Lauter Zuständigkeiten, welch ein Zustand! Der Anstand bleibt auf der Strecke.
Wer den epd-Bericht über den »Beauftragtenrat, der sich mit sexualisierter Gewalt im Umfeld der Kirche beschäftigen soll«[1] liest, kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn er kein Insider ist, also die Interna der EKD und ihrer unabhängigen Landeskirchen nicht kennt, auch nicht die Unterschiede zwischen der „verfassten“ Kirche und ihrer Sozialkonzerne, die mit dem Sammelbegriff Diakonie auch nur unzureichend abgebildet sind.[2]
Als Insider weiß man, warum Opfer des sexuellen Missbrauch in kirchlichen Zusammenhängen sich fragen: »„Warum werde ich lediglich an die jeweilig zuständige Stelle der Landeskirche verwiesen, in der mir der Missbrauch angetan wurde?“« – Das gilt besonders für Entschädigungsfragen, »für die jede Landeskirche … eben selbst … in ihren diskreten Verfahren zuständig [ist].«
»Detlev Zander … hofft, dass er die Gelegenheit hat, den Synodalen ins Gewissen zu reden – und damit echtes Verständnis erfährt«. Das ist sein Anspruch. Ich denke nicht, dass er so naiv ist und meint, sich damit durchsetzen zu können.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, sagt man.
So könnte die EKD als Versammlung der einzelnen Landeskirchen und ihrer Sozialkonzerne unter diplomatischer Berücksichtigung aller Eitelkeiten Zanders Vorschlag für die Anlaufstelle folgen: »Psychologen und Juristen müssten die Geschichten der Anrufenden gleich anonym aufnehmen.«
Dazu müsste allerdings die Anlaufstelle finanziell und personell gut ausgestattet werden. Sie müsste vor allem tatsächlich und erkennbar von jedem denkbar kirchlichen Einfluss unabhängig sein. Im Hintergrund müssten sich die Landeskirchen und kirchlichen Verbände auf einen Entschädigungsrahmen einigen und dafür eine Entschädigungsstelle einrichten, an die die Anlaufstelle im anonymisierten Verfahren aus ihrer Kenntnis des jeweiligen Falls Forderungen stellen kann. Das setzt Vertrauen voraus. Doch warum sollen nur die Betroffenen einer Anlaufstelle und ihrem Personal vertrauen?
Das Ganze müsste nach dem „front-office-“ und back-office“-Prinzip laufen. Wer sich bei der Anlaufstelle meldet, hat nur einen und immer denselben Verhandlungspartner, der gegebenenfalls noch einen psychologischen Beistand vermittelt, sonst aber alle Hintergrundfragen klärt, so dass der Betroffene nicht mit den kuriosen kirchlichen Zuständigkeiten behelligt wird, die nur als Hinhaltetaktik verstanden werden.
In einer Art gentlemen‘s agreement müssten dann die einzelnen Landeskirchen und anderen kirchlichen Einrichtungen, in deren Bereich und Verantwortung die Missbrauchshandlungen fallen, den Entscheidungen zustimmen, die von übergeordneten Stellen getroffen sind, die aber offiziell keine übergeordneten Stellen sein dürfen.
So könnte man‘s machen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Ich habe gelernt, dass wo Widerwille ist, es auch Widerstand gibt – und habe nicht sehr viel Hoffnung.
[1] Zitate aus: https://www.evangelisch.de/inhalte/162004/04-11-2019/sexueller-missbrauch-der-evangelischen-kirche-und-was-getan-wird-im-jahr-2019-bis-zur-ekd-synode Gleich der Auftakt offenbart das Dilemma dieser Kirche, wenn man von ihr überhaupt im Singular sprechen mag: »Sieben Menschen aus hohen Positionen in Landeskirchen und aus der Diakonie bilden seit der EKD-Synode 2018 den Beauftragtenrat, der sich mit sexualisierter Gewalt im Umfeld der Kirche beschäftigen soll. Im Juni 2019 traten sie zum ersten Mal gemeinsam im Kirchenamt der EKD in Hannover auf. Kirsten Fehrs, die Sprecherin des Rates ist, war stolz, dass sie einen Flyer präsentieren konnte. „.help“ – eine Anlaufstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt.- Kerstin Claus, aus dem Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch (UBSKM), war auch auf diese Pressekonferenz geladen. Sie stand vor der versammelten Presse und sagte, sie sehe diesen Flyer zum ersten Mal. Betroffene seien in die Ausgestaltung der Anlaufstelle für Betroffene nicht einbezogen worden.«
[2] Sollte sich jemand für Details interessieren, sei auf die Abschnitte „Dienstleistungspartner Kirche“ und „»Landeskirchen«?“ meiner Darstellung im Pfarrerblatt verwiesen: http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=4529 Mein Essay blieb ohne jeden Kommentar. Dieses Thema ist – positiv gewendet – unter meinen Kollegen nicht kontrovers.
Aktueller Nachtrag
„Kirchenjurist Blum zu Missbrauch: Debatte um Entschädigung wäre verkürzt“. Die frische Meldung von https://www.evangelisch.de/inhalte/162426/12-11-2019/kirchenjurist-blum-zu-missbrauch-debatte-um-entschaedigung-waere-verkuerzt macht deutlich, dass finanzielle Interessen überwiegen, doch hinter Geschwafel verborgen werden: »„Entschädigung ist genau nicht, was wir als Institution leisten können“. Man WILL also keine Entschädigung leisten und setzt auf bewährte Ausweichmethoden: „Statt von Entschädigung spricht die evangelische Kirche von Anerkennungs- oder Unterstützungsleistungen, über die man sich mit den Betroffenen im Einzelfall verständigen will.“ Die Einzelnen werden über den jeweiligen landeskirchlichen Tisch gezogen. Sie werden vereinzelt, bekommen keinen Rechtsanwalt, keinen Anspruch, sondern Almosen für ihre Bedürftigkeit. Ihnen gegenüber werden nicht Einzelne sitzen, sondern mehrere ausgebuffte Kirchenjuristen mit klarem Auftrag: Es so billig wie möglich zu machen.
Wenn nur die Heuchelei nicht wäre: »Blum sagte, die Forderung nach Zahlungen in diesen Größenordnungen führe zwangsläufig zu Auseinandersetzungen über die Beweisbarkeit. Das seien genau die Verfahren, „die die Betroffenen über lange Zeit stark belasten und retraumatisieren würden“«. Rücksichtnahme zahlt sich aus. Einfach widerlich!
Mich wundert mittlerweile gar nichts mehr.
Der Lahme muss dem Blinden helfen.
Aus einem Mail: »Von der Anlauf-u.Beratungsstelle beim LVR Köln, erhielt ich 2 Plakate von Prof.DR. Schruth (Ombudsmann/Lenkungsausschuss), sowie DIN A 4-Anmeldeformulare (s.Vorder-Rückseite) auf Hochglanzpapier. Damit habe ich erstmal 10 ehemalige Heimkinder postalisch, bei der Anlaufstelle angemeldet, die kaum oder gar nicht lesen und schreiben können, sowie über kein Internet verfügen. Somit können sie auch nicht die Seite www.fonds-heimerziehung.de aufrufen, um für sich die zuständige Anlaufstelle abzurufen.
Ich teile dies mit, um aufzuzeigen, was jetzt alles noch auf den letzten Drücker, für ein Aufwand betrieben wird, damit der Lenkungsausschuss sein Gesicht wahren kann. Aber auch, was für ein Aufwand von den ehemaligen Heimkindern betrieben werden muss! Dank einer Spende von einem ehemaligen Heimkind (Frau) aus München, bin ich in der Lage, die Porto-u. Telefonkosten zu bestreiten, sowie Umschläge und Papier. … Die meisten Anfragen erhielt ich aus den Obdachlosen-Treffs und vom Arbeitslosenzentrum in Mönchengladbach.«
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Die so exzellenten erzieherischen Bemühungen in den Kinderheimen haben dazu geführt, dass eine ganze Reihe der ehemaligen Heimkinder am unteren Ende der Sozialskala und auch am unteren Ende der Bildungsskala zu suchen sind. Das dürfte den Verantwortlichen für den Fonds Heimerziehung bekannt sein. Also muß man die sozialen Anlaufstellen problembewußt und sprachfähig machen und mit Informationsmaterial ausstatten, das sind Sozialämter, Obdachloseneinrichtungen, Job-Center, die Vesperkirchen oder Tafeln, die Drogenanlaufstellen – und auch die Haftanstalten. Es muß aktiv informiert werden. Aufklärung von Bedürftigen muß immer eine Geh-Struktur haben, doch die Fondsverantwortlichen warten darauf, dass die Kunden kommen. Kommt ja auch billiger – und man hat doch alles getan – oder etwa nicht?
Die Juristen unter den Lesern sollten doch bitte einmal die Rechtsfigur „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ überprüfen. Könnte man damit in solchen Fällen Erfolg haben?
Die Anlauf- und Beratungsstelle beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)hatte eingeladen …
… und über 350 Betroffene sind der Einladung gefolgt.
Mehr dazu unter
http://www.paderzeitung.de/index.php?option=com_content&task=view&id=13061&Itemid=240
Die Antwort auf das Mail …
… sagt nichts zur Hauptsache. Interessant wäre doch, wie hoch die Sachleistungen im Durchschnitt nun ausgefallen sind und vielleicht dazu die Spreizung: Wie hoch war die niedrigste und wie hoch die höchste Sachleistung?
Auch die Frage nach den Rentenersatzleistungen blieb unbeantwortet.
Ich denke, Herr Kronschnabel wird damit nicht zufrieden sein. Und wie ich ihn kenne …
Hier das Antwortmail von Stefan Rösler:
Sehr geehrter Herr Kronschnabel,
gut, dass Sie nachfragen, so können wir das Missverständnis schnell ausräumen.
Ich nehme an, Sie beziehen sich auf die Pressemitteilung der bayerischen Familienministerin Emilia Müller vom 10.03.14 mit den Zahlen 1.300 Betroffene, 1.250 Anträge, 4,5 Mio. ausgezahlt.
1. Die Zahl „1.300“ (Stand 01.03.14) bezieht sich auf alle ehemaligen Heimkinder, die sich bei uns gemeldet haben. Für den Großteil sind wir zuständig, für einen kleinen Teil aber nicht. Einige Betroffene haben wir beispielsweise an die Anlaufstellen in den neuen Ländern weiter vermittelt. Die Zahl der Betroffenen in „bayerischer Zuständigkeit“ ist also etwas kleiner. Die Neuanmeldungen bleiben übrigens auf einen hohem Niveau bzw. sind in letzter Zeit sogar gestiegen.
2. Die Antragszahl „1250“ (Stand 31.12.13) bezieht sich „nur“ auf einen Teil der Betroffenen in unserer Zuständigkeit, dafür sind hier auch Folgeanträge (also mehrere Anträge einer Person) erfasst. Die Anlaufstelle wird – wie die meisten anderen Anlaufstellen auch – kontinuierlich alle Termine vergeben, Gespräche führen und Vereinbarungen schließen. Es kommen also täglich neue Vereinbarungen hinzu sowie natürlich auch Auszahlungen durch Köln (siehe 3.). Für Bayern werden pro Quartal rund 750.000 Euro ausgezahlt.
3. Mit Stand 31.12.14 wurden für Bayern die erwähnten 4,5 Mio. Euro ausgezahlt. Selbstverständlich ist die Summe der vereinbarten Leistungen zum selben Datum sehr viel höher. Wie Sie aber wissen, werden die Folgeschädenleistungen großteils „nach und nach“ ausgezahlt, nach Einreichung der entsprechenden Rechnungen. Das ist die Differenz, nach der Sie völlig zu Recht fragen. Dies alles in einer Pressemitteilung zu erklären, ist leider nicht möglich.
Im Ergebnis versichere ich Ihnen, dass wir ehemalige Heimkinder motivieren und dabei unterstützen, die Leistungen des Fonds in Anspruch zu nehmen.
Selbstverständlich gibt es in Bayern keinerlei Interesse oder gar Vorgabe, Betroffene bei der Antragstellung „zu behindern“, im Gegenteil! Von Schikane kann also keine Rede sein.
Darüber hinaus ist es unser Interesse, das unseres Beirats, das der Staatsregierung und des Parlaments, vor allem in diesem Jahr nochmals verstärkt auf den Fonds aufmerksam zu machen, damit sich möglichst viele ehemalige Heimkinder in Bayern bei uns melden. Die oben erwähnte Pressemitteilung ist dafür das beste Beispiel.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Rösler
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