Staatsmänner – #Genscher im Vergleich
Gefeiert wird er als großer Staatsmann. Was er zu Europa gesagt hat, ist auch richtig und wichtig, gerade in der jetzigen Krise.
In meinem Beitrag Sand ins Getriebe![1] habe ich an Genschers Anteil an der Ermordung von Elisabeth Käsemann[2] erinnert und das Thema Machthaber angesprochen.
Im Nachhinein musste ich an einen anderen Fall aus der BRD-Geschichte denken, in dem ein Machthaber für den Tod eines Menschen verantwortlich war.
Es begann mit dem Überfall auf Hanns Martin Schleyer in Köln am Montag, den 5. September 1977 und endete 43 Tage später mit seiner Ermordung. »Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Peguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen«, stand im Bekennerschreiben.[3]
Hier ist ein Vergleich möglich.
»Noch kurz vor ihrem Tod 2008 sagte Waltrude Schleyer: „Ich habe mich nie damit abgefunden, dass der Staat meinen Mann geopfert hat.“«[4] Aus Gründen der Staatsräson war Helmut Schmidt nicht auf die Forderungen der Schleyer-Entführer eingegangen. Im Staatsakt für den von Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF)[5] ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer in der Domkirche St. Eberhard , saß die Witwe neben dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt – sie wurde damit ihrer Rolle gerecht. Aber auch Schmidt. Im Jahr 2013 erhielt er den renommierten Schleyer-Preis. Hanns Eberhard, der älteste der vier Söhne Schleyers, war Mitglied der Jury. Es wird bis zur Preisverleihung kein leichter Weg für die Familie Schleyer gewesen sein. Doch sie erwies Schmidt einen – wenn wohl auch schmerzhaften – Respekt.
In seiner sehr persönlich gehaltenen Dankesrede sagte Schmidt: »[Mir ist] sehr klar bewusst, daß ich – trotz aller redlichen Bemühungen – am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig bin. Denn theoretisch hätten wir auf das Austauschangebot der RAF eingehen können. Als im letzten Herbst Schleyers Sohn Hanns-Eberhard Schleyer mich besucht hat, um mir den heutigen Preis anzutragen, hat mich dies tief berührt. … Umso mehr möchte ich mich vor der heutigen Entscheidung der Familie Schleyer verbeugen. Es rührt mich heute zutiefst, daß die Familie Schleyer öffentlich ihren Respekt gegenüber meiner damaligen Haltung zum Ausdruck bringt.«[6]
Das ist Größe! Vonseiten der Familie und vonseiten Schmidts.
Für Schmidt ist hinzuzufügen: »In einem Interview mit der „Zeit“ 30 Jahre später erzählten er und seine Frau Loki, dass sie 1975 nach dem RAF-Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm, bei der zwei Botschaftsangehörige als Geiseln genommen und, weil der Staat unter Kanzler Schmidt hart blieb, erschossen wurden, eine Entscheidung zu den Akten gegeben hatten: „Falls Frau Schmidt oder Herr Schmidt gekidnappt werden sollten, soll der Staat nicht austauschen.“ Die Selbstbehauptung des Rechtsstaats ist das eine, persönliche Schuld das andere. Helmut Schmidt hat daran nie einen Zweifel gelassen: „Ich bin verstrickt in Schuld gegenüber Schleyer, gegenüber Frau Schleyer und gegenüber den beiden Beamten in Stockholm, die umgebracht wurden.“«[7]
Wie erbärmlich ist die Rolle Genschers dagegen. Nichts hat ihn gehindert, diplomatischen Druck auf Argentinien auszuüben um Elisabeth Käsemann zu retten.
Wie erbärmlich sein Kneifen hinterher:
»Dabei wusste die Behörde nach Austins Aussage genau Bescheid, dass Käsemann noch am Leben war und wo sie gefangen gehalten wurde. Selbst das halboffizielle Angebot, sie gegen Geld freizulassen, wurde ignoriert.
Was hinter dieser Untätigkeit steckte, versucht Regisseur Friedler den damaligen Staatsministern Hildegard Hamm-Brücher (FDP) und Klaus von Dohnanyi (SPD) zu entlocken (zu einem bereits zugesagten Interview mit Ex-Außenminister Genscher kam es nicht [Hervorhebung: ds]). Beiden ist die Sache im Rückblick sichtlich unangenehm, plausibel erklären können oder wollen sie ihr Verhalten jedoch nicht. Eine sehr peinliche Figur macht im Film Hamm-Brücher, der man glauben soll, sie sei damals eine Art Praktikantin ohne jeden Einfluss gewesen – und nicht die Nummer zwei im Ministerium. Dohnanyi lässt immerhin durchblicken, dass das Interesse der deutschen Industrie an guten Geschäften mit den Diktatoren absoluten Vorrang hatte – und „das Mädchen“ (Genscher) dabei ein Störfaktor war.« [Hervorhebung: ds]).[8]
Nun wird Genscher wohl mit einem Staatsakt geehrt werden, die höchste offizielle Würdigung, die unser Staat zu vergeben hat.[9] Das gehört zum Protokoll und ist auch in Ordnung so, denn er hat sich um Deutschland verdient gemacht. Dennoch wäre es nicht unangemessen, wenn bei aller Würdigung auch der Name Elisabeth Käsemann genannt würde. Das wird jedoch nicht geschehen, denn so etwas gehört nicht zum Protokoll.[10] Darum sei hier an Elisabeth Käsemann erinnert.
Ein Nachtrag ist noch erforderlich, »auch wenn die Republik diese Namen längst vergessen hat«: Heinz Marcisz, der Fahrer von Schleyer und die Polizisten im Begleitfahrzeug: Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler.[11] Es scheint für die toten Polizisten wohl einen Staatsakt gegeben zu haben: Nach dem Terrorüberfall, berichtet die Mutter von Roland Pieler, »kam ein Telegramm von Bundeskanzler Helmut Schmidt …, 57 Wörter, darunter die vier „in Erfüllung seiner Pflicht“, anschließend ein Staatsakt und eine Entschädigung. 12 500 Mark. „Wir haben unser Auskommen“, sagt die Mutter ausweichend, „es dreht sich nicht um Geld.“ Sie sagt danach nicht mehr viel, nur: „Im Nachhinein hilft in so einer Situation sowieso nichts.“«[12]
Wie ich damals zuverlässig hörte, hatte es der Kirchengemeinderat abgelehnt, den Staatsakt in der Stuttgarter Stiftskirche stattfinden zu lassen. Das war im Zusammenhang mit meiner pompösen Einführung als Polizeipfarrer in der Stiftskirche im September 1978, pompös, weil als Kompensationshandlung gedacht. Darüber werde ich später noch schreiben.
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/04/02/sand-ins-getriebe/
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/06/07/schach-ist-das-spiel-der-konige/ http://jacobsmeinung.over-blog.com/2016/03/elisabeth-kasemann-das-blut-an-den-fingern-des-hans-dietrich-genscher.html
[3] Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Schleyer-Entf%C3%BChrung
[4] http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Von-Staatsraeson-und-Schuld;art4306,1968810
[5] http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/raf-terror-boock-nennt-namen-von-schleyers-mutmasslichen-moerdern-a-504539.html
[6] http://www.schleyer-stiftung.de/pdf/pdf_2013/Rede_Helmut_Schmidt_autorisiert.pdf
[7] http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Von-Staatsraeson-und-Schuld;art4306,1968810
[8] http://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-Maedchen-stoert-Wie-die-deutsche-Regierung-den-Mord-an-Elisabeth-Kaesemann-in-Kauf-nahm-81990.html
[9] http://www.n-tv.de/politik/Genscher-wird-wohl-mit-Staatsakt-geehrt-article17376296.html
[10] Das wird bei der Verleihung des „Internationalen Mendelssohn Preises zu Leipzig” an Genscher im Jahr 2014 nicht anders gewesen sein. https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/09/08/internationaler-mendelssohn-preis-an-genscher-und-elisabeth-kasemann/ https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/09/08/genscher-und-kasemann/
Sand ins Getriebe!
Mein Autoradio meldet: Genscher gestorben! Kommentare, Ausschnitte aus Interviews mit ihm und Würdigungen, denen ich nicht widersprechen möchte. De mortuis nihil nisi bene, über Tote nur Gutes. Daran halten sich die Kommentare nicht sklavisch. Wenn ein bedeutender Staatsmann stirbt, muss die Würdigung auch problematische Punkte enthalten. So ist es auch.
- Genschers diplomatische Rolle für die Jugoslawienkriege wird erwähnt: War er der Auslöser der Eskalation? Eine abendliche Netzrecherche bringt Widersprüchliches zu Tage.[1] Genscher selber hat seine Vorgehensweise immer für richtig gehalten. Eine Frage, die wohl erst die Historiker mit Blick in die freigegebenen Akten sachkundig werden diskutieren können.
- Seine größte Niederlage, sagt Genscher selber im Interview, sei das Scheitern bei der Geiselbefreiung beim Münchner Olympiamassaker gewesen.[2]
- Im Vordergrund natürlich die Höhepunkte seiner Politik, Wiedervereinigung, Europa.
So weit, so gut und angemessen. Doch ich warte die ganze Zeit darauf, dass Elisabeth Käsemann erwähnt wird. Fehlanzeige.
»Elisabeth Käsemann wurde mit angelegten Handschellen und einer Kapuze über dem Kopf in den Ort Monte Grande bei Buenos Aires transportiert und dort unter Ausnutzung ihrer Arg- und Wehrlosigkeit durch Schüsse in Genick und Rücken aus unmittelbarer Nähe getötet.«[3]
Der Fall Elisabeth Käsemann[4] »geht auf das Konto von Hans-Dietrich Genscher. Er hätte helfen können, doch „das Mädchen“ interessierte ihn nicht. Der deutsche Waffenhandel war wichtiger, wie auch dem DFB eine ungestörte Fußballweltmeisterschaft in Argentinien.«[5]
Geht es nur um Genscher, der offenbar auf das Mädchen Käsemann später nicht mehr anzusprechen war? Nein, es geht um Macht. „Der Machthaber lässt andere für sich sterben, um seine Macht zu erhalten“[6] Das gilt nicht nur für Feinde, sondern auch für Figuren ohne Einfluss, auf die der Machthaber keine Rücksicht nehmen muss. Kroppzeug! Kanonenfutter! Kollateralschäden. Oder nur historisch notwendige Irrtümer?
Ach, Genschman und sein gelber Pullover: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/3030906614/
https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/9889670573/
Dennoch:
So legt euch denn ihr Brüder, und auch ihr Schwestern nieder, kalt weht der Abendhauch, verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.
RIP – und auch Du, FDP.
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/genscher-in-der-f-a-z-kein-alleingang-bei-der-anerkennung-sloweniens-und-kroatiens-11577124.html#/elections
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/jugoslawien/anerkennung.html
Klaus Peter Zeitler , Deutschlands Rolle bei der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Kroatien unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Außenministers Genscher, http://www.rechtsanwalt-naumburg.eu/eigene-ver%C3%B6ffentlichungen/deutschlands-rolle-bei-der-v%C3%B6lkerrechtlichen-anerkennung-der-republik-kroatien/
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9199049.html
http://www.thur.de/philo/jug8.htm
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32060812.html
[2] so auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Dietrich_Genscher , Wikipedia ist schnell. Bereits heute abend ist dort der Tod Genschers vermerkt.
[3] [1] http://www.t-online.de/nachrichten/wissen/geschichte/id_69702116/fall-elisabeth-kaesemann-der-geduldete-mord.html
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_M%C3%A4dchen_%E2%80%93_Was_geschah_mit_Elisabeth_K.%3F
[5] http://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-Maedchen-stoert-Wie-die-deutsche-Regierung-den-Mord-an-Elisabeth-Kaesemann-in-Kauf-nahm-81990.html
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/06/05/leichen-im-keller-der-deutschen-politik/
[6] Elias Canetti, aus dem Gedächtnis zitiert.
Vergebung für Täter hat eine lange Tradition,
Vergebung ohne Schuldbekenntnis, ohne Reue und ohne Sühne
Internationaler Mendelssohn-Preis an Genscher – Und Elisabeth Käsemann?
Sehr geehrte Frau Franke-Kern,
sehr geehrter Herr Ernst,
ein Leser meines Blogs machte mich auf die Verleihung des Internationalen Mendelssohn-Preises an Herrn Genscher aufmerksam und erinnerte mich damit an meine Artikel im Blog (Leichen im Keller der deutschen Politik https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/06/05/leichen-im-keller-der-deutschen-politik/ und Schach ist das Spiel der Könige https://dierkschaefer.wordpress.com/wp-admin/post.php?post=5219&action=edit ).
In der Begründung für die Preisvergabe schreibt »die Jury über Hans-Dietrich Genscher: „Seinem Motto: ‚… verantwortliche Politik muss der Freiheit und der Würde jedes einzelnen Menschen dienen’, ist Hans-Dietrich Genscher immer treu geblieben« (http://accolade-pr.de/internationaler-mendelssohn-preis-2014-fur-hans-dietrich-genscher-und-das-gewandhaus-quartett/ ).
Preisverleihungen an wie auch immer Prominente sind oft eine ambivalente Angelegenheit. Man fragt fragt sich zuweilen, wer schmückt wen?
Ich kann mir nicht anmaßen, das gesamte Wirken von Herrn Genscher zu würdigen. Doch wenn Sie seinen Dienst am einzelnen Menschen hervorheben, so muß an seine Rolle im Fall Elisabeth Käsemann erinnert werden (http://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_K%C3%A4semann ).
Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Preisträger Ihrer Stiftung gut zu Gesicht steht.
Apropos Preis: Die frühere Schule meiner Frau vergibt den Elisabeth-Käsemann-Preis im Gedenken an die ehemalige Schülerin dieses Tübinger Gymnasiums.
Mit freundlichem Gruß
Dierk Schäfer[1]
[1] Per Mail an: Jürgen Ernst, Geschäftsführender Vorstand, Direktor Mendelssohn-Haus, j.ernst@mendelssohn-stiftung.de und Franziska Franke-Kern, Pressekontakt – für den Internationalen Mendelssohn-Preis, franke@accolade-pr.de Kopie an: schulleitung@wildermuth-gymnasium.de
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