderen Coup abberufen worden, hatte somit noch den gesamten 3-Kilo-Vorrat im Bunker. Nicht dass ich jetzt unbedingt Geld benötigt hätte. Das Warm­halten meines Großdealers in Amsterdam gehörte ganz einfach zu meinen zukünftigen Plänen in Verbindung mit den selbsthergestellten Geldscheinen. Längst hatte ich das volle Vertrauen meines Geschäftspartners in Amsterdam erworben.

Ich glaubte, ich würde fliegen.

Der Besitzer eines pikfeinen Coffee-Shops in der City von Amsterdam hatte natürlich niemals solche großen Vorräte im Haus, wie ich sie jedesmal haben wollte. Haschisch an sich war in Hol­land ganz legal zu erwerben, aber auch nur bis zu fünf Gramm pro Person. Zählte er die ersten Male noch ganz pingelig die Scheine ab, die ich ihm beim Kauf der Ware rüberreichte, so legte er später meine Geldbündel ziemlich achtlos zur Seite und bestand darauf, dass ich die Ware auch noch selbst prüfte. Ich jedoch begnügte mich damit die Qualität mit meinem Geruchssinn festzu­stellen. Einmal hatte ich aus der Wasserpfeife ein paar Züge getan. Als ich die 500 Kilometer lange Rückfahrt nach Hannover antrat glaubte ich, hinter dem Steuer meines Autos sitzend, ich würde fliegen. Ich schaffte es gerade mal bis zur Autobahn. Dann übergab ich das Steuer an Helga und legte mich auf die Rückbank zum Schlafen hin. Diese verfehlte dann auch prompt die Abzweigung in Richtung Venlo.

So wie er mir also vertraute, vertraute ich ihm, was die Qualität anging. Auf Drängen meiner Abnehmer in Hannover fuhr ich einmal an einem Sonntag nach Amsterdam. Sein Personal gab sich alle Mühe, ihren Chef aufzutreiben. Bis der dann endlich eintraf, die benötigte Ware beisam­men hatte, das Ganze schön vakuumverpackt bereit zum Transport war, vergingen Stunden. In der Zwischenzeit wurden ich und Helga hofiert wie Staatsgäste. Es wurde nicht zugelassen, dass wir in ein nahegelegenes Restaurant gingen. Der Chef persönlich besorgte uns eine Speisekarte und holte dann auch selbst das ausgesuchte Menu. In besagten Coffee-Shops wurde laut Gesetz auch kein Alkohol ausgeschenkt. Ein Bier zum Essen wurde ebenfalls aus der Nachbarschaft herbeige­schafft. Während wir uns mit Speis und Trank stärkten, drehte man wegen der übrigen Gäste die Musik auf volle Lautstärke. Die eilig herbeigeschafften Einzelteile, die für das Vakuumverpacken nötig waren, wurden im Getränkelager aufgebaut. Die laute Musik deshalb, weil der eigentliche Vorgang beim Absaugen und Verschweißen in Frischhaltefolien einen unheimlichen Krach machte. Diesem sonntäglichen Stress wollte sich mein Geschäftspartner nicht unbedingt noch einmal unter­ziehen. Deshalb gab er mir seine direkte Durchwahl-Telefonnummer. Damit konnte ich meine Bestellung schon vor Abfahrt aus Hannover durchgeben. Was den Vorteil hatte, dass alles schon säuberlich verpackt war, wenn wir dort ankamen. Längst hatte er mir das Angebot unterbreitet, doch mal eine Sammelbestellung zu machen. Bei der Abnahme von 20 Kilo und mehr würde er alles frei Haus liefern. Schon als die Sache mit der eigenen Geldherstellung Konturen annahm machte ich ihm Hoffnungen, dass ich daran arbeiten würde. Einige solvente Türken in Hannover würden mich schon länger bedrängen, für sie nicht nur Haschisch mitzubringen. Was ja auch den Tatsachen entsprach.

Ich sagte Detlev nicht, wie ich das Geld waschen wollte.

Ich gab dem Mann in Amsterdam vorsorglich schon mal einen Tipp, in welcher, wenn überhaupt, Größenordnung ich da einsteigen würde, weil ich ja das Risiko tragen würde und es sich von daher auch schon lohnen müsse. Skeptisch fragte ich ihn, ob er solch eine Menge auch bewerkstelligen könne. Er schien beleidigt zu sein. Ich bin daraufhin eine so schmale Treppe hinaufgestiegen.[4] [Die gibt es] noch nicht einmal auf einem Schiff. treppe NL 1.jpgVoller Stolz zeigte er mir sein Warenlager. Es mussten Millionenwerte sein, die er vorrätig hielt. Generös bot er mir eine Nase Koks an. Ich, keine Ahnung wie man das Zeugs anwendete, tat das, was man mir mal darüber gesagt hatte, wie man die Qualität testen könne. Ich rieb mir etwas davon aufs Zahnfleisch. „Papperlapapp! So macht man das!“. Er bereitete zwei Linien auf einem Spiegel vor und zog sich diese mit einem silbernen Röhrchen in die Nase. Beim Weglegen des Röhrchens stieß er versehentlich mit dem Ellenbogen gegen das noch fast volle Päckchen mit dem übrigen Koks. Es fiel auf den Teppichboden, verteilte sich dort. Er machte sich erst gar nicht die Mühe das Häufchen wieder in den Beutel zu kratzen. Er trat ganz einfach mit seinem Schuh drauf und verrieb es in den Teppich. Auf welche Weise ich vorhatte unser Geld zu waschen, hatte ich Detlev bisher nicht verraten. Aus welchen Gründen auch immer. Mein Plan war, auf keinen Fall mehr als 1,5 Millionen in Umlauf zu bringen. Und das möglichst gezielt an einer Stelle. Dann sollte durch drei geteilt werden und Schluss. Notfalls, so hatte ich ihm und seiner Schwester erklärt , die ja die eingetragene Geschäftsführerin war, würde ich das Kopiergerät eigenhändig zerstören. Mit jeweils einer halben Million konnte man sich sehr gut ein solides, legales Geschäft aufbauen. Können Sie sich schon denken, worauf ich abzielte?

Obwohl ich das volle Vertrauen meines Amsterdamer Geschäftspartners genoss, hatte ich mir schon längst ein Pseudonym zugelegt. Auch hatte er nie mein Auto zu Gesicht bekommen. So konnte ich ihm weismachen, dass ich aus Frankfurt käme und dort ein mehr schlecht als recht gehendes Immobilienbüro betreibe. Weshalb ich auch dieses Nebengeschäft betreibe. Im Falle, dass unser großangelegtes Geschäft zum Tragen kommen würde, hätte ich kurzfristig ein Büro in Frankfurt angemietet, ein dementsprechendes Aushängeschild angebracht und mir die Ware dorthin schicken lassen. Wie später von der Bundesbank bestätigt wurde, war unser „Geld“ wirklich gut. Es dauerte Wochen bis man dies entdeckte. Wie also sollte mein Lieferant den Betrug auf Anhieb erkennen? Er wäre damit zurück nach Holland gefahren, hätte allerfrühestens nach ein paar Tagen den Beschiss bemerkt. Wahrscheinlich wäre er sogar im Knast gelandet. Selbst wenn er so einen langen Arm gehabt hätte, mich suchen zu lassen, hätte er sich daran die Zähne ausge­bissen. Bis er oder seine beauftragten Häscher festgestellt hätten, dass es mich in Frankfurt gar nicht gab, wäre ich schon längst im „Erholungsurlaub!“

Gezielt im Knast untertauchen

Ich hatte schon lange genügend Connec­tion bei gewissen Türken aufgebaut, um zu wissen, dass es kein Problem darstellte, Marihuana, Koks und auch Heroin in dieser Größenordnung mit einem Schlag loszuwerden. Natürlich nicht zu meinem Einkaufspreis. Detlev brauchte ja nicht zu wissen, dass ich dabei mein eigenes Süppchen kochte. Mir wären dabei nämlich unter dem Strich etwa zwei Millionen übrig geblieben, während er und seine Schwester die vereinbarten Fünfhunderttau­send bekamen. Abzüglich der von mir verauslagten Unkosten, versteht sich. Sobald besagtes Geschäft abgeschlossen war, hätte ich mich, um mich vor eventuellen Verfolgern aus Holland zu schützen, beim Gericht gemeldet und darum gebeten meine laufende Bewährungsstrafe zu wider­rufen. Mit vorgeschobenen Begrün­dungen hätte man meinem Ersuchen zustimmen müssen. Ich würde meine Bewährungsstrafe resultierend aus der Münzgeschichte als Erholungsurlaub betrach­ten. Meine letzte Reise nach Amsterdam hatte ich auf zwei Krücken gehend angetreten. Schuld daran war so ein böser Rottweiler, der mir kräftig ins Bein gebissen hatte. Eine schmerzhafte aber nicht zu ändernde Tatsache. Ansonsten lief alles bestens.

Die Geschichte mit Eisenhüttenstadt, wo wir uns ein Darlehen gegen eine Sicherheit von nur 9mm[5] geholt hatten, schien längst in Vergessenheit geraten zu sein. Zumindest hatte die Polizei dort schon längst die Hoffnung aufgegeben, den Fall noch lösen zu können. Ein kleiner, beleidigter Straßendealer seines Zeichens Junkie, den ich nicht mehr für wert hielt von mir Ware zu beziehen, weil er seine Schulden bei mir nicht bezahlte, machte meine ganzen Zukunftspläne zunichte. Mit 500 Gramm Hasch im Auto fuhr ich in die City, wo ich einen Liefertermin einhalten wollte. Helga war zu ihrer Spätschicht gefahren, mein Sohn hatte sich mit seinen 15 Lenzen schon bei seiner Freundin einquartiert. Ich hatte Langeweile, fuhr deshalb schon frühzeitig in die Stadt. Wie ich so an meinen Krücken durch die Passerelle humpele, werde ich von gleich vier Zivilbullen eingekreist.

 

Vierzigstes Kapitel

Ein fast perfekter Mord, wenn Frau „Dummfick“ nicht gewesen wäre.

Mir ihre Hundemarken vor die Augen haltend verlangen sie von mir die Taschen zu leeren. Dum­mer­weise hatte ich ganz gegen meiner Gewohnheit 24 Gramm der verschiedensten Hasch­sorten in meiner Hemdtasche. Das genügte natürlich, mich gleich aufs Revier zu schleppen. Nackt ausziehen war angesagt. Jedes Teil meiner Kleidung wurde akribisch durchsucht. Dabei ließ man mich mit nackten Füßen auf den dezemberkalten Fliesen stehen. Wie „gut“ unsere Polizei geschult ist erkannte ich daran, dass sie den kleinen Zettel (vier Mal zwei Zentimeter) geflissentlich übersah. Darauf war allerdings eine holländische Vorwahlnummer und die Direktwahl meines Lieferanten vermerkt. Dadurch, dass die Schlafmützen von Polizisten diesen so wichtigen Zettel nicht weiter beachteten, konnte ich später meine Verteidigungsstrategie vor Gericht aufbauen und gleichzeitig meine persönliche kleine Rache an meinem ehemaligen Geschäftspartner auskosten, der während meiner Abwesenheit in MEINEM Büro das Schloss ausgewechselt hatte. Sie erinnern sich, dass ich erwähnte ihm zu einer Kochlehre im Gefängnis verholfen zu haben?

Ich dachte gar nicht daran, der Polizei ihre Arbeit leicht zu machen.

Den so wichtigen Zettel in meiner Brieftasche hatten die Bullen übersehen. Sie übersahen aller­dings nicht, dass sich an meinem Schlüsselbund ein Autoschlüssel befand. Sie wollten wissen, wo das Auto steht. Wusste ich doch, dass ich aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen würde, würde man das Auto durchsuchen und die 500 Gramm darin finden. Ich versuchte sie deshalb hinters Licht zu führen, behauptete, dass meine Verlobte damit zur Arbeit gefahren sei und dies nur ein Zweitschlüssel sei. Offiziell lief der Wagen ja sowieso auf ihren Namen. Leider glaubten sie mir diese Geschichte nicht. Nach etwa einer halben Stunde kamen zwei meiner Häscher triumphierend zurück zur Wache. Meinen Aktenkoffer in der Hand, worin sich die 500 Gramm befanden. Ade, du schönes, weiches Bett zu Hause!

Ich dachte gar nicht daran, der Polizei ihre Arbeit leicht zu machen. Wenn sie mich schon für ein paar Jahre einbuchten wollten, sollten sie gefälligst auch etwas dafür tun. Zunächst bemühten sie sich, einen Drogenspürhund aufzutreiben. Selbstverständlich hatten sie vor, auch meine Wohnung nach weiteren Drogen zu durchsuchen. Weit und breit war kein solcher Hund verfügbar. Nicht einmal der Zoll vom Langenhagener Flugplatz konnte ihnen helfen. So mussten die Bullen sich auf ihre eigenen Nasen verlassen. Als erstes rissen sie die schmiedeeiserne Flurgarderobe aus der Verankerung, als wir in der Wohnung ankamen. Ein zweiter stieß die Badezimmertüre mit einem Fußtritt auf, stürmte bis ans Ende zur Toilette hin, trat auch dort kräftig gegen den Klodeckel und riss fast den Wasserkasten aus der Wand. Mit den Türen des Alibertschrankes ging er auch nicht gerade zimperlich um. Dies alles geschah aus Frust darüber, dass sie mir keine ihnen genehme Aussage hatten entlocken können. Nachdem er sich im Badezimmer ausgetobt hatte, nahm er sich die Küche vor. Dort, so wusste ich, würde er pfundig[6] werden.

Der Begriff Vandalismus bekam für mich eine ganz neue Bedeutung.

Im Regal, gleich über dem Gewürzständer lag eine Zigarilloschachtel aus Blech. Darin befanden sich ein paar Gramm. Das waren kleine Bruchstücke, die von den Haschischplatten abgesplittert waren, wenn ich die Platten auf genau 100 Gramm zurechtschnitt. Die Menge war kaum der Rede wert, nachdem man ja schon 500 Gramm im Auto gefunden hatte und fiel nicht weiter ins Gewicht. Mit einer Acht an den Händen gefesselt stieß man mich im Wohnzimmer auf die Couch und erlaubte mir sogar, mir eine Zigarette zu drehen. „Hier ist bestimmt noch mehr!“ kam der aus der Küche freudestrahlend ins Wohnzimmer. Dabei wies er auf die kleinen Bruchstücke in der Blechschachtel aus der Küche. Dann begab er sich in das Zimmer, wo mein Sohn noch bis vor kurzem sein Domizil gehabt hatte. Ein anderer filzte das Wohnzimmer, wobei er sämtliche Schubladen herausriss. Noch nicht einmal den Sittichkäfig ließ er aus. Ich dagegen beobachtete angespannt, was der im Kinderzimmer anstellte. Darin stand auch unser Staubsauger. In diesem Staubsauger hatte ich als Notgroschen 5000 Mark versteckt. Würde der Bulle das Geld finden? Was würde er mit dem Fund tun? Würde er der Versuchung widerstehen, die nicht gerade uner­hebliche Summe einzustecken? Würde er so denken wie ich? Es war ja nicht davon auszugehen, dass ich ihn fragen würde, ob er die 5000 Mark gefunden hätte. Er hätte sich also gut und gerne die etwa zwei Monatsgehälter unbemerkt einstecken können. Immerhin dauerte es fast ein halbes Jahr, bis ich Gewissheit darüber erhielt, ob das Geld im Staubsauger gefunden worden war. Im Beschlagnahmeprotokoll jedenfalls stand nichts davon. Was allerdings gar nichts heißen sollte. Aber auch dieser Mann hatte eine schlechte Polizeischule besucht oder nicht gut genug aufgepasst.

Dafür aber überraschte mich der Typ aus dem Schlafzimmer. Kurz zuvor hatte ich ihn noch gefragt, ob er das bei sich zu Hause auch machen würde, nämlich sich mit den Schuhen auf meinem Bett­laken stehend räumte er den Kleiderschrank auf. Und wie. Wahllos zerrte er alles daraus hervor, ließ alles auf die Erde fallen, ohne sich zu vergewissern, ob sich zwischen den Kleidungsstücken nicht etwas versteckt sei. Der Begriff Vandalismus bekam für mich eine ganz neue Bedeutung. Seine Antwort auf meine Beschwerde, dass er mit Schuhen auf meinem Bett stand, tat er mit den Worten ab: „Das macht gar nichts. In diesem Bett wirst du in den nächsten Jahren ohnehin nicht mehr schlafen!“ Dass ich seitdem kein gutes Verhältnis mehr zu unserem Freund und Helfer aufbauen konnte, werden Sie vielleicht verstehen!?

„Bingo!“ – „Der Nikolaus war da!“

Das war aber gar nicht die angekündigte Überraschung. Erst als der Kerl meine Seite des Doppelbettes hochgeklappt hatte und eine Keksbüchse hochhielt und „Bingo!“ rief, erkannte ich den Grund seiner Freude. Bei den Kilomengen Hasch, die ich fast immer vorrätig hatte, war mir gar nicht aufgefallen, dass mir 700 Gramm irgendwie fehlten. Als der Bulle seine Trophäe in die Höhe hielt und Bingo rief, fiel mir siedend heiß ein, wieso ihm dieser Fund gelingen konnte. Tage zuvor war ich gerade im Begriff gewesen aus dem Haus zu gehen, um eine bestellte Lieferung pünktlich abzuliefern, klingelte das Telefon. Eine weitere Bestellung wurde mir angetragen. Diese musste ich dann noch abwiegen. Das nahm seine Zeit in Anspruch. Mein Pünktlichkeitswahn ließ es nicht zu, dass ich den Rest wie vorgesehen wieder zu dem eigentlichen Bunker (Bunker = Versteck) bringen konnte. So deponierte ich die 700 Gramm eben noch schnell im Bettkasten. Wo ich die 700 Gramm dann auch prompt vergaß. Keine Frage, dass sich die Fahnder darüber sehr freuten. So sangen sie dann auch auf der Fahrt zum Polizeipräsidium, wo sich auch das Haftge­fäng­nis befand. Dort verblieb der vorläufig Festgenommene bis zur Vorführung bei einem Haftrichter.

Wollen Sie auch wissen was die so erfolgreichen Fahnder sangen? Weil sich meine Verhaftung am 6. Dezember ereignete, sangen sie passend dazu: „Der Nikolaus war da!“

Ich, eigentlich aus dem Alter heraus, wo man noch an den Nikolaus glaubt, hätte mir wenn schon eine ganz andere Bescherung gewünscht, als ich sie nun serviert bekam. Bevor die Bullen meine Verhaftung mit besagtem Gesang feiern konnten, mussten sie erst noch einen Polizei Bulli bestel­len. Außer der nicht gerade geringen Menge Haschisch beschlagnahmten sie auch noch sechs originalverpackte CD Player, einige schnurlose Kopfhörer und anderes zu damaliger Zeit noch recht teures Elektro-Equipment. Einige „Kleinabnehmer“ hatten nicht immer das nötige Kleingeld, um meine Ware zu bezahlen. In der Szene war es durchaus üblich, sich mit Dingen bezahlen zu lassen, deren Herkunft nicht ganz koscher war. Was sollte das? Wenn man nicht gerade im Pleitefeuer brannte, sich Zeit lassen konnte, konnte man auch an dieser Ware seinen Reibach machen. Im Verlauf der nächsten drei Monate konnte die Ermittlungsbehörde nicht feststellen, woher die bei mir gefundenen Gegenstände kamen. Zähneknirschend teilte die Polizei mir mit, dass ich mir mein „Eigentum“ wieder abholen könne. Diese Scherzkekse! Zum einen mussten sie doch wissen, dass ich mich längst in Haft befand, ich die Sachen somit nicht abholen konnte, zum anderen sagte ich ihnen am Telefon, dass sie mir die Dinge genauso wieder in die Wohnung bringen sollten, wie sie sie mitgenommen hatten. Was also blieb ihnen übrig, mir die zu unrecht beschlagnahmten Sachen auf Steuerkosten wieder ins Haus zu schaffen.

Die Strafe? Peanuts. Doch es kam noch viel dicker.

Natürlich wurde dieses Thema später bei Gericht nochmal angeschnitten. Der Richter wollte dann schon wissen, wie soviel neue Technik in mein Haus gekommen sei. Meine diesbezügliche Erklä­rung konnte man schlecht widerlegen. Hatte ich doch im gerade wiedervereinigten Deutschland, in der Ex-DDR eine Schwester samt Kinder und Enkelkinder. Es war doch ganz natürlich, dass ich in der Vorweihnachtszeit schon mal passende Geschenke eingekauft hätte. Auch die bei meiner Fest­nahme konfiszierten 1.900 Mark musste man wieder herausrücken. Gehörte das Geld doch gar nicht mir, sondern Helga, meiner schwer arbeitenden Lebensgefährtin. Das wurde dazu auch noch glaubhaft belegt, in dem wir einen Kontoauszug vorlegen konnten. Daraus ging einwandfrei hervor, dass Helga tags zuvor 2.000 Mark von ihrem Konto abgehoben hatte. Die Strafe, die ich für diesen Geschäftszweig erhielt, waren Peanuts gegen das, was danach noch dazu kommen sollte.

„Der fast perfekte Mord“

Zwischen dem Rottweilerbiss und meiner Verhaftung geschah aber noch etwas Gravierendes. Es lagen immerhin zwischen dem Ding in Eisenhüttenstadt und meiner Verhaftung wegen Drogenbe­sitzes ganze 16 Tage. Zunächst tangierte es mich nur peripher, als mir beim Besuch in einer Rotlichtkneipe eine Zeitung vor die Nase gelegt wurde. Ich selbst war gerade aus Frankfurt zurück­gekehrt, wo ich mich schon mal nach einem geeigneten Büro umgeschaut hatte für das viel grö­ßere anstehende Geschäft. So war ich als fleißiger Zeitungsleser nicht auf dem Laufenden. Irgend­wie, wahrscheinlich durch Harrys Propaganda, war ich zu einer Nummer im Milieu gekommen. Gespannt beobachtete man mich als ich die Überschrift las.

„Der fast perfekte Mord“ stand da in großen Lettern als Überschrift. Dass der fast perfekte Mord an meinem Mittäter beim Banküberfall in Eisenhüttenstadt stattgefunden hatte, erfuhr ich erst aus dem fast ganzseitigen Artikel der Zeitung. Na und? Welche Schuld traf mich dabei? fragte ich mich. So eine enge Freundschaft hatten wir ja nicht gepflegt, als das es mich weiter belastete. An den Tod war ich schon während meiner Kindheit gewöhnt worden. Der Zeitungsartikel war wie gewöhnlich in solchen Fällen ziemlich reißerisch aufgemacht. Jedoch dachte ich nicht daran mich bei der Polizei zu melden, um einiges richtigzustellen. Es waren ja auch nur Vermutungen, die das in der Zeitung Geschilderte in gewissen Punkten hätten widerlegen können. An Wolfgangs Tod ließ sich ohnehin nichts mehr ändern. Mein Kopf war mit ganz anderen Problemen beschäftigt. Ganze acht Tage hatte Wolfgang sich an seiner Beute noch erfreuen können, während ich einen Großteil meiner Beute in das nächste Geschäft investiert hatte. Dieses Geschäft wollte gut durchdacht sein, wollte ich mich doch danach endgültig aus diesem Milieu verabschieden.

Doch wie bereits bekannt sollte es dazu nicht mehr kommen. Das Schicksal hatte eine andere Zukunft für mich vorgesehen. Die so gar nicht meinen rosaroten Träumen entsprach. Ich wurde also ins Polizeigefängnis verbracht. In einem zweiten Polizeiauto, welches zur gleichen Zeit mit uns dort eintraf, saß Helga. Weil die 700 Gramm Hasch in unserem Doppelbett gefunden wurde, hatte man sie natürlich gleichfalls in Verdacht, dass sie an dem nicht ganz legalen Drogenhandel beteiligt sei. Was im Grunde genommen ja auch stimmte. War sie doch jedesmal bei meinen Amsterdamreisen dabei gewesen, hatte selbst Bestellungen am Telefon angenommen, wenn ich nicht da war. Obwohl sie an allen Aktivitäten, einschließlich der Londonreisen teilgenommen hatte, sie auch die erste war, die von der Bankbeute wusste und davon profitierte, habe ich es geschafft, sie vor Gericht da vollkommen rauszuhalten. Ihren Dank dafür bekam ich erst später präsentiert.

Die Selbstmordgefahr ist in der ersten Haftnacht am größten.

Aus Frust darüber, dass die Bullen mir kein Geständnis hatten entlocken können, hatten sie mich trotz meiner Gehbehinderung mit auf dem Rücken gefesselten Händen durch die Stadt kutschiert. Selbstverständlich waren die Handschellen bis an den Anschlagspunkt eingerastet worden. Purer Sadismus musste dabei eine Rolle spielen, wenn sie die Kurven so nahmen, dass ich auf dem Rücksitz hin und her geschleudert werden musste. Mit den Füßen fand ich auch keinen Halt. Hatte man mir doch im Krankenhaus ganz schön viel Fleisch rund um die Bissstelle herausgeschnitten und vernäht. Jede Anstrengung tat höllisch weh. Noch saurer als sie ohnehin schon waren, wurden die mich begleitenden Bullen, als sich der Wachhabende an der Gefängnispforte weigerte, mich krückenbehafteten Neuzugang überhaupt anzunehmen. Er verlangte ordnungsgemäß von meinen Begleitern ein ärztliches Attest über meine Haftfähigkeit. Diesen konnten die natürlich nicht vor­weisen. Mit viel Überredungskunst gelang es ihnen dann doch noch den Wachhabenden dazu zu überzeugen, uns einen Raum zur Verfügung zu stellen, wo wir auf das Eintreffen eines Arztes warten könnten. Es dauerte aber eine geraume Weile, bis ein solcher auftauchte. Währendessen moserte einer der Beamten herum. Wegen der Überstunden, die er meinetwegen schieben musste, und dass er wegen mir eine Fortsetzung von „Mission Impossible“ verpasse. Was gingen mich deren Probleme an. Meine Uhr hatte seit etwa 10 Stunden begonnen von meiner 10 jährigen Haftstrafe herunter zu ticken. Dann kam er endlich. Der Arzt. Nein, nicht etwa der Notarzt. Wozu hatte man seine eigenen Polizeiärzte, der aber musste erstmal seinen Job im 30 Kilometer entfernten Neustadt am Rübenberge erledigen, bevor er zu uns nach Hannover kam. Der Arzt hatte noch nicht einmal die übliche Notfallarzttasche dabei, der löste lediglich meinen Verband am Bein, besah sich die frische Wunde, erklärte mich für hafttauglich. Jeder Laie hätte den Verband besser wieder anlegen können als es dieser Arzt anschließend wieder tat. Nach ein paar Stunden Schlaf auf der versifften Strohmatratze in der Gefängniszelle hätte ich mir aus dem gelösten Verband einen Strick drehen können. Gürtel, Schnürsenkel, alles, was zum Selbstmord tauglich war, wurde ja vorsorglich jedem Gefangenen abgenommen. Es ist ja statistisch bewiesen, dass die erste Haftnacht die selbstmord­gefährdeste ist. Wenige Stunden später, im richtigen Gefängnis, wo eine Zugangsuntersuchung Pflicht ist, schüttelten die Sanis dort nur den Kopf wegen meines notdürftigen Verbandes. Die drückenden Beweise, die die SOKO (dass eine SOKO eigens für mich installiert worden war, erfuhr ich erst jetzt!) gegen mich gesammelt hatte, machten es dem zuständigen Haftrichter leicht, sich für einen Haftbefehl zu entscheiden. Daran konnte auch der von Helga, die inzwischen schon wieder auf freiem Fuß war, alarmierte Rechtsanwalt nichts ändern.

Die vielfältigen Rückschläge, die ich in meinem bisherigen Leben bereits erlitten hatte, ließen es mich nicht ganz so tragisch nehmen, was mich nun erwartete. Es gibt im Leben nun mal keine Zeit, die man zurückdrehen könnte, einmal gemachte Fehler korrigieren kann man allenfalls in einem Diktat. Dass alles noch viel schlimmer kommen würde, daran dachte ich zu dieser Zeit überhaupt nicht. Einschließlich der noch offenen Bewährungsstrafe rechnete ich damit, die nächsten vier Jahre aus dem Verkehr gezogen zu werden. Im guten Amtsdeutsch begründet man eine Gefängnisstrafe mit dem Hinweis, dass durch die Inhaftierung die übrige Bevölkerung für eine Weile vor den Straf­tätern geschützt wird. Erst kürzlich hatte die Polizei ja wieder einen guten Fang gemacht. Sie konnte vermelden, dass der gefährliche Serienräuber Bruno Reckert wieder in das Netz des SEK gegangen war. Dass dies überhaupt möglich geworden war, lastete man meinem Mittäter Wolfgang Dietrich an. Das war auch der Grund, dass er nicht älter als 39 Jahre wurde. Sie erinnern sich? Am späten Abend des 20ten November waren wir von unserem erfolgreichen Beutezug aus Eisenhüttenstadt zurückgekehrt. Vorgesehen war aus Wolfgangs Sicht eine Feier mit seiner Verlobten. Aus seiner himmelhochjauchzenden Euphorie wurde ein Absturz der feinsten Sorte. In der Wohnung ange­kommen, bekam er statt eines Begrüßungsküsschen vor den Latz geknallt, dass Reni ihre Verlobung aufgelöst hätte, sich dafür seinen „Freund“ Bruno Reckert als neuen Verlobten auserkoren hatte. Nach wochenlanger Abwesenheit aus der JVA, einigen erfolgreichen Bank und Supermarktüber­fällen wurde Reckert ausgerechnet drei Tage nach seiner Verlobung mit dem Fräulein von K……aus seinem Versteck geholt.

Der Streit eskalierte schließlich.

Für „Paule“ war klar, dass Wolfgang der Tippgeber gewesen sein musste. In der Wohnung des adeligen Fräuleins, wo Wolfgang noch ein Bleiberecht hatte bis er etwas anderes gefunden hatte, kam es zwischen Paule und Wolfgang zum Streit. Eben wegen des Vorwurfs, der Verräter von Bruno gewesen zu sein. Der Streit eskalierte schließlich. Paule griff sich eine in der Ecke stehende Hantelstange und zog dem Wolfgang seinen Scheitel etwas nach. Das adelige Fräulein will angeblich von dem Streit nichts mitbekommen haben. Dabei spielte sich das Ganze nur knapp einen Meter vor der Schlafzimmertüre ab. Bei der Obduktion stellte man in der Pathologie auch noch Würgemale an dem Hals des Toten fest. Meine bescheidene Insidermeinung ist die, dass ich glaube, dass Reni Wolfgangs Krawatte etwas enger zog, nachdem er schon mal ganz friedlich und wehrlos auf dem Boden lag, und sie dem Wolfgang das Weiteratmen verweigerte. Paule wurde deswegen zu LL verurteilt. Reni dagegen zu nur 7 Jahren. Während die in meinen Augen jedenfalls eigentliche Schuldige keine 5 Jahre ihrer Strafe absaß, erblindete Paule im Knast. Meine letzte Information besagt, dass er bis vor drei Jahren immer noch als Blinder im Knast saß.

Und ich dachte immer das Verbrecher eingesperrt werden, um die Bevölkerung vor weiterem Unheil zu schützen. Quizfrage: Wen kann ein Blinder noch gefährden?

An dieser Stelle könnte ich ja eigentlich aufhören, über den Fortgang meines Lebensweges zu schreiben. Dafür könnte ich ein paar Hundert Seiten Gerichtsakten kopieren und dem geneigten Leser es selbst überlassen zu entscheiden, was Recht und Gesetz sind. Ich meine aber, dass ein jeder mal, vor allen Dingen diejenigen, die selbst noch nie vor Gericht gestanden haben, erfahren sollte, welche Fallstricke die Justiz zur Verfügung hat. Klar, vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Nur! Einige sind etwas gleicher!

Ich will dabei gar nicht auf Gerichtsurteile verweisen, wo die Großkopfeten aus Politik und Wirt­schaft nie eine Zelle von innen gesehen haben. Einen kleinen Zigarettenautomatenbetrüger kann man getrost ein paar Jahre gesiebte Luft verpassen. Das geht aber auf keinen Fall bei einem gewissen Grafen oder Milliardenbetrüger der Großindustrie. Die Einzigen wirklich „Prominenten“, die ich während meiner langjährigen Haftzeit kennengelernt habe, waren Männer aus der RAF, ebenso der IRA. Beide Gruppen, wovon ich einige persönlich kennenlernen und mich mit ihnen unterhalten konnte, stehen mir viel näher als die „unschuldigen“ Großabzocker. Die standen wenigstens zu ihren Taten und Ansichten. Bei mehrfachen Gesprächen mit einem gewissen Knut habe ich erst den von der Presse geprägten Ausdruck: Stockholm Syndrom[7] verstanden.

Hier darf ich noch einfügen, dass die beiden oben genannten Gruppen sich im Knast von den 15 übrigen, gemeinen Verbrechern distanzierten. Ich hatte es nur meinen Fremdsprachenkenntnissen zu verdanken, dass ich überhaupt von denen anerkannt wurde. Ohne mir teure Bücher kaufen zu müssen habe ich viel mehr von der irischen Geschichte erfahren, als ich hätte nachlesen können. Ebenso erging es mir bei dem Kontakt mit dem RAF Mann. Man möge mir meine wiederholten Abschweifungen vom eigentlichen Thema verzeihen. Doch zehnjähriges Eingesperrtsein, bedeutet noch lange nicht, dass alles spurlos an einem vorübergeht. Ereignisse finden überall statt. Ob ich nun als nackter „Wilder“ durch den Urwald husche oder mich im Großstadtdschungel bewege, so natürlich auch in einer Haftanstalt, wo es nur so von Menschen wimmelt. Menschen mit den verschiedenartigsten Charakteren. Allein das alltägliche Leben, aber insbesondere die herausra­genden Ereignisse während einer langjährigen Haftzeit, würden ein dickes Buch hergeben. So einige habe ich kennengelernt, die so gar nicht scharf darauf waren, was ihnen die Haftzeit so an Abwechslungen zu bieten hatte. Sie hängten sich einfach weg. Natürlich habe auch ich oft daran gedacht. Aber ich finde dazu gehört viel Mut. Den hatte ich nun mal nicht. Ich sitze also in U-Haft, warte darauf wie es weitergeht. In der Freistunde draußen auf dem Gefängnishof treffe ich auf Paule, erfahre die näheren Umstände, die zum Tode von Wolf­gang geführt haben und muss wieder mal innerlich über die Dummheit der Polizei grinsen, als ich von Paule erfahre wie der „Fast Perfekte Mord“ schließlich doch aufgeklärt wurde. Nicht die vielgepriesene Polizeiarbeit führte zum Erfolg. Eher würde ich dazu sagen, „Witz komm raus, du bist umzingelt.“ Natürlich stand davon kein Wort in der Zeitung, WIE der Mordfall aufgeklärt wurde. Es war wirklich der fast perfekte Mord, wäre den Bullen nicht Kommissar Zufall zu Hilfe gekommen. Oder besser noch Reni, die ich fortan nur noch „Dummfick“ nannte. Darf ich das hier näher ausführen? Ich tu es einfach, vielleicht lernen Sie ja dabei etwas über die Polizeiarbeit im Allgemeinen. Etwas weiter oben konnten Sie lesen, dass man den gefährlichen Verbrecher Bruno Reckert endlich wieder eingefangen hatte. Damit aber gab sich die Kripo nicht zufrieden. Sie wollte natürlich auch seine Mittäter dingfest machen. Alle ausgewerteten Spuren nach diversen Raubüber­fällen wiesen darauf hin, dass Bruno nicht alleine die Überfälle begangen hatte. Jetzt hieß es, die Verbrechensaufklärungsquote zu vervollständigen. Brunos Mittäter waren ja nicht weniger gefähr­lich. Außerdem hatte man bei Brunos Festnahme keine Beute noch die Tatwaffen gefunden. So observierte man schon etwas länger einen potentiellen Verdächtigen, der als Mittäter in Frage kam. Aus den Akten von Bruno Reckert, die in jedem Gefängnis fleißig vervollständigt werden, hatte das SEK recherchiert, mit wem der Bruno besonderen Kontakt im Gefängnisalltag gepflegt hatte. Weil auch deren Entlassungszeitpunkt ziemlich nahe beinander lag, hatte man ganz schnell auch den Paule in Verdacht, dem Bruno bei seiner Flucht geholfen, als ihm auch ein Versteck besorgt zu haben. Damit lagen sie gar nicht so falsch.

Fußnoten

[1] Lebenslänglich

[2] Gemeint ist Wolfgang

[3] [?] Laut Netzauskunft synonym für Gerichtsvollzieher https://www.mundmische.de/bedeutung/22878-Kuckuckskleber

[4] Photo aus dem Besitz von Dieter Schulz

[5] Gemeint ist das Kaliber der Schusswaffe

[6] Eine Freud’sche Fehlleistung? Gemeint ist fündig

[7] Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Stockholm-Syndrom

Inhaltsverzeichnis _Inhaltsverzeichnis

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 37 f

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Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

Siebenunddreißigstes Kapitel

Zwei große Dinger parallel

So sitze ich nun vor einem PC und haue wieder im Zweifingersuchsystem in die Tasten. Das fällt mir jetzt umso leichter, weil sich der Kreis bei mir zu schließen beginnt. Dass dies jemals der Fall sein könnte, habe ich mir zu Beginn meiner Aufzeichnungen noch nicht einmal träumen lassen.

Die Vertreibung aus meinem Geburtshaus in der Nähe von Königsberg. Aus Königsberg generell und meine Rückkehr dorthin. Zwar nur mit einem Visum ausgestattet hatte ich das unwahrschein­liche Glück, in das Innere unseres kleinen Häuschens in Neudamm sehen zu können. Jedoch um diesen Kreis zu schließen, muss ich hier noch ziemlich viel Aufklärungsarbeit leisten. Bin ich doch wieder einmal völlig aus der Reihe getanzt in meiner Erzählung. Alles was ich bisher geschrieben habe, schreiben werde, ist ohne weiteres von mir belegbar. Sie lesen hier keinen Roman! Nur, hier taucht bei mir die Frage auf: wollen die Menschen überhaupt erfahren, wie ein Mensch zum Ver­brecher wird? Ich meine damit das Vorspiel. Alles im Leben hat ein Vorspiel. Nicht nur beim Sex. Was wäre ein Buch ohne Vorspiel? Um zum Höhepunkt zu kommen, muss der Kopf einge­schaltet werden. Zum Vorspiel gehört meines Erachtens auch, dass ich Ihnen meine Beweg­gründe zum Verfassen dieses Buches darlege. Jetzt kann ich Ihnen ja auch gestehen, dass ich damals versäumt hatte, meinen Kopf einzuschalten, als ich mich den Vorschlag von Harry einließ. Puh! Ich hoffe, ich habe wieder die Kurve erwischt, wo ich bei meiner Erzählung aus der Bahn gekommen bin.

Geiz ist geil, sagt ein moderner Werbeslogan. 1990 war dieser Spruch noch völlig unbekannt. Ich aber war da bereits geizig. Ich sparte mir sogar das Denken. Das Nachdenken darüber, wozu ich mich da verpflichtet hatte. Mein Gewissen beruhigte ich dahingehend, indem ich mir sagte: „Dieter, du bist ja nur der Fahrer“. Eine Waffe in die Hand zu nehmen, andere gar damit zu bedrohen, war so gar nicht mein Ding. Hatte ich doch selbst schon als Kind am eigenen Leibe spüren müssen, wie man sich in solch einer bedrohlichen Situation fühlt. Ich meine damit, von einer Waffe bedroht zu werden.

Das große Projekt

Vorläufig konnte ich [mich] noch durch ein anderes Projekt ablenken, welches ich mit einem Detlev Kaufmann in Angriff genommen hatte. Dazu war allerdings eine Menge Anfangskapitel notwendig. Meine Wut darüber, von meinem Ex-Geschäftspartner reingelegt worden zu sein, war noch nicht verraucht, da traf ich in der City zufällig wieder auf einen ehemaligen Bekannten aus dem Knast und stolperte in die nächste Abzockfalle! Im Knast hatte dieser Mann schon allenthalben für Aufmerksamkeit gesorgt. War er doch der einzige Strafgefangene, der doch tatsächlich ständig mit Zivilklamotten, mit Schlips und Kragen, über die Flure lief. Fast immer trug er dabei auch noch irgendeinen Akten­ordner unter dem Arm. Mister Wichtig wurde er deshalb schon von den übrigen Gefangenen genannt. Durch Tricksereien, die er sich aus den einschlägigen Gesetzesbüchern herausgelesen hatte, hatte er sich diesen Sonderstatus übers Gericht erkämpft, dass er seine Privatklamotten auch im Knast tragen durfte. Intelligente Menschen hatten mich schon immer beeindruckt. Deshalb hatte er leichtes Spiel, mich für seine Geschäftsidee zu begeistern. Schnell hatte er gecheckt, dass ich finanziell ganz gut da stand. Für sein Vorhaben war ich genau der richtige Mann. Er hatte das Know-how, ich konnte mit einer ordentlichen Finanzspritze seine Idee verwirklichen. Wenige Tage später schon holte ich ihn mit meinem Auto vom Knast ab. Er wurde nach Verbüßung von 2/3 seiner Strafe entlassen. Im Gefängnis selbst hatte er nie eine Hand gerührt, um sich mit primitiver Arbeit etwas zu verdienen. In den letzten Monaten seiner Haft hatte er den Freigängerstatus erreicht, hatte im Büro seiner Schwester einen Job angenommen. Beinahe hätte ich umsonst vor dem Gefängnistor auf ihn gewartet. Seine Schwester hatte nämlich nie die fälligen Beiträge an die Gefängnisverwaltung abgeführt, die nun einmal erhoben werden, wenn ein Gefangener außerhalb der Anstalt arbeitet. Irgendwie schaffte er aber auch diese Hürde.

Schon am nächsten Wochenende fuhr ich mit meiner Familie, Helga, mein Sohn und dessen Freun­din nach Amsterdam. Bis nach Essen folgte uns seine Schwester mit ihrem klapprigen Ford Capri. Dort bog sie dann mit ihrem Bruder in Richtung Düsseldorf (Köln?) ab. Wir setzten unseren getarnten Familienausflug gen Amsterdam fort, während Detlev sich bei einer Spezialmesse umschauen wollte. Er hatte sich schlau gelesen. Auf besagter Messe wurden die neuesten Modelle von Fotokopierern vorgeführt. Solch ein Gerät benötigten wir unbedingt, um unsere Geschäftsidee umzusetzen. Ich hätte zu der Zeit gut und gerne jeden Tag ein Kilo Haschisch an den Mann brin­gen können, holte aber nur vier bis fünf Kilo pro Fahrt. Und das zweimal im Monat. Mein Dealer in Amsterdam wusste wohl, dass ich ohne weiteres eine größere Menge abnehmen könnte, wenn ich nur wollte. Deshalb machte er mir einen Vorschlag. Sollte ich mich dazu ent­schlie­ßen können, Mengen in der Größenordnung ab 20 Kilo abzunehmen, garantierte er mir die Lieferung frei Haus nach Deutschland. Bei solchen Dimensionen jedoch schreckte ich zurück.

Zunächst einmal durfte ich die Unkosten finanzieren, die bei Detlevs Schwester anfielen. Sie betrieb ein Übersetzungsbüro in der City von Hannover, wo in einem zweiten Raum Detlev selbst eine Zei­tung herstellte und zu vertreiben versuchte. Beide Geschäfte gingen aber nur mit sehr mäßigem Erfolg. Ich jedenfalls war von seiner Geschäftsidee dermaßen begeistert, dass ich die Unkosten des bestehenden Büros übernahm.[1] Dieses Büro war enorm wichtig, um überhaupt ins Geschäft zu kommen.

Ein Fotokopierer für 80.000,00 DM

Die erste Firma, von der Detlev den begehrten Fotokopierer beziehen wollte, machte allerdings einen Rückzieher. Die hatten natürlich bei diesem 80 000 Mark Projekt, wenn auch nur auf Leasingbasis, die Kontenbewegungen angeschaut. Hindernis erkannt, Hindernis beseitigt. Ich sorgte mit Hilfe von Helga und deren Familienmitgliedern für einen regen Geldfluss auf dem Konto von Detlevs Schwester. Ein paar Wochen später eine andere Firma, die das gleiche Kopiergerät vertrieb, und wir sollten ein derartiges Gerät geliefert bekommen. Die nächste Hürde musste noch genommen werden. Wir benötigten Spezialpapier, welches den echten DM Scheinen am nächsten kam. Gar nicht so einfach da ran zu kommen, kann ich ihnen sagen. Ab einer gewissen Prozent­zahl[2] stand das Papier überall auf dem Index, wo nicht gleich jeder bestellen konnte. Was also tun? Über unseren bestehenden Verlag als Firma eingetragen bestellten wir europaweit bei Herstel­lungs­firmen Muster ihrer Produktionspalette. Das neu herausgekommene Geld sollte ja, so laut Bundesbank, fälschungssicher sein. Irgendeine Firma hatte dann in dem Album, welches wir erhielten, ein Papier dabei, das in etwa 75 % der Kriterien erfüllte. Um aber nicht aufzufallen, bestellten wir zunächst vier verschiedene Muster in begrenzter Anzahl von Bögen bei der betref­fenden Herstellungsfirma. Bei der zweiten Bestellung waren es dann nur noch zwei verschieden­artige Papierbögen in einer schon größeren Menge. Auch diese Bestellung wurde uns anstandslos geschickt. Unsere letzte Bestellung enthielt nur noch die eine Sorte Papier, auf die wir scharf waren. Auch die von uns benötigte Menge wurde uns prompt geschickt.

Dann konnte es ja mit der Produktion losgehen, nachdem inzwischen auch der Kopierer eingetrof­fen war. Das ganze musste ich natürlich finanzieren, auch die Büromiete. Von meinen Drogenge­schäf­ten blieb mir kaum noch ein Gewinn übrig. Das alles geschah im Monat November 1990. Parallel zu meinem Versprechen, als Fahrer bei einem Banküberfall zu fungieren. Ich war zwar nicht gerade pleite, aber ein zusätzlicher Geldregen, dagegen hatte ich nichts einzu­wenden. Außerdem hatte ich ja ein Versprechen abgegeben.[3]

Bei meiner letzten Rückfahrt aus Amsterdam kommend gerieten wir in einen kilometerlangen Stau in der Höhe von Minden. Zu Hause angekommen fand ich auf dem Wohnzimmertisch einen Zettel vor. Darauf hatte mein Sohn geschrieben, dass ein gewisser Harry angerufen hätte. Er wollte es um sechs Uhr wieder versuchen. Ich solle mich bereithalten. Helga ging ins Schlafzimmer, ich dagegen blieb gleich im Wohnzimmer auf der Couch liegen. Schnurlose Telefone waren derzeit noch nicht erfunden. Nach nur knapp drei Stunden Schlaf riss mich das Telefongebimmel in die Wirklichkeit zurück. Harry stand schon mit Reisegepäck am Bahnhof und wartete darauf, dass ich ihn dort abhole. Wolfgang wartete auch schon startbereit zu Hause. Innerhalb einer halben Stunde war ich dann auch soweit, nachdem ich mir eine Dusche und Tasse Kaffee gegönnt hatte.

Das kleinere Ding

Kaum waren wir aus Hannover raus, auf der Autobahn, fragte Harry mich auch schon, ob ich was zum Kiffen mitgebracht hätte. Ich muss gestehen, ich weiß bis heute nicht, wie ich auf den Trichter gekommen war, ein kleines Sortiment von meiner Ware einzustecken, bevor ich losfuhr, die beiden abzuholen. Ich hatte acht Gramm in der Tasche, von dem am nächsten Abend wieder zurück in Hannover kein Krümel mehr übrig war. Ich selbst konnte zu dem Zeitpunkt dem Zeug überhaupt keinen Geschmack abgewinnen. Erst viel später im Knast widmete ich mich aus Gesundheits­gründen der Heilpflanze Cannabis. Ganz ehrlich! Erläuterung kommt später!

Während der Fahrt gen Osten kristallisierte sich heraus, dass die beiden weder ein bestimmtes Ziel, noch überhaupt einen Plan hatten, wo und wie der Banküberfall ablaufen sollte. Mein Vorschlag Frankfurt/Oder, wo ich mich etwas auskannte, wurde dann auch akzeptiert. Fast vierhundert Kilometer von Hannover entfernt, befuhren wir die Straßen der Stadt, hielten nach Bankinstituten Ausschau. Nicht nur die Begehbarkeit der Bank an sich musste berücksichtigt werden. Ein viel versprechender Fluchtweg war maßgeblich. Aber genau daran haperte es, wie wir bei unserer Erkundungsreise durch Frankfurt feststellen mussten. Das lag vor allem daran, dass eine Flucht­möglichkeit nur in einer Richtung gegeben war. Schließlich zog die Oder eine natürliche Grenze zu Polen. Etwas wirklich Geeignetes fanden wir in dieser Stadt also nicht. Harry und Wolfgang hatten gut reden, „dann versuchen wir es eben morgen woanders!“ Die beiden hatten ja noch nicht ein­mal soviel Geld in der Tasche, dass sie mir einen Spritkostenanteil geben konnten. Somit würde ich auch noch die Hotelkosten berappen können. Jetzt war ich nicht nur Fahrer der beiden, sondern auch noch der Versorger. Klar, dass sie auch noch Hunger hatten. Beim Haschisch­konsum bekommt man leicht einen Heißhunger. Bei der Gelegenheit, so dachte ich mir, könnte ich mich ja auch gleich mal wieder bei meiner Schwester in Eisenhüttenstadt sehen lassen. Eisenhüttenstadt[4] lag ja gleich um die Ecke.Hannover-Eisenhüttenstadt.jpg Ganze 27 Kilometer entfernt. Mein Vorschlag dorthin zu fahren wurde von den beiden angenommen. Blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig. Irgendwie waren sie ja von mir abhängig.

Bei meiner Schwester klingelte ich dann vergebens. Sie war auf Schichtdienst in der Großbäckerei der Stadt. Die Nachbarin, die uns nach vergeblichem Klingeln diese Auskunft gegeben hatte, beschrieb uns auch den Weg dorthin. Meine Schwester war erfreut, ihren Bruder wiederzusehen. Hatten wir uns doch seit 1955 nur ein paar Mal kurz gesehen. Bei der Beerdigung unserer Mutter 1973, als sie dafür ausreisen durfte, und später fuhr ich mit unserem Vater zweimal zu ihr in den Osten. 1989, als unser Vater starb, trafen wir uns auch kurz wieder. Erst die Wiedervereinigung brachte uns auch wieder näher. Welch ein Wunder also, dass sie sich von ihrem Dienst befreien ließ, eine Vertretung mobilisierte und mit uns zur Wohnung fuhr.

Sie ließ es einfach nicht zu, dass wir uns in Eisenhüttenstadt in einem Hotel einmieteten. Sie überließ uns ihr Schlafzimmer, nächtigte selbst auf der Couch im Wohnzimmer. Natürlich war in ihrer Gastfreundschaft auch ein von ihr serviertes Abendessen drin. Auf ihre Frage, was uns denn nach Eisenhüttenstadt getrieben hätte, so ganz ohne Anmeldung, erfand ich eine Geschichte, die ziemlich plausibel klang. Mit Wolfgang, der sich, wie erwähnt, gerne als Gentlemen kleidete, war meine Ausrede erklärbar. Angeblich wollten die beiden sich in Frankfurt ein Objekt ansehen, wo sie sich geschäftlich niederlassen wollten. So war es nur logisch, dass wir am nächsten Morgen wieder nach Frankfurt fahren müssten.

Nichts war vorbereitet.

Mir machte schon den ganzen Tag über während der langen Fahrt von Hannover nach Frankfurt eine Sache Kopfzerbrechen. War doch mit Harry im Vorfeld ausgemacht, dass er irgendwie an zwei Autonummernschilder kommen müsse, die an meinen Passat passen würden. Noch nicht einmal das hatte der erfahrene Knacki auf die Reihe bekommen. Ich selbst war für Diebstahl oder gar Einbruch so gar nicht geeignet, hatte ich doch zwei linke Hände, was das Technische anging. Also war mal wieder mein Improvisationstalent gefragt. War ich nicht darauf geeicht zu improvisieren?

Meiner Schwester gaukelte ich vor, zum einen, einen Verdauungsspaziergang zu benötigen nach ihrem frugalen Mahl und zum anderen wollten wir dabei noch das morgige Geschäft besprechen. „Gut!“ meinte mein Schwesterherz. Derweil würde sie für uns das Nachtlager in ihrem Schlafzim­mer vorbereiten und das Geschirr abwaschen. Es war bereits nachtdunkel draußen, als wir an diesem 19. November gegen 17 Uhr aus dem Haus gingen. Längst hatte ich erkannt, dass Harry und Wolfgang sich mehr um die Funktionalität ihrer Waffen Gedanken machten als um den ebenso wichtigen Rest, der bei einem Banküberfall von Nöten war. So langsam machte ich mir Gedanken darüber, worauf ich mich da bloß eingelassen hatte.

Zunächst einmal hatte ich eine Lösung für die fehlenden, falschen Autonummernschilder gefunden. In einer Drogerie erstand ich eine Rolle weißen Heftpflasters. Damit konnte ich das H in meinem Nummernschild zu einem I abkleben. Derzeit fuhren noch die meisten Ostautos mit ostdeutschen Kennzeichen durch die Gegend. Das I stand für Berlin. Aus den zwei Achten im Nummernschild ließen sich sehr gut zwei Dreien machen. Dann musste ich auch noch in die Tasche greifen, um den beiden je eine gestrickte Schimütze zu kaufen. Noch nicht einmal daran hatten sie gedacht, mit einer Maske in die Bank zu gehen. Das kennt, glaube ich, jeder, der schon mal einen Krimi gesehen hat. Bankräuber zieht sich seine Pudelmütze ins Gesicht, darin sind zwei Schlitze für die Augen rein geschnitten. Wenigstens hatten die beiden an Handschuhe selbst gedacht. Der Fin­gerabdrücke wegen. Sie verstehen? Jetzt glaubte ich, dass die Ausrüstung stimmte. Nur einen richtigen Plan hatten die beiden immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. Zunächst einmal taten sie, wieder bei Schwester in der Wohnung, nichts anderes, als was sie schon während des ganzen Tages getan hatten. Sie rauchten einen Joint nach dem anderen von meinem Vorrat, den ich bei mir hatte. Dazu stand noch eine große Flasche Wodka und reichlich Bier auf dem Tisch. Da ich mir als Fahrer der Verantwortung bewusst war, schlürfte ich im Laufe des Abends gerade mal an zwei dünnen Weinschorlen. Meine Schwester bat mich mal nachzuschauen, ob es wohl so recht wäre, wie sie ihr Schlafzimmer für drei zurechtgemacht hätte. Dort hatte ich schon mit Helga und meinem Sohn während der Sommerferien die Nächte verbracht. Beim Besichtigen des Schlafzim­mers fiel rein zufällig mein Blick durchs Fenster.

Nehmen wir doch ganz einfach die Dresdner Bank, direkt vor der Haustür.

Natürlich! Das war es! durchfuhr es mich wie ein Blitz. Wie schon in den Ferien konnte ich durchs Fenster einen Teil der Bank erkennen, die schon zu Ostzeiten dort ansässig gewesen war. Jetzt allerdings prangte dort in greller Leuchtschrift der Name einer bekannten Bank. Dresdner Bank!

Ich musste an diesem Abend ein zweites Mal meine Schwester anlügen. Unter einem an den Haa­ren herbeigezogenen Vorwand brachte ich die beiden noch nicht ganz besoffenen Harry und Wolfgang dazu, mir noch mal nach draußen zu folgen. Erstaunt folgten sie mir sogar gehorsam. Nicht schnurstracks auf die Bank zugehend, meine Schwester hätte uns ja sehen können, führte ich die beiden zu der Bank. Die Lage war einfach ideal für unser Vorhaben! Der Spaziergang in der frischen, kalten Novemberluft machte die vollgekifften und angesoffenen Köpfe meiner Tatgenos­sen wieder aufnahmefähig. Sofort baldowerten wir einen geeigneten Fluchtweg aus. Ich dachte gar nicht daran, direkt vor der Bank mit laufendem Motor auf meine Komplizen zu warten. Dabei hätten allzu viele Passanten in dieser kleinen Einkaufsstraße Gelegenheit, sich Einzelheiten an meinem Auto zu merken. Hinzu kam noch, dass sich die Bank am Ende einer Sackgasse befand. Vom Sommer her kannte ich die Bauweise dieser erst in den 50er Jahren aus dem Nichts erbauten Stadt. Fantasielos waren sämtliche Plattenbauten immer im gleichen Stil angelegt. Mir das Vorbild des Hauses, in dem meine Schwester wohnte, vor Augen haltend begingen wir den vorgesehenen Fluchtweg. Wie nicht anders zu erwarten, waren die vorderen Eingangstüren nicht abgeschlossen. Die aus Plastik bestehenden Schlüssel und Schlösser hätten nur allzu oft ausgewechselt werden müssen. Ins Haus zu kommen war also kein Problem. Vier oder fünf Stufen hoch, an zwei Woh­nungs­türen vorbei, vier, fünf Stufen runter, und man stand vor der Hintertür. Die auch nicht abgeschlossen war. Noch nicht einmal am späten Abend, sowie in der Nacht. Cirka 50 Meter Kiesplattenweg, und dort würde ich bei laufendem Motor und angelehnten Autotüren auf meine Kumpane warten. Soweit der erste Teil unseres Fluchtplanes, den ich so bestimmte. Die beiden, die mich ja lediglich als Fahrer des Fluchtautos engagiert hatten, waren vollauf begeistert von meinem Plan.

 

Achtunddreißigstes Kapitel

Der Banküberfall

Ich fragte mich wie die beiden nach so langer Alkoholabstinenz im Knast diese Mengen von Alko­hol vertragen konnten. Ich selbst hätte mich schon zehnmal bekotzt. Zumal ja auch noch das Dope hinzukam, welches sie sich da reinzogen. Es störte sie gar nicht, als ich sie ermahnte am nächsten Morgen fit zu sein und die Nacht um 8 Uhr zuende wäre. Ich jedenfalls entzog mich der Säufer­runde und machte lieber Matratzenhorchdienst. Meine Schwester, die ich gebeten hatte, uns gegen acht Uhr zu wecken, hatte uns einen reichhaltigen Frühstückstisch zubereitet. Als wir gegen neun Uhr aus dem Haus gingen glaubte sie, dass wir einen Termin in Frankfurt hätten. Wir erweckten bei ihr sogar den Eindruck, dass wir im Laufe des Tages wieder zu ihr zurückkehren würden. Der Ein­druck wurde noch dadurch verstärkt, indem wir unsere kargbestückten Reisetaschen bei ihr stehen ließen. Ursprünglich war ja auch vorgesehen, dass ich die beiden Bankräuber unmittelbar nach Vollendung der Tat mit der Beute an der Hintertür meiner Schwester absetzen würde, ich selbst in Kauf nahm, in eine Kontrolle zu geraten. Was konnte mir schon passieren, wenn man bei mir im Auto weder einen zweiten Mann noch eine Geldbeute vorfand? Am Abend, als dieser Plan in mir reifte, hatte ich weder die Jahreszeit noch einen anderen Umstand in Erwägung gezogen. Ich wunderte mich nur dass meiner Schwester der Gestank nicht auffiel, den die beiden Kiffer in ihrem Wohnzimmer hinterließen.

„Armoured!“ stand ganz groß an der Seite des Wagens.

Gleich nach den zwei Brötchen drehten die beiden sich eine Tüte, um sich aus der realen Welt zu beamen. Durch eine große Toreinfahrt erreichten wir das Innere des Karrees, wo sich die Bank befand. Allerdings die Rückseite der Bank, was ja auch so vorgesehen war, damit niemand sehen konnte, aus welchem Auto die Bankräuber ausgestiegen waren. Vorher waren wir noch zu dem Sportflugplatz etwas außerhalb der Stadt gefahren. Dort, völlig abgeschieden, beklebte ich mein Nummernschild wie oben beschrieben mit dem weißen Heftpflaster um eine ganz andere Nummer vorzutäuschen, den Wagen fuhr ich über eine Regenpfütze, bespritzte mit dem Schlammwasser das auffallend weiße Heftpflaster ordentlich mit dem Schlamm, um das ganze echt wirken zu lassen. Danach konnte man selbst bei genauerem Hinsehen nicht mehr erkennen, dass an dem Num­mern­schild manipuliert wurde. Alles sah schön echt aus. Unser vorgesehener Zeitplan wurde dann aber ganz ordentlich durcheinander gebracht. Gut vorbereitet, die Pudelmützen waren für einen derartigen Novembertag ohne weiteres angebracht, fuhr ich also in die Nähe der Bank. Fragte die beiden noch mal, ob sie sich den Fluchtweg auch gut eingeprägt hätten, den sie zu Fuß zurück­legen müssten, bevor sie mein Auto erreichten, da erwartete uns auch schon eine Überraschung. Am Hintereingang der Bank, die wir vorhatten um etwas Bares zu erleichtern, stand ein Geldtrans­porter. Was solch ein Gefährt zu bedeuten hatte, wusste jedes kleine Kind. Es stand ja auch ganz groß an der Seite des Wagens: „Armoured!“ Wir konnten dies im Vorfeld ja nicht ahnen, dass gerade um diese Zeit bewaffnete Geldabholer mit einem gepanzerten Wagen vor Ort sein würden. Mit Sicherheit wäre es zu einer Schießerei gekommen, wären meine Kumpels jetzt von vorne in die Bank eingedrungen, um abzukassieren. Also hieß es warten. Um ihr Herz wieder aus der Hose zu holen, baten sie mich, ihnen doch ein Mutwässerchen zu besorgen. Um nicht unnötig aufzufallen, fuhr ich zunächst einmal in eine Seitenstraße und holte vom Kiosk gegenüber der Bank eine Fla­sche Wodka. Ohne dass ich mich daran beteiligen musste, schafften die beiden in Null­kom­ma­nichts die Flasche zu leeren. So nebenbei sorgten sie auch noch dafür, dass meine acht Gramm Haschisch so langsam zur Neige gingen. So langsam fragte ich mich, ob wohl alle Bankräuber sich derart betäubten, bevor sie trauten eine Bank zu überfallen. Tags zuvor hatte ich ja auch noch versucht, den beiden ein paar Sätze in russischer Sprache einzupauken, um den Eindruck zu erwecken, hier seien Osteuropäer am Werk. Selbst wenn mir dies Tags zuvor gelungen wäre, ich glaube kaum, dass sie bei ihrer Aktion noch dazu in der Lage gewesen wären. Bei der Gerichtsver­handlung erfuhr ich erst, dass Harry zwei Anläufe benötigte, um über den Bankschalter zu jumpen. Seine Koordinationsfähigkeit hatte um einiges gelitten. Ich hatte den beiden auch klargemacht, dass sie sich auf keinen Fall länger als zwei Minuten in der Bank aufhalten dürften. Diese Zeit hatte ich ihnen vorgegeben, weil ich die Strecke zum einzigen Polizeirevier abgefahren hatte. Unter den allergünstigsten Umständen, die man immer in Betracht ziehen musste, konnte die Polizei in zwei­einhalb Minuten am Ort des Geschehens eintreffen. Das war jedenfalls meine Überlegung.

Auch das noch! Eine ganze Horde Kindergartenkinder.

Zunächst aber kam ich noch einmal in Bedrängnis. Der Geldtransporter war weggefahren, ich hatte die beiden abgesetzt, wollte zum vereinbarten Treffpunkt fahren. Beim Begehen am Abend war die Absperrung noch nicht vorhanden. Aber jetzt! Im Zuge des Geldflusses im Rahmen Wie­der­aufbau Ost war man dabei, auch in Eisenhüttenstadt die maroden Häuser zu sanieren. Aus­gerechnet auf unserem Fluchtweg war die Sanierung in vollem Gange. Angefangen hatte man damit, die von Bäumen bewachsenen Flachdächer zu entrümpeln. Unten, auf dem Plattenweg, hatte man vorsorglich abgesperrt. Was ja auch der Vorschrift entsprach. Nur ich musste jetzt wie ein Verrückter kurbeln, um auf diesem engen Weg wenden zu können. Hatte ich doch lediglich zwei Minuten und ein paar Sekunden laut meiner eigenen Vorgabe Zeit, den vereinbarten Treffpunkt zu erreichen. Geschafft! Dann aber kam mir zu allem Überfluss auf meinem Umweg auch noch eine ganze Horde Kindergartenkinder entgegen. Zu meinem Glück hatten die Betreuerinnen ihre Kinder aber gut im Griff. Schnell machten die Gören mir bereitwillig Platz. Mir kam das ganze wie eine Ewigkeit vor. Dennoch musste ich noch eine unendliche Weile auf meine Kumpane warten. Im Rückspiegel sah ich sie auf unser Auto zu rennen. Soweit schien ja alles bestens geklappt zu haben.

Plan B war angesagt.

Rein ins Auto und ab! Kaum hatte ich den Wagen in Fahrtrichtung rangiert, da kam mir auch schon das nächste Hindernis entgegen. Den schmalen, asphaltierten Weg im Inneren des Karrees versperrte eine Frau mit ihrem Kinderwagen. Während sie sich nur sehr langsam dazu bequemte an die Seite zu fahren, traten mir die Schweißperlen auf die Stirn. Mich wie vorgesehen auf dem Weg zum Haus meiner Schwester befindend musste ich feststellen, dass jetzt ganz andere Umstände herrschten, als ich sie vom Sommer her in Erinnerung hatte. Die im Sommer grünen Bäume und Büsche im Karreebereich boten in dieser Jahreszeit überhaupt keine Deckung mehr. Längst hatte ich bemerkt, dass uns die Arbeiter auf dem Dach sehr gut mit ihren Blicken verfolgen konnten. Den Plan, die beiden hinter dem Wohnhaus meiner Schwester abzusetzen, konnte ich getrost ad acta legen. Plan B war angesagt. Einfach so, aus dem Bauch heraus!

Zwei Torbogen von meiner Schwester entfernt fuhr ich, dabei eine Unterbodenwäsche meines Wagens kostenlos in Kauf nehmend, mit Karacho auf die John Scheer Straße. An der Kreuzung, wo sich auch das Städtische Krankenhaus befand, parallel zu der Straße wo, wenn überhaupt, um diese Zeit längst die Polizei zum Tatort unterwegs sein musste, fuhr ich diesen entgegen. Ein paar hundert Meter weiter hatten wir auch schon die Peripherie der Stadt erreicht. An der Kreuzung warf ich einen Blick nach rechts, wo sich das Polizei- und Gerichtsgebäude befand. Dort konnte ich keine irgendwie gearteten Aktivitäten feststellen. Ich jedenfalls bog nach links ab. Wie später aus den Gerichtsakten ersichtlich traf die Polizei erst nach 12 Minuten bei der Bank ein. Meine Güte. Hätten wir das gewusst, wir hätten noch in die Hinterräume der Bank eindringen können und dort weitere Hunderttausende, die gerade aus dem Nachttresor zusammengezählt wurden, mitnehmen können. Oder doch nicht? Meine so angeblich cleveren Kumpane hatten ja noch nicht einmal an eine Plastiktüte gedacht, worin sie ihre Beute verstauen konnten. So gab ich ihnen in letzter Minute mein Verbandskissen aus dem Auto. Dieses musste ich aber vorher noch leeren. Stellen Sie sich mal vor, ich wäre in eine Verkehrskontrolle geraten und hätte dieses notwendige Utensil nicht vorweisen können. Das hätte mich mindestens 10 Mark Geldstrafe gekostet. Zum Glück gerieten wir in keine Verkehrskontrolle. Noch in Sichtweite der Stadt überquerten wir einen kleinen Hügel. Ich hielt an, entfernte die Klebestreifen an den Nummernschildern, um nicht doch noch aufzufallen. Ich nahm, ohne überhaupt einen Plan zu haben, die nächste Abzweigung nach links. So genau, wie ich es Ihnen hier schildere, habe ich es viel später noch nicht einmal der Staatsanwaltschaft erklärt. Tatsache aber ist, dass die Bullen sich vier Jahre lang die Köpfe darüber zerbrachen, wie wir aus Eisenhüttenstadt entkommen konnten. Diese Stadt lag genauso wie Frankfurt genau auf der Grenze zu Polen.

Die Aussicht in Geld wühlen zu können ernüchterte selbst Harry.

Man hatte sofort die Wasserschutzpolizei alarmiert, die daraufhin diesen Fluchtweg absperrte. Die beiden Ausfallstraßen in Richtung Frankfurt als auch Bautzen waren schneller dicht gemacht worden, als dass die Polizei bei der Bank selbst eintraf. Ich selbst wusste ja auch nicht so recht, wo ich mich eigentlich befand, als ich nach links abgebogen war. Was die Ossis damals als Straßen bezeichneten, wäre hier im Westen gerade mal als Feldweg der dritten Kategorie durchgegangen.

Anfangs winkten unserem Westkennzeichen [?] ja noch Feldarbeiter fröhlich zu. Dann aber landeten wir in einem Kiefernwaldgebiet. Ich befürchtete schon auffällig zu werden, wenn uns jetzt ein Fahrzeug entgegenkommen würde. Doch wir befanden uns in einem Gebiet, wo zumindest um diese Jahres­zeit keine Menschenseele etwas verloren hatte. Ich aber dachte in westlichen Maßstäben. Ich rechnete sogar damit, dass Hubschrauber eingesetzt werden könnten. Ich wusste aus Verwandt­schafts­kreisen, das sich etwa 50 Kilometer entfernt eine Hubschrauberstaffel befand. Um der Überwachung aus der Luft zu entgehen, parkte ich in einem sehr dichtbewaldeten Stück.

Wolfgang konnte meiner Argumentation folgen, Harry dagegen wollte jetzt den Macker heraus­hängen lassen. Er wollte unbedingt ausprobieren, wie sich so ein echter Schuss anhörte. Mit viel Überredungskunst konnte ich ihn jedoch davon abbringen. Ich konnte ihm klar machen, dass gerade in dieser Jahreszeit Förster unterwegs waren, um Bäume zu markieren, die in der Frostpe­ri­ode gefällt werden sollten. Und so ein Schuss könnte einen Waldbegeher auf uns aufmerksam machen. Erst richtig von seinem Vorhaben konnte ich ihn aber erst ablenken, als ich ihn fragte, ob er denn gar nicht wissen wolle, was sie bei dem Überfall erbeutet hätten. Wodka und Haschisch hatten schon völlig sein Hirn vernebelt. Die Aussicht in Geld wühlen zu können ernüchterte selbst Harry. Mein Adrenalinspiegel hatte sich schon seit dem Augenblick aufs Normalmaß gesenkt, als wir kurz hinter der Stadt meine Nummernschilder wieder in den Normalzustand versetzt hatten. Ein sichern­der Rundblick, dann setzten wir uns alle drei ins Auto. Ich breitete auf der Rückbank eine Decke aus und entleerte nun das zweckentfremdete, prallgefüllte Erste-Hilfe-Kissen.

Harry, der hinter den Bankschalter gesprungen war, während Wolfgang an der Eingangstüre der Bank stehen geblieben war, um die anwesenden Bankkunden sowie das Personal in Schach zu halten, hatte in seiner Gier sogar einige Rollen Fünfmarkstücke eingesackt. Zunächst verschaffte ich mir einen Überblick über die Gesamtsumme. Ich bitte den geneigten Leser darauf zu achten, was ich jetzt niederschreibe! Die Höhe der Beute betrug genau 153.750 DM!!! Warum ich dies betone? Nun, in der späteren Anklageschrift wurde uns vorgeworfen, dass die Dresdner Bank einen Verlust von genau 31.517,32 DM[5] erlitten hätte.

Seltsam, sehr seltsam!!! Dabei hatte doch jeder von uns nach der Beuteteilung schon 51.250 DM in der Tasche. Das heißt, ich hatte ein wenig mehr. Hatte ich mir doch erlaubt gleich die Unkosten, die ich bisher getragen hatte, abzuziehen und Harrys Schulden bei mir abzurechnen. Um die Diskrepanz zwischen den beiden Summen zu erklären bedarf es keiner großen Phantasie.

1.) Für den Fall eines Bankraubs steht in einer Versicherungsklausel, dass an einem geöffneten Bankschalter jeweils nur 15.000 DM Bargeld (+ 10%) vorrätig gehalten werden dürfen. Diese Vorschrift wurde erlassen, um den Anreiz für einen Raub so niedrig als möglich zu halten. Und eben o.g. Summe ist auch nur versichert. Es ist sehr selten, dass die Bank das geraubte Geld vom Räuber zurück erhält, sofern man diesen nicht unmittelbar nach der Tat samt Beute einfängt. Um den Schaden einigermaßen einzugrenzen hatte die Bank, um wenigstens den Versicherungsanteil erstattet zu bekommen für die beiden geöffneten Bankschalter die Phantasiesumme von 31.517,32 DM angegeben. Wobei ich noch erwähnen möchte, dass sich unter der Beute kein einziges Markstück, geschweige denn Pfennige befand.

2.) So meine zweite These: Die Bank hatte selbst Dreck am Stecken. Erst wenige Wochen bevor wir abkassierten war die DM im Osten als offizielles Zahlungsmittel eingeführt worden. Wer weiß schon wie die Banken bei der Umtauschaktion gekun­gelt haben. Wäre die tatsächliche Beutesumme angegeben worden, hätte die Bank nicht nur die Versicherungssumme nicht bekommen, sondern es hätte höchstwahrscheinlich eine genauere Überprüfung der Bankunterlagen stattgefunden. Dabei könnte ja so Einiges ans Tageslicht kom­men. Also hielt man sich lieber bedeckt. Selbst als ich knapp vier Jahre später der Staatsanwältin alle offen gebliebenen Fragen in allen Einzelheiten erzählte, weil alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, an meiner langen Haftstrafe ohnehin nicht mehr zu rütteln war, wurde der Sache nicht mehr nachgegangen. Hier bewahrheitet sich wieder mal ein Sprichwort: Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen.

Ich soll der eigentliche Boss der Aktion gewesen sein.

Bei der Aufteilung der Beute durch drei achtete ich peinlichst genau darauf, ob sich unter den Geldbündeln nicht etwa ein Sicherheitspaket befand. Die meisten Bedenken hatte ich bei den 200er-Scheinen, die dazu auch noch mit fortlaufenden Seriennummern versehen waren. Im Gegensatz zu meinen Komplizen hatte ich ja zuhause noch einiges an Rücklage. Da lag es nur Nahe, dass ich die gefährdeten Geldbündel für mich behielt. Angeblich, laut Propaganda, war das neue Geld ja fälschungssicher. Gerade deswegen wurde ja bei Einkäufen besonders auf größere Scheine geachtet. Ich konnte ja davon ausgehen, dass sich unter diesen Scheinen NOCH keine Fälschungen befanden. Schließlich arbeitete ja Detlev in Hannover noch an der Produktion unseres Geldes. Da kam diese Beute hier sehr zupass. Jedes Geschäft bedarf einer Investition. Detlev war so klamm, dass er weder die Büromiete, geschweige denn die Leasingkosten für den Kopierer, noch das nötige Papier finanzieren konnte. 2.000 Mark kosteten alleine die drei Farbpatronen, die gerade mal zur Herstellung von ca. 150.000 Mark reichten. Aber zurück zum eigentlichen Geschehen.

Das Geld war also aufgeteilt. Wobei Harry allerdings schmollte. Er meinte, dass er als Ideengeber einen größeren Anteil beanspruchen könnte. Dann frage ich mich nur, warum das Gericht zu dem Urteil kam, dass ich der eigentliche Boss der Aktion gewesen sei. Der Richter führte aus, dass die Nähe der Wohnung meiner Schwester zur Bank hin kein Zufall sei. Und da ich ja bereits im Som­mer dort einige Zeit verbracht hätte, hätte ich das Ganze schon damals ausbaldowert. Konnte aber gar nicht sein. Im Sommer war die ehemalige Ostbank nämlich geschlossen. Zu jener Zeit gab es allenfalls Container und Busse, die die verschiedensten Banken in Eisenhüttenstadt zum Kunden­fang aufgestellt hatten.

Wolfgang holte seine überdimensionale Magnum heraus.

Weil es auch nach zwei Stunden des Versteckspielens unter den Bäumen keinerlei Hubschrauber­ak­ti­vi­täten am Himmel gab, beschloss ich unsere Flucht in Richtung Hannover fortzusetzen. Ich wollte ja auch nicht unbedingt in der früh einbrechenden Dunkelheit in dem mir unbekannten Wald umherirren. Nach einer unendlich erscheinenden Fahrt auf einer Waldschneise stieß ich endlich auf einen Feldweg. Pardon, auf eine Straße. Es musste eine Straße sein. An ihr entlang führte jeden­falls eine Strom- Telefonleitung? Die musste ja irgendwohin führen. Mit viel Risiko verfolgte ich diesen Weg. Risiko deshalb, weil dieser Weg eigentlich mehr für Trecker geeignet war. Es war für meinen Passat unmöglich, die eingefahrene Fahrspur zu benutzen. Das Mittelteil der beiden Spurrillen war derart hoch, dass mein Passat darauf hängengeblieben wäre. So musste ich mich darauf konzentrieren, mit einem Reifenpaar auf dem verbliebenen Hügel in der Mitte der Fahrrille zu balancieren, während die beiden anderen Reifen an der linken Böschung für Höhenausgleich sorgten. Zu meinem Glück wuchsen keine Bäume an der Böschung. Lediglich Ginsterbüsche. Diese fast immergrünen und Gott sei Dank weichen Zweige peitschten gegen mein Auto, zer­schrammten mir den Lack. Noch Tage später fand ich bei der Autowäsche am Unterboden des Autos festgeklemmte Ginsterzweige. Nach wer weiß wie vielen Kilometern erreichte ich endlich eine asphaltierte Straße. Zivilisation war in Sicht. Und siehe da, bald darauf ein Hinweisschild nach Cottbus. In Cottbus angekommen suchte und fand ich einen Wegweiser nach Berlin. Um dorthin zu gelangen, dass heißt die Autobahn zu erreichen, musste ich mich noch durch die Rush Hour in der City durchkämpfen. Ganz schön anstrengend, zumal auch noch ein Platzregen, den die Scheibenwischer kaum schafften, runter kam.

Wolfgang auf der Rückbank beduselt vom Alkohol und Haschkonsum hing in seinem Sitz wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Doch wurde er plötzlich hellwach und überaktiv, als ich so nebenher erwähnte, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Polizeiauto befände. Sofort holte er aus seiner Reisetasche seine überdimensionale Magnum heraus.

Fußnoten

[1] Herr Schulz sagte mir [ca. Oktober 2010, ds], dass er über den dubiosen gemeinnützigen Verein (Cooperative Hilfe Niedersachsen e.V., Gemeinnütziger Verein] die Farbkopien der DM-Noten finanziert hatte. Sein Partner sei allerdings zu blöd für die Geldwäsche gewesen, so dass er in Süddeutschland aufgeflogen sei. [s. Kap. 42]

[2] Gemeint ist offensichtlich die Menge der Kriterien für Fälschungssicherheit bei Banknoten.

[3] Aus einem Mail von Dieter Schulz vom 25. Juli 2005: Noch hatte ich Auto und Führerschein. Beides hatten die Typen nicht, die an mich herantraten und fragten, ob ich wohl als Fahrer bei einem Bankraub mitmachen würde.

Herr Schäfer, Sie werden es vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen meine Beweggründe schildere, die mich dazu veranlassten JA zu sagen. Ich war ganz einfach frustriert. Frustriert darüber, dass das Arbeitsamt einem 50-jährigen keinen Job mehr vermitteln konnte. Ich konnte mir schlecht auf die Stirn schreiben „Jetzt zeig ich es euch allen mal, wozu ein 50-jähriger noch fähig ist!“ Abenteuer im Blut fiel es mir nicht schwer, JA zu dem Plan zu sagen. Aber was heißt Plan. Keiner der beiden hatte einen Plan. Kreativ wie ich nun einmal bin lief dann alles so ab, wie ICH es mir ausgedacht hatte.

[4] Karte: https://www.google.de/maps/dir/Hannover/Frankfurt+(Oder)/Eisenh%C3%BCttenstadt/Hannover/@52.331475,11.3142521,7z/data=!4m26!4m25!1m5!1m1!1s0x47b00b514d494f85:0x425ac6d94ac4720!2m2!1d9.7320104!2d52.3758916!1m5!1m1!1s0x4707982a02b5fb6f:0x42120465b5e3bc0!2m2!1d14.5505673!2d52.3472237!1m5!1m1!1s0x4707b885b42fafe3:0xe754b8581c20604e!2m2!1d14.6419022!2d52.1436615!1m5!1m1!1s0x47b00b514d494f85:0x425ac6d94ac4720!2m2!1d9.7320104!2d52.3758916!3e0

[5] Schulz gibt hier wie auch im Folgenden 31.517.32 DM an. Doch diese siebenstellige Zahl ist unlogisch, wie auch die durch Punkt abgesetzen zwei letzten Ziffern zeigen. Diese müssen Pfennige bedeuten.

Inhaltsverzeichnis _Inhaltsverzeichnis

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XXIV

logo-moabit-kDieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

 

 

 

Vierundzwanzigstes Kapitel

Von einer Knechtschaft zur nächsten.

Ich also schnurstracks zu dem nur wenige Kilometer entfernten Ort, wo meine Mutter wohnte, um mich als Bäckerlehrling zu bewerben. Meine Güte, roch das gut in der Back­stube, wo mich mein zukünftiger Lehrherr hinführte, um mir meinen eventuellen Arbeits­platz zu zeigen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht zwischen dem Schweinestall- und Kuh­stallgeruch, den ich bisher eingeatmet hatte. Hinzu kam noch, dass ich 80 Mark im Monat erhalten sollte. Hatte ich mich schon von der ersten zur zweiten Stelle um 100% verbessert, so sollte es nochmal um 100% getoppt werden. Eine Schlafkammer unter dem Dach-juchhe war ich ja schon längst gewohnt. Ich fand nichts dabei, auch hier wieder so unter­gebracht zu werden. Ich hatte zwar in der Bild-Zeitung gelesen „Lehrling gesucht – Einhei­rat geboten“, dass also Lehrlinge damals sehr gesuchte Menschen waren, hatte aber noch nicht den Weitblick. Deshalb griff ich mit beiden Händen bei diesem Angebot sofort zu. Ich konnte meine Mutter wieder entlasten und mir eine Perspektive schaffen. Mich störte es gar nicht, dass ich auf meinem Bett liegend durch die Ritzen der Dachpfannen das Profil der schon längst ausgefahrenen Fahrwerke der zur Landung ansetzenden Flugzeuge auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen genau erkennen konnte. Ich fand dies eher als span­nend. Die Geräusche? Na ja, daran gewöhnt man sich genauso wie an den Gestank eines Bauernhofes.

Morgens um halb sechs – kaum früher als beim Bauern – wurde ich höflich von einem der beiden Söhne meines Lehrherrn geweckt. Meist hatte ich dann noch ein paar Minuten Zeit bevor die ersten fertigen Brötchen aus dem Backofen gezogen wurden. Derweil wurde ich angewiesen, die im heißen Fett schwimmenden Krapfen, auch Berliner genannt, umzudre­hen, wenn dann von beiden Seiten fertig auf eine Kanüle zu stecken, einen Hebel herunter zu ziehen, womit die Berliner mit Marmelade gefüllt wurden. Die fertigen Brötchen wurden dann von einem der beiden noch schulpflichtigen Söhne und mir in diverse Tüten gefüllt. Darauf stand dann etwa Müller, Meier, Schmidt oder sonst ein Name. Diese Tüten wie­derum wurden schön der Reihe nach in einen weißen Leinenbeutel gelegt. Die beiden Lei­nen­beutel wurden mir rechts und links an den Fahrradlenker gehängt. Und los ging’s. Ich lernte zunächst die Strecke und die dazugehörigen Häuser und Namen kennen, an deren Türen wir dann in die dort hängenden Beutel jeweils die abonnierten Brötchen legten. Nach etwa einer Woche kannte ich alle Namen meiner Brötchentour auswendig, und die Söhne konnten eine Stunde länger schlafen. Ich dagegen wurde mit einer eigens für mich installierten Klingel zum Dienstantritt geweckt. Nach der privaten Brötchentour war Früh­stück angesagt. Gleich danach wurde mir ans Fahrrad ein geschlossener zweirädriger Anhänger angekuppelt. Mit dem vollgepackten Anhänger belieferte ich einige Tante-Emma-Läden mit frischen Brötchen. Zweites Frühstück! Derweil waren auch schon Brote gebacken. Mein Anhänger wurde wieder vollgepackt und ich brachte diese auch zu den Vertragshändlern. Und danach gab es schon wieder einen Anhänger voll Brote. Diesmal war jedes einzelne Brot mit Seidenpapier umhüllt, auf dem der jeweilige Name des Empfän­gers stand. In weitem Umkreis fuhr ich die Brote spazieren und lief Trepp auf Trepp ab, um den Privatkunden ihre Bestellungen direkt zu liefern. Manche davon bezahlten in bar, andere beglichen ihre Rechnung im Laden. Die Barzahler waren mir am liebsten. Fiel doch dabei in den meisten Fallen ein Trinkgeld für mich ab.

Natürlich wusste mein Meister nichts davon.

Diese Tätigkeit gefiel mir weitaus besser als die Schinderei beim Bauern. Zumal ich auch in der Regel schon gegen 16 Uhr mit meiner Arbeit fertig war und nicht erst bei Sonnen­unter­gang. Zu dem Trinkgeld hatte ich schnell heraus, wie ich mir noch einen zusätzlichen Nebenverdienst verschaffen konnte. Hin und wieder kam es vor, dass mich Leute im Haus ansprachen, wo ich gerade Brot auslieferte, ob ich nicht zufällig ein Brot zuviel dabei hätte. So könne man sich den weiten Weg zum Bäcker sparen. Schon bald hatte ich mir so einen persönlichen Kundenkreis erschlossen. Natürlich wusste mein Meister nichts davon. Zwei, drei Brote mehr in den Anhänger gepackt und mein Monatsverdienst verdoppelte sich schon. Nach der Haushalts-Brot-Tour war Mittagessen im Familienkreis angesagt. Blie­ben nur noch die inzwischen gebackenen Kuchen rechtzeitig zur Kaffeezeit zu den Kleinhändlern zu bringen, und dann war auch schon fast Feierabend. Gegen 14 Uhr hatten Meister, Geselle und die anderen Lehrlinge ihre Arbeit in der Backstube beendet. Na ja, die waren ja auch schon in der Nacht gegen 2 Uhr aufgestanden. Mir blieb es überlassen, die Kuchenbleche, diverse Maschinen, die es damals schon gab, und die Backstube selbst zu reinigen. Meist blieb mir noch Zeit, die vorgefertigte Rohmasse per Hand zu Streuseln zu verarbeiten. Als ich mal versuchte vor meinem Meister zu verbergen, dass ich an den süßen Sachen naschte, grinste dieser nur und meinte, dass ich mir nur keinen Zwang antun solle. Irgendwann hätte auch ich mich daran sattgefressen.

So weit, so gut. Als ich in der Berufsschule so von Gleichaltrigen erfuhr, was sie schon alles gelernt hatten, fragte ich mich, später auch meinen Meister, warum ich immer nur als Laufbursche arbeiten musste, anstatt in der Backstube etwas von der eigentlichen Materie zu lernen. Da wurde dieser ziemlich böse. Er meinte, dass sich vorläufig an meinem Status nichts ändern würde. Schließlich verdiene ich ja gutes Geld bei ihm und einen anderen hätte er nicht, der meine Arbeit verrichten könne. Jeder Hilfsschüler könne meine Arbeit über­nehmen, sagte ich ihm daraufhin. In der Folgezeit herrschte beim ersten und zweiten Früh­stück und am gemeinsamen Mittagstisch eisiges Schweigen. Ich fand diesen Zustand als unerträglich. Ich beschwerte mich in der Berufsschule und beim AA. Man riet mir zum Arbeitsgericht zu gehen. Da ich nun aber schon die Dreimonatsfrist überschritten hatte, wo man ein Lehrverhältnis ohne Angabe von Gründen auflösen konnte und ich mich eben an das Arbeitsgericht gewand hatte, zeigte mein „Lehrherr“ seine bösartige Seite.

Peng! Schon hatte ich meine zweite Vorstrafe im Bundeszentral­register.

Ich bekam eine Einladung, mich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde bei der Kripo einzufinden. Dort wurde mir dann eröffnet, dass eine Anzeige wegen Diebstahls gegen mich vorliege. Mein Arbeitgeber hatte angegeben, dass ihm an dem und dem Tag Geld aus der Wech­selkasse im Laden abhanden gekommen sei. Im Laufe der Zeit, wo noch alles zwischen uns in Ord­nung war, hatte ich natürlich auf Nachfrage nach meinem Woher meine Vor-Lebensge­schichte erzählt. Na und? War es daher nicht naheliegend, dass ein Bengel, der Jahre in einem Heim für Schwererziehbare zugebracht hatte, auch einen Diebstahl beging? Peng! Schon hatte ich meine zweite Vorstrafe im Bundeszentral­register. Die erste war zustande gekommen, als ich im Dunkeln mit dem Fahrrad fahrend von der Polizei angehalten wurde. Weil ich mit einer defekten Hand­bremse und fehlendem Rücklicht unterwegs war, bekam ich eine Stunde Verkehrsunterricht bei einem Richter, 10 Mark Geldstrafe UND einen Wochenendarrest aufgebrummt. Diesmal waren es schon vier Wochenendarreste. Bei meinem Verkehrsunterricht stand ich nicht alleine vor dem gestrengen Richter. Vier weitere arme Tröpfe standen neben mir. Zwei Mädchen und zwei Jungs. Bei den Mädchen hatte die eine ihre Freundin auf dem Gepäckträger mitfahren lassen. Und der eine Junge hatte seinen Freund auf der Fahrradstange mitgenommen. Wir alle erhielten die glei­che Strafe. Soll ich Ihnen mal was sagen? Bei dem heutigen Strafvollzug, hätte ich lieber vier Wochen an meine letzte zehnjährige Haftstrafe drangehängt, als auch nur einen Wochenendarrest abzubüßen, wie es damals praktiziert wurde.

18 Monate Haft

Etwa 16 Jahre später verschaffte ich mir Genugtuung für diese zu unrecht erhaltenen vier Wochen­endarreste. Mit meiner Freundin über das Frühlingsfestgelände in Hannover schlendernd erkannten mich am Lüttje Lage[1] Stand die beiden Söhne meines ehemaligen Bäckermeisters wieder. Ich wurde eingeladen einen mitzutrinken. Bei der einen Runde blieb es dann auch nicht. Mit steigen­dem Alkoholspiegel wurden die beiden immer redseliger bei der Aufarbeitung unserer gemein­samen Zeit. So wurde ich dann auch noch ausgelacht dafür, dass ich im Knast gelandet war. Schließ­lich hatte ihr Vater den Falschen verdächtigt, die 20 Mark aus der Wechselkasse gestohlen zu haben. Weil ihr Vater immer so geizig gewesen sei beim Taschengeld, sie aber doch schon sehr früh hätten mitarbeiten müssen, hätten sie sich dafür aus der Wechselkasse bedient und just zu eben diesem jährlich stattfindenden Frühlingsfest getragen. Die beiden besoffenen Typen merkten gar nicht, was sie damit anstellten. Mir blieb die Luft weg vor lauter Empörung darüber, wie lässig die beiden über die Sache sprachen. Vor Wut kochend krallten sich meine Hände in ihre pracht­vollen Haarschöpfe und knallten deren Köpfe mit ziemlicher Wucht zusammen. Dafür handelte ich mir einen weiteren Eintrag in das Bundeszentralregister nebst 18 Monaten Haft ein.

Keiner kann mir nachsagen, ich wäre nicht gewillt gewesen, mich an das kapitalistische System anzupassen. Ich hatte für wenig Geld bei Wind und Wetter beim Bauern geschuftet, ebenso hatte ich mich mit Fahrrad nebst Anhänger bei jedem Wetter über Kopfsteinpflaster und unbefestigte Rad- und Feldwege gequält, um meinem Meister sein Vermögen zu vermehren. Und? Was war der Dank? So langsam wurde ich erwachsen, begann darüber nachzudenken, wie ungerecht auf der Welt die Macht und das Geld verteilt waren. Natürlich bildete ich mich vorwiegend durch die BILD…..!

Meiner Mutter auf der Tasche zu liegen war nicht mein Ding.

Ich war gehalten, mich wieder so schnell als möglich um einen neuen Broterwerb zu kümmern. Mit 15 war ich manns genug, mich selbst zu versorgen. Meiner Mutter auf der Tasche zu liegen war nicht mein Ding. Sie hatte lange genug dafür gesorgt, dass ich meine Windeln vollscheißen konnte und uns Kinder durch die Kriegszeit geschleppt, uns die schwere Zeit danach auch irgendwie am Kacken gehalten. Jetzt wollte ich ihr zeigen, dass sie mir wenigstens ihren Fleiß vererbt hatte.

Bei meinen Stadtausflügen war mir mal ein Schild in der Brüderstraße aufgefallen. Darauf stand, dass die NVG (Niedersächsische Verfrachtungsgesellschaft) Schiffsjungen suchte. Schiffsjungen? Hatte ich nicht mal darüber gelesen, dass die Besatzung eines Schiffes immer auch an Bord schlief? Nach vier Tagen, ich hatte in Parks geschlafen, fiel mir dieses Schild wieder ein. Eine halbe Stunde später, nachdem ich mich dort vorgestellt hatte, hatte ich auch schon wieder einen Lehrvertrag unterschrieben. Der Schiffskapitän war froh, seine Reise mit einer vorgeschriebenen Mannschafts­stärke fortsetzen zu können. Im Bugraum, gleich neben dem Ankerkasten, gab es eine kleine Kajüte, die ich mir mit dem Matrosen teilen musste.

Auch mein neuer Job auf dem Schleppkahn war mit Knochenarbeit und wenig Schlaf verbunden. Es gab weder Samstag noch Sonntag. Wenn des Nachts zufällig ein Kran frei und unser Schiff gerade dran war, dann mussten wir eben auch des Nachts ran. Zumindest wurden die Über­stun­den ganz gut bezahlt. Einschließlich Nacht- und Sonntagszuschläge. Während der Kapitän am Heck des Schiffes eine fast schon als luxuriös zu bezeichnende Wohnung und seine mitreisende Frau besaß, mussten wir uns da vorne im Schiff selbst versorgen. Ob nun auf dem Mittellandkanal, wo meine Reise begann, Rhein und Weser oder Elbe, überall wurden wir von schwimmenden Kauf­manns­läden versorgt. Unsere Hauptmahlzeiten bestanden in der Regel aus Bratkartoffeln mit Speck und Eiern, Erbsen- oder Linsensuppen aus der Dose oder auch einfach nur aus Puddingsuppen aus der Tüte.

Wie schon früher im Heim begann mir eine Hasskappe zu wachsen.

Der Matrose, eigentlich auch nur Lehrling im dritten Jahr, zeigte mir wo es lang geht. Als ich ein­mal in einer Schleuse das Drahttau nicht ordnungsgemäß nachführte, welches oben an einem Poller befestigt war und unten am Kahn ebenfalls um einen Poller lief, hatte ich noch nicht das richtige Gefühl entwickelt. Und so riss das Tau mit einem Knall, und der Kahn kam ganz schön ins schaukeln. Mit viel Glück entging ich meiner Enthauptung durch das durch die Luft schwirrende Metalltau. Beinahe hätte ich mir in die Hose gemacht. Als Lehrling darf man doch schon mal einen Fehler machen, oder? Pustekuchen! Mit Gebrüll kam der Möchtegern-Matrose vom hinteren Ende des Kahnes, wo er die gleiche Funktion wie ich vorne verübte, die ganzen 60 Meter angeschossen und knallte mir eine, dass mir Hören und Sehen verging. Etwa eine Stunde später legte der Schlepp­verband von insgesamt fünf Kähnen zur Nachtruhe an einer der dafür vorgesehenen Uferböschung an. Mit immer noch brummendem Schädel von dem hefti­gen Schlag meines Vorgesetzten stieg ich die steile, schmale Treppe zu unserer Unterkunft hinab. Nach Ansicht des älteren nicht flott genug. Er hatte es etwas eiliger als ich. Er trat mir ein­fach auf den ohnehin immer noch schmerzenden Kopf. Das trug natürlich nicht gerade dazu bei, mir Sympathien für ihn aufkommen zu lassen. Zumal er mich schon einige Male, wenn er mich mal bei einem Landgang mitgenommen hatte, um mich mit den jeweiligen Lokalitäten der Stadt bekannt zu machen, mich regelmäßig die Zeche zahlen zu lassen. Dabei verdiente er schon weitaus mehr als ich im ersten Lehrjahr. Er machte sich bei mir auch nicht gerade beliebter, indem er sich gerne an meinen Vorräten vergriff. Wie schon früher im Heim begann mir eine Hasskappe zu wachsen. In Duisburg/Ruhrort schlug er dem Fass den Boden aus. Schmiss er mich doch mitten in der Nacht aus unserer gemeinsamen Kajüte raus, weil er mit einer aufgegabelten Tussi alleine sein wollte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass er bedeutend besser ernährt war. Kurz, – er war ein Kerl wie ein Baum.

Platsch, da schwamm er auch schon im schönen Rhein.

Seine Größe nutzte ihm allerdings nicht viel. In der kalten Novembernacht in Duisburg draußen auf dem Vordeck hatte ich Rache geschworen. Bei den BASF-Werken bei Leverkusen hatte unser Kahn irgend so eine Chemikalie gelöscht. Der ganze Kahn war von dem Feinstaub grau überzogen. Unsere Aufgabe war es nun, das ganze Schiff mit einem Wasserschlauch abzuspritzen. Ich auf der einen Seite, er auf der anderen. Ich schwöre, es geschah völlig unabsichtlich, dass mein Vormann dabei einen Wasserstrahl von mir abbekam. Doch dieser cholerische Typ sah darin einen gewoll­ten Angriff meinerseits. Mit einem mir bestens bekannten Wutgebrüll rannte er auf der 40 Zentime­ter breiten Gangway um den Kahn auf mich zu. Was das bedeutete konnte ich mir denken. Rund um das Schiff waren an den Seiten in regelmäßigen Abständen lange Staken angebracht. Diese dienten dazu, den Kahn von einer Kaimauer abzuschieben oder aber, wenn man sich zu früh von dem Motorschlepper abgeseilt hatte und der Schwung nicht mehr ausreichte dort anzukommen, wo es vorgesehen war, dann half man eben mit kräftigem Schieben mit den etwa vier Meter langen Staken nach. Man konnte sich auch näher an einen Ort heranziehen. Am Ende befanden sich näm­lich eiserne Haken und Spitzen. So eine Stange nahm ich nun zur Hand, weil ich einfach keine Lust darauf hatte, mir eine erneute Kopfdröhnung von dem Kerl verpassen zu lassen. In seiner Rage merkte der Typ viel zu spät, was ich da in der Hand hatte. Jedenfalls war es nicht mehr der Wasser­schlauch. Auf der eisernen Gangway mit nassen Gummistiefeln zu bremsen war einfach unmög­lich. Er rannte direkt in meine „Hellebarde!“ Und, platsch, da schwamm er auch schon im schönen Rhein. Allerdings war das Rheinwasser kein Wein. Vielmehr um diese Jahreszeit auch noch ziemlich kalt. Sein Overall, darüber eine Kunstfell gefütterte warme Jacke und die Gummistiefel erleichter­ten nicht gerade seine Schwimmbemühungen. Noch bevor er ins Wasser klatschte, hatte ich auch schon mein Gehirn wieder eingeschaltet. Ich rannte nach Achtern, löste das Beiboot und wriggte (wriggen bedeutet mit nur einem Ruder das Boot vorwärts zu bewegen) hinter meinen Arbeits­kolle­gen hinterher. Hinterher deshalb, weil die Strömung ihn abtrieb. Beinahe wäre auch ich noch in den Rhein gestürzt. Bei dem Versuch den mit Wasser vollgesogenen Kerl aus dem Rhein ins Boot zu ziehen, drohte das leichte Boot zu kentern. Endlich wieder an Bord hatte er ganz was anderes zu tun als mich zu verprügeln. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die ihre Lippen so schön blau geschminkt hätte, wie die von meinem Matrosen.

 

Meiner Mutter Haare wurden mit ihren gerade mal 37 Jahren noch ein bisschen weißer als sie ohnehin schon waren.

 

Während dieses Vorfalls war unser Schipper natürlich nicht anwesend. Er war gerade in der Hafen­meisterei, um irgendwelche Frachtpapiere zu erledigen. Dennoch hatte er unterwegs schon von dem Vorfall gehört. Irgendwelche Gaffer hatten ihm schon alles brühwarm erzählt. Da ich als fast blutiger Anfänger leichter zu ersetzen war als ein schon fast vollwertiger Matrose, hatte natür­lich ich die Schuld und die Konsequenzen zu ziehen. War ja klar, dass zwischen uns keine Liebe mehr ent­stehen würde. Meine Fahrkarte nach Hannover musste ich natürlich von meinem Ersparten selbst kaufen. Das Büro in Hannover, wo ich meine Papiere und meinen Restlohn abholen sollte, hatte längst die Polizei eingeschaltet. Anstelle von Lohn und Papiere bekam ich 21 Monate Jugendknast aufgebrummt. Meiner Mutter Haare wurden mit ihren gerade mal 37 Jahren noch ein bisschen weißer als sie ohnehin schon waren.

Im Knast durfte ich dann in meiner Zelle Bindfäden in Preisschilder von C & A für 50 Pfennige am Tag einfädeln. In dem Alter hatte mich die Nikotinsucht noch nicht gepackt und an Bohnenkaffee hatte ich mich auch noch nicht gewöhnt. So hatte ich mir dann am Ende meiner Haftzeit 87 Mark zusammengespart. Eine Bücherei wie im heutigen Knastalltag gab es damals noch nicht. Es war gar nicht daran zu denken, in die Bibliothek zu gehen und sich Bücher auszusuchen. Man bekam einmal in der Woche Bücher vor die Türe gelegt. So round about 800 Seiten. Egal, ich verschlang alles was kam.

Meine Mutter hatte inzwischen Willy geheiratet, war in eine etwas größere Gartenlaube gezogen, wo die beiden fleißig daran bastelten, daraus ein Wohnhaus zu machen. Eine kleine Kammer, wo ich schlafen konnte, hatte meine Mutter für mich nach meiner Entlassung parat. Die brauchte ich aber nicht sehr lange. Ich bemühte mich schnell wieder um Arbeit. Und die bekam ich von einem ganz lieben Angestellten vom Arbeitsamt. Ich lernte nunmehr einen Beruf, der direkt auf mich zuge­schnitten schien. Zunächst ging es ja immer noch darum das ich bei meiner Arbeitsstelle eine Unter­kunft bekam. Was lag diesmal näher als mich als Kellnerlehrling zu bewerben? Da ich zu damaligen Begriffen nicht gerade den Eindruck eines Bauernlümmels machte wurde ich auch ange­nommen.

In dem heute immer noch erzkonservativen Hotel[2] lernte ich alles von der Pieke auf, was einen guten Kellner ausmacht. Filieren, Tranchieren übers Flambieren am Tisch, bis hin vieles über Wein­kunde. Uns wurde untersagt, vor dem Gast zu lächeln, weil der (Neureiche-)Gast sich ausgelacht fühlen könnte. Anstatt in schweren Klamotten und nach Stall riechenden Gummistiefeln herum zu laufen, trug ich eine vom Hotel gestellte Livree. Ich lernte Umgangsformen der gehobenen Gesell­schaft und auch sehr viel Prominenz aus Wirtschaft, Politik und Showbusiness kennen. Weil ich aber mitten im Lehrjahr eingestiegen war, hätte ich eigentlich dreieinhalb Jahre lernen müssen. Mein zuständiger Lehrlingsausbilder aber meinte, dass ich schon nach zweieinhalb Jahren das Zeug dazu hätte, die Prüfung zu bestehen. Er meldete mich demnach auch zur Prüfung an. Und ich ent­täuschte ihn nicht. Mit einer Durchschnittsnote von 2,2 bestand ich meine Prüfung so, wie schon früher mein Versetzungszeugnis in die 8. Klasse in der Heimschule in Dönschten aussah. Abgeschlossen habe ich meine Lehre in Hamburg, da unser Betrieb trotz aller Konservativität schon ganz modern eingestellt war. Jeder Kochlehrling musste einige Monate im Service arbeiten, dafür ging jeder Kellnerlehrling die gleiche Zeit in die Küche, um dem Gast besser erklären zu können, wie z.B. eine bestimmte Soße zubereitet sei. Hinzu kam dann als krönender Abschluss, dass das Hotel in Hannover für drei Monate Lehrlinge mit einem ebenso renommierten Hotel in Hamburg austauschte.

Dort lernte mich auch mein zukünftiger Chef kennen. Vom Fleck weg engagierte mich der Besitzer des Landungsbrücken Cafes nach Beendigung meiner Lehre. Als Gast in dem Hause, wo ich arbei­tete, hatte er mich bei der Betreuung meiner Gäste beobachtet und Gefallen an mir gefunden. Er besorgte mir eine Wohnung. Besser gesagt war es eine Art WG. Ein schwuler ehemaliger Ballett­meister vermietete einzelne Zimmer an ausschließlich junge Burschen. In den beiden Zimmern stan­den jeweils zwei doppelstöckige Betten. Von der Sternschanzenstraße bis zu den Landungs­brücken konnte ich den Weg zu meiner Arbeit bequem zu Fuß gehen. Doch als mir die Annä­he­rungs­versuche meines Vermieters zu bunt wurden, suchte ich mir eine andere Bleibe. Die bekam ich dann auch von einem unserer Stammgäste in Groß Flottbeck angeboten. Zwar hatte ich dadurch einen weiteren Weg, war aber in der möblierten Kellerwohnung endlich mal nicht nur not­dürftig untergebracht. Hatte ich mich nun schon seit drei Jahren vorbildlich in der Gesellschaft integriert, ohne besondere Vorkommnisse, und konnte meiner Mutter beim Ausbau ihrer Garten­laube zum Wohnhaus auch noch finanziell unter die Arme greifen, machte die Musterung alle meine Zukunftspläne zunichte.

„Aha, Kaiser sein Geburtstag! Verpflichtet ja eigentlich zur Marine, äh?“

Nach den üblichen Körperchecks stand ich vor der eigentlichen Prüfungskommission. Alle ausschließlich altgediente Berufsoffiziere. Der Obermacker in der Mitte sitzend schob sich ein Monokel vors Auge. „Hm, äh, Tauglichkeitsgrad 1!“ In meiner Akte blätternd weiter: „Aha, Kaiser sein Geburtstag! Verpflichtet ja eigentlich zur Marine, äh?“ Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass ich am gleichen Tag Geburtstag hatte wie der letzte Deutsche Kaiser. Seine Vorliebe für die Marine sollte mich demnach dazu verpflichten, dort meine 18 Monate abzudienen? Konnte ja wohl eh nichts daran ändern. Also verschlug es mich auf die Insel Sylt. Kaum war die Grundausbildung been­det, ich auch schon zum Gefreiten befördert, las ich am Schwarzen Brett, dass man Freiwillige, allerdings mit der nötigen Qualifikation für die Fallschirmjäger in Fürstenfeldbruck suche. Ich ließ mich erneut checken. Und siehe da, man fand mich für geeignet. Der Sold war etwas höher. Hinzu kam noch eine kleine Gefahrenzulage für jeden Absprung. Der Haken an der Sache war aller­dings, dass ich mich, wollte ich zu dieser Eliteeinheit, für 4 Jahre verpflichten musste. Und ich lebensunerfahrener Bursche von gerade mal 19 Jahren unterschrieb. Nachdenklich über das, was ich mir hiermit eingebrockt hatte, wurde ich erst, als ich im Urlaub ehe­malige Arbeitskollegen traf, die es irgendwie geschafft hatten, sich vor der Wehrpflicht zu drücken. Im Tanzcafe bestellten die großkotzig Roten Krimsekt, während ich unter dem Tisch meine paar Kröten zählte, ob es wohl noch für eine Cola reichen würde. Ich begann zu begreifen, was ich mir da selbst eingebrockt hatte. Aussteigen aus dem Vertrag war nicht drin. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit: Untauglich fürs Fallschirmspringen zu werden. So nahm ich mir dann fest vor, bei einem meiner nächsten Absprünge ein Bein zu brechen. Vom Wollen bis zur Ausführung, da liegen Welten dazwischen. Zwar hatte ich mir schon beim Schifahren mal ein Bein gebrochen, hatte es zunächst gar nicht so recht registriert. Bis ich aufstehen wollte und der Schmerz bis ins Gehirn hochschoss.

„Tja, mein Junge, das war es dann wohl!“

Bevor es überhaupt zum ersten Absprung kam hatte man alles gelernt, was zu vermeiden war, so dass man es im Schlaf hersagen konnte. Vor dem ersten Absprung träumte ich sogar die Hand­griffe und Handlungen, die mich sicher wieder auf den Boden brachten. Inzwischen hatte ich schon über 30 Absprünge ohne jedwede Komplikation absolviert. Immer wenn ich es mir bewusst vor­nahm, heute passierts, nahm doch die bereits vorhandene Routine Besitz von meinen Bewegungen. Schließlich war ich dann doch zu feige, meine Gedanken in die Tat umzusetzen. Irgendwie aber hatte sich der Gedanke an sich irgendwo im Hinterstübchen festgesetzt. Ich hatte den Gedanken schon längst ad acta gelegt, als es dann doch wie von selbst passierte. Während der ganzen Zeit der Luftfahrt hatte ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet. Doch als ich mich wie gewohnt nach vorne werfen wollte, um mit meinen Unterarmen die Seile runterdrücken wollte, um das Aufblähen des Fallschirms zu verhindern, wehte an diesem Tag auch noch ein Lüftchen von etwa 3; ich konnte mich nicht wie gewohnt mit den Füßen abstoßen. Dafür verspürte ich den gleichen Schmerz unter der Schädeldecke wie schon bei meinem Schiunfall.

Die im weiten Umkreis verteilten fernglasbewaffneten Beobachter hatten sofort erkannt, was mit mir los war. In einer Staubwolke eingehüllt kam ein Jeep neben mir zum Stehen. „Tja, mein Junge, das war es dann wohl!“ kommentierte der Offizier, der kurz meine Beine abgetastet hatte. Ein Bein alleine hätte ja auch schon gereicht. Aber nein, Schulz musste sich gleich beide Beine brechen.

Meinen Wehrpass mit dem neuen Vermerk, dass ich nur noch zur Ersatzreserve 2 gehörte, bekam ich dann noch am Krankenbett ausgehändigt. Nicht alleine dass ich mit dem doppelten Beinbruch untauglich geworden war, im Notfall mein Vater(?)land zu verteidigen, sondern die im Kranken­haus durchgeführte Röntgenuntersuchung meiner Lunge. Was wusste ich schon davon, was die drei Buchstaben TBC zu bedeuten hatten? Bisher unentdeckt hatte ich mit die „Motten“ mit herumge­schleppt, die inzwischen schon drei Kavernen in meine Lunge gefressen hatten.

Von wegen nach einer paar Wochen wieder ins Berufsleben einsteigen.

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Fußnoten

[1] Eine Lüttje Lage ist ein im Raum Hannover verbreitetes Mischgetränk aus dem speziellen obergärigen Lüttje-Lagen-Schankbier und Kornbrand. Eng verbunden mit der Lüttje Lage ist eine spezielle traditionelle Trinkweise. https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCttje_Lage

[2] Nach mündlicher Mitteilung von Dieter Schulz handelte es sich um das beste Hotel Hannovers: Kastens Hotel in der Luisenstraße https://www.kastens-luisenhof.de/