Dierk Schaefers Blog

Was für ein Leseabenteuer!

Devianz als Schicksal? – Rezension

von Markus Löble1

„Dust in the wind

All we are is dust in the wind“

Rockgruppe Kansas (1977)

Dierk Schäfer, Theologe und Psychologe, ehemaliger Polizeipfarrer und Tagungsleiter der Evangelischen Akademie in Bad Boll, legt nun im Sommer 2021 mit „dem Schulz“ gleichzeitig „einen Schäfer“ vor. „Der Schulz“, das ist: Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Band 45 der Tübinger Schriften und Materialien zu Kriminologie (TÜKRIM)2

14 Jahre nach der verdienstvollen und prämiierten Heimkindertagungsreihe „Kinderkram“ der Evangelischen Akademie in Bad Boll 2007, die Dierk Schäfer als Tagungsleiter der Evangelischen Akademie organisiert und geleitet hat, liegt nun die kommentierte Ausgabe der autobiographischen Notizen „des Berufsverbrechers“ Dieter Schulz vor. Es ist das große Verdienst Dierk Schäfers, drangeblieben zu sein und trotz aller editorischer Rückschläge nun einen Rahmen für den schriftlichen Nachlass eines sehr bemerkenswerten Menschen – bemerkenswert wie wir alle (!) – geschaffen zu haben.

Was für ein Leseabenteuer! Viele versunkene Welten werden in diesem Band angesprochen und erscheinen sehr plastisch vor dem Auge der/s geneigten Leser*in. Dieter Schulz, geboren 1940 im ehemaligen Königsberg, erlebt als Kind Flucht und Vertreibung. Mutter Schulz flieht mit ihren Kleinkindern aus Ostpreußen, die Fluchterlebnisse werden sehr eindrücklich geschildert.

Dieter Schulz schrieb seine autobiographischen Notizen Jahrzehnte später in Haft. Er blickt auf eine Kindheit in Deutschland der 50er Jahre zurück. Kleine und große Fluchten werden ihn sein Leben lang von geographischen und emotionalen Nirgendwos in Heimen und später Haftanstalten zu immer weiteren Nirgendwos führen. Kindheit im Nachkriegsdeutschland heißt für ihn, meist keine Schule zu haben, dafür lernt er fließend Russisch und sich durchzuschlagen. Was das Leben pädagogisch versäumt oder anrichtet, bedeutet oft „lebenslang“ – für uns alle. Die blind machende „Hasskappe“ setzte sich Dieter Schulz schon als Kind und später immer wieder in seinem Leben auf. Heute kann Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie manches Mal positiv wirksam werden, viel mehr noch hätte damals moderne (Trauma-) Pädagogik in modernen Jugendhilfeeinrichtungen wirksam werden können. Es hat sich wirklich viel getan in den vergangenen Jahrzehnten. Auch dies ist ein Ergebnis der Lektüre.    

Behutsam und kenntnisreich leitet Dierk Schäfer den/die Leser*in durch den Irrgarten der Notizen des Kriminellen Dieter Schulz. Es hätte immer auch anders kommen, anders ausgehen können. Dierk Schäfer ordnet und führt dort, wo es sein muss und schafft gerade dadurch Raum für seinen Schulz und seine Leser*innen. Raum für die vielen Welten eines wechselvollen Lebens in Ost- und Westdeutschland, in Kindheits-, Jugend- und später Erwachsenenwelten.

Natürlich wird beschönigt. Sehr kompetent und deshalb sehr hilfreich sind die Kommentare und Fußnoten des Kriminologen Dierk Schäfer, der er neben dem Psychologen und Theologen eben auch noch geworden ist. So ist „der Schulz“ eben auch „ein echter Schäfer“ geworden. Zwei Unbeugsame haben sich hier gefunden. Ein Buch, das auf dem Schnittpunkt dreier Berufe und Berufungen geschrieben wurde. Der Theologe, Psychologe und Kriminologe Schäfer führt hier zusammen, was zusammengehört. Eine im besten Sinne ganzheitliche Sicht auf einen Menschen und sein Leben, jedoch ganz ohne den Anspruch zu erheben, diesen dadurch zur Gänze zu erfassen. Wie sollte das in dieser kontingenten Welt schicksalhafter, zum Schicksal werdender Zufälle auch möglich sein?  

So bleibt dies Buch wohltuend ohne Fazit, ohne Urteil, ohne Wertung und ist eine Fundgrube des Wissens, jederzeit staunend machend. Es lohnt, sich auf diese Lektüre einzulassen. Danach bleibt eigentlich nur eine Sache unverständlich. Warum wurden die autobiographischen Notizen des Dieter Schulz nicht wie geplant verfilmt oder konventionell verlegt?

Immerhin verdanken wir der Beharrlichkeit Dierk Schäfers nun einen überaus lesenswerten Band 45 der Tübinger kriminologischen Schriftreihe. Ein echter Geheimtipp für Jurist*innen, Kriminolog*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und – last, but not least – für alle Leser*innen, die sich dafür interessieren lassen, wie es einem erging, der 1940 in ein Kriegseuropa hineingeboren wurde, darin aufwuchs, sich immer wieder berappelte und bis zu seinem Tode 2019 versuchte, das Beste daraus und aus sich zu machen.

Dierk Schäfers Schulz liest sich unterhaltsam und pendelt immer wieder zwischen bodenloser Tragik und sehr lebendiger Komik. Erlebnisse von Grass’scher Drastik wechseln sich ab mit Schilderungen, z.B. eines Banküberfalls, die wie aus dem Drehbuch der guten alten Olsen-Bande anmuten. Der Tod eines Kardinals leuchtet in den enzyklopädisch kenntnisreichen Fußnoten ebenso auf wie „das Milieu“ rund um das hannoversche Steintorviertel. Wer mag da urteilen, wer den Stab brechen? Der Rezensent schließt zu diesem lebensprallen Buch mit Nietzsches Zarathustra: „War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!“

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Fußnoten

1 Dr. med. Markus Löble, FA für KJPP, Arzt für Naturheilkunde, Suchtmedizin, systemische Familientherapie (DGSF), forensische Begutachtung (DGKJP). Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Christophsbad, Göppingen    

2 Dierk Schäfer: Devianz als Schicksal. Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie (TÜKRIM), Band 45, erschienen in: TOBIAS-lib-Universitätsbibliothek Tübingen, Juristische Fakultät, Institut für Kriminologie (2021). ISSN: 1612-4650; ISBN: 978-3-937368-90-0 (elektronische Version, Kostenfreier Download: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y) und 978-3- 937368-91-7 (Druckversion, 22,70 €,  beim Institut für Kriminologie, z. Hd. Frau Maria Pessiu, Sand 7, 72076 Tübingen, @ maria.pessiu@uni-tuebingen.de  )

50 Jahre Knast!

50 Jahre Strafvollzug 50 Jahre Knast!

[1. „50 Jahre? Wat hatter denn jemacht? Für Mord gibt’s doch nich so viel.“ – „Ach so, unverbesserlich: immer mal wieder. Banküberfall und so“

… und so wurde er, Ikarus[2], zum Fachmann bundes­deut­scher Corrections-Bemühungen, jedenfalls in Santa Fu[3]. Er beschreibt dem Leser den Wandel des Strafvollzugs[4], wie er ihn in seinem Knast-Alltag erlebt hat bis in die erschrecken­den Details. Schon im Prolog kommt er zu einem Resümee, das dem Straf­voll­zug ein verheerendes Zeugnis ausstellt: „Ich habe unter langen Haftzeiten, gerichtlichen Fehlentscheidungen und fortwährenden Strafübeln gelitten, jedoch im Grunde nichts gelernt.“

Beim Lesen überkam dem Rezensenten der Gedanke an die „Übeltäter“ Max und Moritz:

„In den Trichter schüttelt er die Bösewichter. Rickeracke! Rickeracke! geht die Mühle mit Geknacke“.

Der hier dargestellte Zuchthaus-Strafvollzug meint das Böse zu brechen, indem er die „Böse­wichter“ zerbricht. Die „Rollkommandos“, die entgegen jedem Übermaßverbot einen reni­tenten Knacki in den Arrest werfen(!) sind Folterknechte. Da können nur gebroche­ne Existenzen herauskommen. „Was ich gelernt habe oder geglaubt habe, gelernt zu haben, taugte und taugt in der Regel nicht für das Leben außerhalb der Knastmauern.“

Neu sein dürften für die meisten Leser die Erfahrungen in der U-Haft: Sie sei schlimmer als der normale Strafvollzug[5]; mancher Häftling sei bereit, vorschnell ein „Geständnis“ abzulegen und auf Rechtsmittel zu verzichten, nur um von der U-Haft in den Regelvollzug zu kommen. Und das trotz Unschuldsvermutung bis zum Urteil! Schlimmer kann ein Urteil über diesen Teil unseres Justizsystems kaum ausfallen.

Ikarus, Jahrgang 1942, stürzte das erste Mal mit 22 Jahren ab und lernte die verschärften Straf­bedingungen im Zuchthaus gründlich kennen. – Ach, wussten Sie was ein Hartlager ist? Man nimmt Ihnen zur Strafe die Matratze weg. – Ikarus veranschaulicht den Fortschritt vom Zuchthaus zum Gefängnis[6] bildhaft mit dem Klopapierangebot: Zunächst gab es Zeitungs­papier, dann unbedruckte Druckereiabfälle und schließlich handelsübliches Klopapier.

In Santa Fu war eine Bambule, ein Aufstand,[7] Auslöser für wesentliche Veränderungen: [8] Häftlinge bekamen nicht nur Mitspracherecht, sondern auch „Freiheiten in der Unfreiheit“, bei denen sich der Leser fragen dürfte, warum ein Teil dieser Freiheiten nicht schon vorher und freiwillig eingeräumt worden war, denn sie gefährden den Vollzug nicht, sondern sind Schikanen gegen die Menschenwürde.

Aber als Ikarus 1982 wieder abstürzte (warum, schreibt er nicht), kannte er seine „Mutter­anstalt“ nicht wieder. Die Zellentüren hatten jetzt Vorhängeschlösser[9] zum Schutz vor Dieb­stahl unter den Mitgefangenen. Solidarität gab es nicht mehr. Später, nach einem Mordfall[10], kamen auch Schlösser auf der Innenseite hinzu. Auch die Beamten meldeten sich durch Klop­fen an. Ikarus nutzte die Freiheiten und richtete sich in seiner „Wohnwabe“[11] von 9,5 qm ein. Sie „schloss mich aus vom realen Leben, sie bot zugleich Schutz vor dem Feindlichen und vermittelte mir ein oberflächliches, ein andermal ein tieferes Gefühl der Geborgenheit: Höhleneffekt.“ Er war angekommen.

Im Kapitel „Graue Nebel“ spricht Ikarus distanzierend von sich in der dritten Person. „Die Strafvollstreckungskammer hatte gerade seinen Reststrafenantrag abgebügelt. Einige Zeit später gab ihm seine Lebenspartnerin ihr ‚Valet‘. Kurz und bündig teilte sie ihm in einem Brief mit: ‚Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Vergiss mich.‘ Ein Karateschlag gegen seine ohnehin wunde Seele. Er knickte ein.“

Trotz der neuen Freiheiten gab es eine zweite Babule.[12] Die Befriedung des Aufstandes geschah unter Einbeziehung von knastälteren Insassen. Ikarus scheint beteiligt gewesen zu sein. Seine Beschreibung der Folgezeit offenbart einen „gereiften“ Menschen, in der Lage, Argumente abzuwiegen. Er berichtet auch über die nach Delikten gestaffelte Hierarchie und über die neue Nationalitätenmischung mit den Folgeproblemen. Wichtiger aber ist seine nächste Bruchlandung: 10 Jahre wegen bewaffneten Bankraubs plus 13 Jahre Widerruf einer Bewährungsreststrafe. Es war die vierte Verurteilung für das gleiche Delikt. Doch Ikarus hatte ja schon zu Beginn geschrieben, im Knast nichts hinzugelernt zu haben. Bankraub konnte er immer noch nicht, – aber es auch nicht lassen. Immerhin hatte er sozusagen ausgesorgt über das 80ste Lebensjahr hinaus. Nach sieben Jahren „Schreibkrieg und Gesprächskämpfen“ … „am Ende der Strecke, im März 2009 stand die Verlegung in eine psychiatrische Einrichtung.“

War das wieder ein Absturz, Ikarus? Er hat einen Suizidversuch hinter sich, ist nun 67 Jahre alt und längst im Rentenalter. Rente? Ja, dreihundert Euro aus versicherungspflichtigen Arbeitsver­hältnissen. Die Arbeit im Knast zählt nicht dazu. Der Staat drückt sich auch heute noch um die Beiträge zur Rentenversicherung. Arbeitgeber, die solches tun, machen sich strafbar. Der Staat nicht und bleibt ungeschoren, ein Skandal. Aber politischer Einsatz für Knackies wird vom Wähler eher abgestraft.

Ikarus bleibt in Hamburg und hat nun die Gelegenheit, den geschlossenen Strafvollzug von Santa Fu mit dem sozialtherapeutischen Vollzug[13] zu vergleichen. Die Freiheiten in Santa Fu waren durch den Druck konservativer punitiver Kreise („Schwarze Konterrevolution“) weitgehend einkassiert worden.[14] Ganz anders die Sozialtherapeutische Anstalt. So wie Ikarus sie beschreibt, kommt der Leser zur Überzeugung: So, genau so sollte Justizvollzug sein: Die Vorbereitung auf die Anforderungen der Freiheit „draußen“ stehen im Mittelpunkt.

Wer so lange im Strafsystem steckte, darf als Fachmann gelten. Er schließt darum mit einigen Thesen, die hier nur plakativ wiedergegeben seien: 1. Strafvollzug „bessert“ nicht, mag er auch noch so intensiv auf Härte angelegt sein. 2. Strafvollzug macht krank … je länger er dauert. 3. Der geschlossene Strafvollzug macht über die Jahre lebensfremd …und sollte die Ausnahme bilden.

Resümee: Ein locker geschriebenes, erlebnisgesättigtes Fachbuch aus langjähriger Erfahrung eines Insassen. Lesenswert für alle, die irgendwie mit Knast zu tun haben, sei es beruflich oder zur Vorbereitung. Merkwürdig: Ikarus umschifft weitgehend das „Thema Nummer eins“[15]. Das ist nicht glaubwürdig.

Was fehlt noch? Ein knapper Lebenslauf von Ikarus. Herkunft, Schule, Lehre, chrono­lo­gischer Überblick über die Straftaten und Strafbemessung, Daten der jeweiligen Freilassung, Eheschließung(en). Was macht Ikarus heute? Ein paar Fotos der Anstalt wären nett gewesen.

Bildmaterial sei hier nachgereicht, ist allerdings aktuell und nicht aus der Zuchthauszeit.[16]

Rezensent: Dierk Schäfer, Dipl.-Psychologe&Kriminologe, Theologe


[1] Foto/Ausschnitt: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/28783322134/in/album-72157668678484066/

[2] So nennt er sich: Er sei wie Ikarus beim Höhenflug abgestürzt. Doch beim ihm sind es mehrere Abstürze. Ich nenne ihn im Folgenden auch Ikarus, weil ich nicht weiß, ob der Autorenname echt ist.

[3] Der Begriff „Santa Fu“ ist schon vor den 1970er Jahren entstanden und kommt von der alten Bezeichnung „Strafanstalt Fuhlsbüttel“, die im Verwaltungsdeutsch „St. Fu“ abgekürzt wurde. https://de.wikipedia.org/wiki/Justizvollzugsanstalt_Fuhlsb%C3%BCttel Viele Fotos und weiterführende links unter https://www.google.com/search?q=Santa+Fu&client=firefox-b-d&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwiqhtXhwIfwAhWfwQIHHUkMCfUQ_AUoAnoECAEQBA&biw=960&bih=434

[4] Wolfgang Krüger, 50 Jahre Strafvollzug, Hamburger Gefängnisalltag zwischen 1960 und 2010 aus Sicht eines Gefangenen, 2021, Kriminologie und Kriminalsoziologie, Band 22, 134 Seiten, gebunden, 29,90 €, ISBN 978-3-8309-4371-6. Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dem hier besprochenen Buch entnommen.

An dieser Stelle will ich dem Verlag bzw. seinem Lektor ein Lob aussprechen. Denn hier weiß man noch, was eine Fußnote ist und wo sie hingehört, nämlich zur Erleichterung des Lesers nach unten, an den „Fuß“ der Seite. Es ist hier aber nicht der Platz für einen Exkurs zu den üblich gewordenen gestaffelten Unverschämtheiten, Fuß­noten leserunfreundlich an das Ende eines Textes zu verbannen.

[5] „Die Untersuchungshaft dient grundsätzlich nur der Sicherung des Strafverfahrens.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Untersuchungshaft_(Deutschland)

[6] In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Zuchthausstrafe im Rahmen der Großen Strafrechtsreform durch das Erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) zum 1. April 1970 abgeschafft. https://de.wikipedia.org/wiki/Zuchthaus

[7] – Langsam am Verblöden, 02.01.1972, 13 https://www.spiegel.de/politik/langsam-am-verbloeden-a-ff206415-0002-0001-0000-000043376343

 – Ruhe in Santa Fu, 11. August 1972 https://www.zeit.de/1972/32/ruhe-in-santa-fu/komplettansicht

[8] Aus dieser Zeit stammen auch meine Erfahrungen mit gelockerten Knastbedingungen – als Besucher.

[9] Die Verwaltung hatte den Zweitschlüssel und damit weiterhin jederzeit Zutritt.

[10] https://www.spiegel.de/panorama/die-hoelle-hinter-gittern-a-53259ad3-0002-0001-0000-000013683647

[11] Durchgängig schreibt er vom Wohnklo.

[12] https://www.spiegel.de/panorama/die-hoelle-hinter-gittern-a-53259ad3-0002-0001-0000-000013683647

[13] Sozialtherapeutische Anstalt http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=S&KL_ID=215

https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialtherapeutische_Anstalt

https://www.hamburg.de/bjv/justizvollzugsanstalten/2231596/sozialtherapeutische-anstalt/

[14] Genannt wird der Senator Roger Kusch. Zu dieser Person mehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Kusch

[15] „Am Arbeitsplatz, in der Freistunde, überall ist Thema Nummer zwei Erfah­rungs­austausch! Thema Nummer eins dürfte wohl jedem bekannt sein. Da wird angegeben, dass die Nähte krachen.“ Aus: Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Dierk Schäfer, Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Mit der Autobiographie von Dieter Schulz, Kapitel 32: Dieter zu Gast im „Hotel zur silbernen Kugel“

[16] Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 1: Drogen

https://www.youtube.com/watch?v=WJn9e4dMoRE

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 2: Essen

https://www.youtube.com/watch?v=zAGYvNUl3Y4

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 3: Gewalt

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 4: Tagesablauf

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 5: Liebe

und die andere Seite:

Alltag in Santa Fu – Beamte hinter Gittern – Teil 1

Alltag in Santa Fu – Beamte hinter Gittern – Teil 2

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« X

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Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

 

 

 

Zehntes Kapitel

Bambule[1]

Unsere Erzieher, 3 Männer, zwei Frauen, genossen offensichtlich diese idyllische Ruhe hier am Arsch der Welt. Niemand kontrollierte ihre „Arbeit!“. Sicherlich hatten sie ihre regelmäßi­gen Mahlzeiten, während bei uns gestreckt werden musste, weil die fällige Lebens­mittelliefe­rung wieder mal auf sich warten ließ. Selbst deren Liebesleben schien in Takt zu sein. Wer mit wem, dass hatten wir allerdings nicht so richtig herausbekommen. Hatten doch ihre Behau­sungen ihre Eingänge zur entgegengesetzten Seite. Dass es aber zwischen denen ein reges Liebesleben gab, konnten wir sehr bald selbst anhand von an den schönen weißen Bett­laken feststellen, auf denen die Erzieher sich räkelten. Wir dagegen hatten so ’ne grau-blaue Unterlage, die überall hässliches Hautjucken verursachte.

ein großes Hakenkreuz als Protest

Weil eines der Fenster einer Erzie­he­rin so schön weit offen stand, stieg ich ins Zimmer ein und nahm ihr schönes weißes (jedenfalls zum größten Teil weiß, ansonsten war eben das Liebesleben darauf abgebildet) Bettlaken weg. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob das überhaupt stilgerecht oder gar zeitgemäß war. Mit blauer Tinte (die hatten wir schon) malte ich ein großes Hakenkreuz drauf. Ich will noch nicht einmal beschwören, dass ich die Winkel in die richtige Richtung einzeichnete. Aber als ich mein Kunstwerk aufs Dach brachte, es dort an einer langen Stange befestigte und diese Stange wiederum am Schornstein festband, da erkannte man an der ganzen Art wie ich es tat, dass es als Protest gedacht war. Mir wurde natürlich seitens der Erzieher gleich vorgeworfen, weshalb ich im Heim sei und keine Besserung zeigen würde und bla…bla…bla. Mit seinem Gürtel drohend vor meiner Nase herumfuchtelnd verlangte doch einer der Erzieher tatsächlich von mir, dass ich freiwillig her­un­terkommen solle, um mir eine Tracht Prügel abzuholen. Hielt der mich etwa für blöd? In seiner ohnmächtigen Wut schlug er wild um sich. Das er dabei unglücklicherweise eines der wenigen Mädchen traf, auch ein Heimkind natürlich, das war der Auslöser dafür, was nun geschah. Wütend stürzten sich ein paar beherzte Jungs auf den Erzieher und schlugen nun ihrerseits mit ihren Knüppeln auf ihn ein. So eine feige Memme. Anstatt sich ordentlich zu wehren, begann er schon nach den ersten Schlägen, zu flennen und zu jammern. Jetzt waren auch die Jagdinstinkte und die aufgestaute Wut in den anderen Jungs erwacht. Die vielen kleinen Repressalien kamen in ihnen hoch. Bevor sich die übrigen Erzieher von dem Schock über so etwas noch nie Dagewesenes erholen konnten, waren sie ebenfalls umringt, bekamen Prügel wie sie es nur gewohnt waren welche auszuteilen. Wehe wenn das Tier im Menschen losgelassen wird.

Wehe wenn das Tier im Menschen losgelassen wird

Ich brauchte gar nicht helfend einzugreifen. Von meinem Dach herunter hatte ich einen Logenplatz, um das Geschehen bestens im Auge zu haben.

Ich hätte ohnehin keine Stelle mehr gefunden, wohin ich meinen Stock hätte schwingen kön­nen. Die dichte Traube der übrigen Kinder ließ nur erahnen, wo sich der verhasste Feind befand, wenn ihre Knüppel niedersausten. Nur einer von uns besaß eine richtige, funktio­nie­rende Waffe. Das war ich. Aus dem ganzen verrottenden Zeug hatte ich mit viel Öl und akri­bischer Putzarbeit einen russischen Trommelrevolver, wie sie von den Panzerfahrern benutzt wurden, wieder funktionsfähig gemacht. Diesen Schatz hütete ich wie meinen Aug­apfel. Muni­tion fand man hier allenthalben noch kistenweise. Trotz meiner Hasskappe war ich längst noch nicht blutrünstig. Nur eben, dass mir die Waffe ein Gefühl der Sicherheit und Größe verlieh, durch die ich meine tatsächliche mickrige Körpergröße ausglich.

Es half nichts, dass ich mir die Kehle heiser schrie. Keiner wollte mit dem Eindreschen auf seine Peiniger wieder auf hören. Jeder hatte irgendwie ein persönliches Hühnchen mit den Erziehern zu rupfen. Da meine Mahnungen nicht erhört wurden, zog ich unter meiner Wind­bluse den Revolver hervor und ballerte in die Luft. Nach dem vorhergegangenen Spektakel trat urplötzlich eine fast erdrückende Ruhe ein. Schon alleine die kurze Unterbre­chung ließ in die Köpfe der prügelnden Kinder wieder Besinnung einkehren. Zum Teil verschämt auf ihre Schlag­stöcke schauend, so als fragten sie sich selbst, wie diese in ihre Hände gekommen sein mochten, zum Teil verlegen zu mir heraufschauend lichtete sich das Knäuel etwas. „Findet ihr das nicht ganz schön happig?“ zeigte ich auf die am Boden liegen­den Erzieher. „Naa, Duu has das Gansse doch angefangen!“ sächselte mich von unten einer her an.

Doch das sahen nicht alle so. Es entstand wieder erneut Tumult dort unter mir. Ausgerechnet jetzt und heute kam mal wieder ein Lieferant mit seinem knatternden Opel Blitz aufs Heim­ge­lände gefahren. Der erkannte sofort, was hier vor sich gegangen war. Aus Angst, dass man ihn genauso behandeln würde wie die blutig am Boden liegenden Erzieher, schwang er sich sofort wieder hinter das Lenkrad seines Vorkriegsmodells von Auto und raste im Rückwärts­gang wieder die Auffahrt zurück. Was das zu bedeuten hatte wurde uns allen blitzschnell klar. Selbst die schwerfälligsten Denker begriffen nun, was sie sich da eingebrockt hatten. Ziem­lich kopflos und ohne strategisches Konzept verkrümelten wir uns tiefer in den Wald. Dort waren wir unschlagbar. Dachten wir. Kannten wir doch im weiteren Umkreis jeden Baum und Strauch. Ging ja auch in den ersten Stunden auf unsere Rechnung. Die Polizei kam dann ja auch gleich (gleich, heißt nach etwa zwei Stunden) mit einer Hundertschaft ange­rückt. Einmal ausgebüxte Halbwüchsige, kriegserfahrene Kinder lassen sich nicht so ohne weiteres durch gutes Zureden wieder aus dem Wald locken. Als das nichts an Kindern aus dem Wald hervor­lockte, riefen sie wieder, diesmal mit einem Megaphon, schon etwas bar­scher und rückten gleichzeitig in Schützenlinie in den Wald vor. Natürlich hatten ihnen die zurückge­blie­benen Erzieher unsere Fluchtrichtung angezeigt. Als es der Polizei dann zu bunt wurde auf uns zu warten, begannen sie also den Wald zu durchkämmen. Sie gingen über uns hinweg, traten zum Teil auf uns drauf, gingen in Armlänge an uns vorbei. Die Uniformierten kannten den Wald eben nur als Wald. Wir aber kannten ihn aus dem FF. Dieser Wald war eben unser Wald geworden. Langsam begann der Septembertag zur Neige zu gehen. Jetzt mussten die Vopos schon ihre Taschenlampen zu Hilfe nehmen. Dann begannen sie auch noch auf den LKW Scheinwerfer zu montieren, um den Wald auszuleuchten.

War das ein erhebendes Gefühl. Für mich zumindest.

Immer eindring­licher wurden wir aufgefordert doch endlich aus unseren Verstecken hervor­zukommen. Natür­lich mit dem leeren Versprechen, dass uns ja auch gar nichts passieren würde. Je weiter die Dunkelheit fortschritt, desto deutlicher konnte man aus der Stimme des Sprechers seine Wut heraushören, der sich von ein paar Dreikäsehochs an der Nase herum­geführt sah. Der Kommandant der Hundertschaft schien sich der Lächerlichkeit preisgegeben. War das ein erhebendes Gefühl. Für mich zumindest. Es musste dann später noch jemand ande­res gekommen sein. Die Stimme am Megaphon war eine andere. Diese neue Stimme verlegte sich aufs Einschmei­cheln. Er würde uns ja sehr gut verstehen, man könne doch über unsere Probleme auch in aller Ruhe reden. Es wäre sicherlich so Einiges nicht nach unserer Zufrie­den­heit verlaufen, aber das würde sich doch ändern lassen. Und so’n Zeugs gab er pausenlos von sich.

Nicht alle 70 Kinder hatten solche Nerven wie ich. Auch waren sie anscheinend noch nicht so oft von Erwachsenen, bzw. Polizisten angelogen worden oder hatten deren Lügen nicht als sol­che erkannt, weil eben so geschickt gelogen wurde wie eben jetzt. Bei den ersten bröckelte die Standhaftigkeit. Es wurde immer kühler in dieser Septembernacht. Von den ersten Abtrün­nigen hatten die Bullen wohl auch schon einige Informationen über die Hintergründe unserer „Revolution“ erhalten. So konnte die neue Stimme wieder dahingehend kommen­tie­ren, dass uns nichts geschehen würde, da wir ja allem Anschein nach sogar im Recht gewe­sen seien. „Kommt raus Kinder, hier wartet was Warmes zu essen und auch euer war­mes Bett auf euch!“ König Hunger und Graf Müdigkeit übernahmen nun das Kom­mando auch bei den standhaft gebliebenen. Vor, neben, hinter mir löste sich einer nach dem anderen aus seinem Versteck und gab auf. Die Kapitulation war perfekt. Wie mochte wohl einem Feldherrn zumute sein, wenn er seine Truppen zurückweichen sieht und die Schlacht für verloren erklä­ren muss? Ich will ja gar nicht so vermessen sein, mich mit einem Feldherrn vergleichen zu wollen. Ich hatte im Geschichtsunterricht großen Respekt vor solchen Herren. Vor allem die, die Völkerschlacht[2] bei Leipzig so bravourös gegen Napoleon geschlagen hatten. Nein, mein Name war schlicht und einfach nur Schulz, ein Feldherr war ich schon lange nicht. Hatte ich denn überhaupt eine Schlacht angezettelt? Also nahm ich erstmal Abschied von meinem Revo­lver, der eigentlich völlig zweckentfremdet einen, oder gar mehrere? Totschläge verhin­dert hatte, und begab mich als letzter in die Hände meiner Feinde. Ich wurde sehnsüchtig-nervös, aber doch sehr freundlich (erinnern Sie sich noch was ich über freundliche Polizisten geschrieben habe?), aufgenommen. Mädchen und Jungs plauderten angeregt mit den Bullen, hatten zum Teil deren Uniformmützen auf ihren Köpfen (diese Verräter!) und ließen sich auch die Waffen erklären, mit denen man uns vor kurzem noch hatte Angst einjagen wollte. Es war allenthalben eine lockere Stimmung festzustellen. Es wurden jede Menge belegte Brote und Brauseflaschen herumgereicht. Deeskalation nennt man so etwas wohl.

Unser Schlaf wurde sogar von den lieben Polizisten bewacht.

Ich frage mich noch heute, wo man das alles her hatte. Wann hatte es so etwas hier schon mal gegeben. Erschöpft durften wir dann auch gegen Mitternacht in unsere warmen Betten schlüp­fen. Unser Schlaf wurde sogar von den lieben Polizisten bewacht. Am nächsten Morgen waren immer noch 30 Mann der Truppe in unserer Nähe. Andere. Und, ein paar Zivilisten. Von unseren Erziehern weit und breit nichts zu sehen. Wir erfuhren lediglich, dass sie alle im gleichen Krankenhaus untergebracht seien. Wie fein! Die waren also bestens ver­sorgt. Wir mutmaßten, dass sie schon der Blamage wegen hier niemals wieder auftauchen würden. Zunächst aber einmal wurde mir gesagt, dass ICH hier niemals wieder auftauchen würde, und auch nie wieder mit einem der Kinder aus diesem Heim in Kontakt treten könne. Man wüsste ganz genau, dass ich, Dieter Schulz, an dem ganzen Desaster die Schuld trüge. Das könnte mir eines Tages noch ganz schön sauer aufstoßen. Ich war der Erste und blieb auch der Ein­zige, den man in das Büro geholt hatte, wo ich diese Vorwürfe über mich ergehen lassen musste. Mir wurde gerade noch soviel Zeit eingeräumt meine persönlichen sieben Sachen einzupacken. Dann sollte es losgehen. Diesen Fehler hätten sie lieber nicht machen sollen. Man unterschätzte ganz einfach die Tatsache, dass ich immer noch (oder jetzt erst recht) meine Hasskappe trug. Ein paar verlässliche Freunde wusste ich immer noch unter den Jungs. Vor allem die beiden, mit denen ich den unvergesslichen Berlintrip unternommen hatte. Ich musste, durfte mich bei ihnen verabschieden. Über das Wieso und Weshalb gab ich ihnen als Auskunft, was ich von den Kripo(?)-beamten erfahren hatte. Eine so dahin gemachte Bemer­kung, der man natürlich nicht nachzukommen brauchte, brachten die Jungs auf Trab. Ich beeilte mich nicht allzu schnell zu den Bullen zurückzukehren, obwohl ich im Grunde genom­men heilfroh war von diesem Arsch der Welt wegzukommen. Vielleicht hatte man ja woanders bessere Chancen für eine Flucht.

Es machte kurz hintereinander viermal „Peng“

Ich hatte mich in meinen vergangenen Weggefährten nicht getäuscht. Meine Bemerkung hatte sie befruchtet. Zwei der Zivilisten setzten sich mit mir in ein Auto. Wie üblich erfuhr ich noch nicht einmal, wohin man mich bringen würde. Dafür erfuhren die Bullen aber, dass es manch­mal doch besser ist, gleich mit vier, anstatt nur einem Reserverad unterwegs zu sein. Die ein­zige Ein-und Ausfahrt war gespickt mit verbogenen, rostigen Nägeln und ähnlichen spitzem nützlichem Zeug. Es machte kurz hintereinander viermal „Peng“, und der Wagen erfüllte schon nicht mehr den Zweck eines Fortbewegungsmittels. Selbst die Luft der kräf­tigsten Flüche konnte die vier Platten Reifen nicht mehr aufpumpen. Diesen Kraftakt hätten sie sich also sparen können. Ich war ganz Unschuld, trotzdem kreidete man mir auch diese Untat an. Immer ich! Das ging mir langsam auf den Keks, dass ich für alles herhalten musste. Diese bösen gegen mich gerichteten Worte verengten meine Hasskappe nur noch. Nichts­desto­trotz funktionierte mein Gehirn noch vorzüglich. Es war zunächst für meinen eigent­lichen Rache­plan Zeit gewonnen. In einem Staat, wo selbst für Fahrradschläuche eine Dring­lichkeitsbe­schei­nigung vorgelegt werden musste, worauf man einen Bezugsschein erhielt, aber noch lange nicht einen neuen Fahrradschlauch, in solch einem Staat hatten selbst die Bullen Schwie­rigkeiten, Ersatzschläuche für vier Autoreifen heranzuschaffen.

Ich kam also zunächst einmal wieder in meiner Baracke unter. Allenthalben murrten auch schon wieder die Kinder. Hatte man doch nun erfahren was von den gestrigen Versprechun­gen zu halten war. Von wegen niemandem würde etwas passieren. Ein Versprechen gebro­chen, was würde aus den anderen? Die neuen Erzieher (?) machten kaum den Eindruck, als würden sie uns menschlicher, d.h. wie Kinder behandeln. Erst war es ja nur ein Gedanke gewesen, der mich beschäftigte, wie ich mich für das angetane Unrecht rächen könnte. Dann aber, als alle Jungen und Mädchen draußen saßen und ihre Schuhe, als Beschäftigungsthera­pie oder auch zur Strafe putzen mussten, ging mir ein Licht auf. So hell wie Osram! Wie man damals zu sagen pflegte. Das hornissengestochene Monster sah schon wieder ganz leidlich aus. Er hatte schon wieder menschliche Züge angenommen, dank der sich selbsthelfenden Natur. Der Junge hatte etwas mehr Anteilnahme von Seiten der Bullen erwartet, als er seine Version, wieso er mitgeprügelt habe, darlegte. Uns erstmal aus dem Wald gelockt wurden keine Gründe akzeptiert, die die Meuterei rechtfertigten. „Du siehst doch, dass deine Erzieher recht hatten als sie sagten, dass die Natur sich immer selbst zu helfen weiß,“ wurde er beschie­den. Auf so wenig Verständnis für seine erlittene Pein stoßend begann er zu schmol­len. Mürrisch ließ er seine angestaute Wut an der Schuhwichse und den zu putzenden Schu­hen aus. „Dass ihr mir ja auch die Absätze und Stege gut eincremt. Ihr wisst doch, dass Wasser der größte Feind des Leders ist, dem wollen wir doch, wenn möglich, keine Angriffs­fläche bieten, oder?“ beaufsichtigte einer der neuen Erzieher (?) das Schuheputzen draußen auf dem Hof. Diese fast kiloschweren Schuhwichsdosen, die jedes Kind erhielt, enthielten irgend so ein traniges, schleimiges Zeug, was man wirklich nur mit dem besten Willen mit der heutigen Schuhcreme vergleichen konnte. Alte Lappen damit getränkt, um einen Stock gewickelt, ergab das tranige Zeugs eine schöne Fackel. Gespielt hatten wir schon damit. „Wann kommt denn nun ein Arzt, um sich deinen Stich mal anzusehen?“ hänselte ich den leidgeplagten Bengel. Wütend schaute er mich an, „hier kannste verrecken und die holen keinen Arzt!“ schrie der Junge, warf seinen Schmiertopf und Cremebürste hin, rannte heulend davon. Irgendwie ging uns das allen an die Nieren. „Ich bin hier ja bald weg, Gott sei Dank! Es geht mich ja auch nichts weiter an, aber glaubt ihr etwa, dass sich hier viel ändern wird?“ Damit begann ich einen alten Lappen um einen Stock zu wickeln, nahm aus einem paar Schu­he die Schnürsenkel heraus, schnürte damit den Lappen am Stock fest, stocherte mit dem so umwickelten Stecken in einer Schuhwichsdose herum, und fragte die herumsitzenden Lei­dens­genossen, ob sie sich noch an unsere Spiele mit den selbstgebastelten Fackeln erin­nern könnten. „So was macht doch nur im Dunkeln Spaß“, hörte ich einen sagen. „So?“ Eine Dose in die Linke, die Cremebürste in der rechten Hand, trat ich an die am nächsten stehende Barackenwand und begann diese wie ein Maler anzustreichen. Noch war überhaupt kein Begreifen in den Augen der zuschauenden Kinder zu erkennen. Erst als ich den gesamten Inhalt der Dose an der Wand verschmiert hatte, meine kalte Fackel gegen die Wand hielt und fragte: „Was würde wohl geschehen, wenn ich jetzt ein brennendes Streichholz an die Fackel halte?“ begann es bei den meisten zu dämmern. Ja, ich sah regelrecht die Lichter bei ihnen aufgehen. Ich hatte den übrigen, bei meiner Ehre, wirklich nicht empfohlen mit ihrer Schuhwichse ebenfalls so rumzuaasen.

Selten habe ich Kinder meines Alters mit solch einem Eifer arbeiten sehen. Zuerst waren es meine Ex-Reisegefährten, die damit begannen, dann immer mehr, bis sie sich schließlich fast darum rauften eine freie Fläche an der Holzwand zu finden, wohin sie den Inhalt ihrer Dosen schmieren konnten. „He, he, es gibt doch eine ganze Menge Wände hier. Warum nur diese eine? Ihr wollt doch Nägel mit Köpfen machen, oder!?“ Ich wollte ja nur nicht, dass die Kin­der sich stritten und … alle Wände schön gleichmäßig aussahen.

Ich begab mich kackfrech ins Büro.

Meine Leidensgenossen sahen dies auch sogleich ein. Sie verteilten sich, ohne dass einer das Kommando übernahm. Das lief ja bestens. Ich begab mich kackfrech ins Büro, wo die erreg­ten Bullen nervös rauchend herumsaßen und mich bitterböse anschauten. Tja, wenn Blicke töten könnten. Zwar gab es in diesem Teil Deutschlands die Todesstrafe, aber doch nicht ohne Gerichtsurteil.[3] Und auch nicht gegen Kinder. „Was gibt’s – was willst du?“ „Ich wollte nur mal fragen, ob wir heute noch losfahren, oder ob ich meine Sachen für die Nacht wieder aus­packen kann?“ fragte ich ganz demütig. „Du hältst dich bereit. Du wirst hier keine einzige Nacht mehr verbringen!“ wurde ich angefaucht. Wie Recht sie doch hatten. Keiner würde hier mehr auch nur noch eine Nacht verbringen! Nie mehr! Besser konnte ich ja wohl kaum jeman­den von meiner Unschuld überzeugen. Als es nämlich an allen Ecken und Enden zu brennen begann, war ich ja nachweislich im Büro bei den Bullen. Das Feuer war noch gar nicht bis zum Büro vorgedrungen, da sprangen die Typen hoch als würde es unter ihren Bullenärschen schon brennen.

„Schschuuulllzzzz! Was ist denn das schon wieder für eine Sauerei?“ damit wurde ich am Genick gepackt und aus dem Büro geschleift. Immer ICH!

War das Schön! Die Bullen auch mal sprachlos zu sehen. Das Feuer an sich hatte ja noch einen ganz tollen Nebeneffekt.

„Schschuuulllzzzz! Was ist denn das schon wieder für eine Sauerei?“

Vor Wochen schon waren wir Heimkinder angehalten worden, in der Umgebung immer mit einem Sack unterwegs zu sein, um alle Kastanien und Eicheln im Wald aufzusammeln. Diese sollten dann an den Dresdner (?) Zoo abgeliefert werden. Für die Tiere dort. So lagerten zig Zentner trocknender Kastanien und Eicheln vor sich hin in einem Raum und warteten darauf abgeholt zu werden. Das Feuer nun ließ diese Waldfrüchte platzen. Das klang beinahe so, als befände sich eine kleine Armee im Gebäude und schoss aus allen Rohren. Bis die Bullen das gecheckt hatten verging eine geraume Zeit. Zunächst einmal suchten sie mit gezogenen Waf­fen Deckung. Das zweite Fahrzeug, welches diesmal einer der neuen Erzieher mitgebracht hatte, war unterwegs um einen Satz neuer Reifen für den Bullenwagen zu besorgen. Der konnte gleich wieder umdrehen, um die Feuerwehr zu holen. So dauerte es ziemlich lange bis die Feuerwehr endlich anrückte. So hatten die Gebäude genügend Zeit sich von dieser Bild­fläche zu verabschieden. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es ohnehin nicht gut gewesen wäre, dort die Jugend im Geiste des Kommunismus zu erziehen, wo eventuell noch der Geist der alten Hitlergefolgschaft drin wohnte. Wurden doch vor wenigen Jahren noch BDM-Mädchen dort zu Köchinnen ausgebildet.

In einem Punkt behielten die Bullen allerdings Recht. Ich kam tatsächlich in ein ganz anderes Heim als die übrigen Kinder.

Irgendwie war ich seit den Bombenangriffen auf Königsberg frühzeitig zum Erwachsensein gezwungen worden.

Vorläufig zumindest. Es musste den Behörden ganz schön Kopfzerbrechen bereitet haben, uns 70 Kinder irgendwo unterzubringen. Das schöne große Gelände in Dresden-Hellerau wurde ja zum Zeichen der Völkerverständigung und der Solidarität für die von den amerikanischen Aggressoren zu Waisen gemachten koreanischen Kriegskinder belegt. In einem Seitentrakt der Moritzburg (ja, Sie haben richtig gelesen, in DER Moritzburg[4] bei Dresden) wurden wir zunächst alle untergebracht. Ich natürlich abgesondert von den anderen gehalten. Vier Tage lang dauerten die Verhöre an. Ich habe nie erfahren können, ob mich jemand dahingehend belastet hat, dass ich als der Brand-Anstifter galt. Am fünften Tag wurden eigens für mich kleine Person zwei Erwachsene Männer abgestellt, um mich nach … ja, richtig, … nach Leip­zig zu bringen. Warum nicht gleich so? Warum hatte man mich eigentlich so weit weg ver­schickt, wenn es doch in Leipzig auch ein Heim gab? „Bilde dir nur nichts ein! Dort, wo du jetzt hinkommst, wirst du keine Gelegenheit zum Ausreißen bekommen!“ meinte der redse­ligere von den beiden Männern mir allen aufkommenden Mut nehmen zu müssen. „Dort ist noch keiner auch nur ein paar Hundert Meter weit bei einem Fluchtversuch gekommen!“ prophezeite er mir. Herrschaften, reizt mich bloß nicht! Schulz mochte das Wort „unmöglich“ überhaupt nicht. Aus dem Alter, wo ich noch glaubte, dass das Männchen im Radio doch mal rauskommen müsste, um Pipi zu machen, oder so, war ich längst raus. Irgendwie war ich seit den Bombenangriffen auf Königsberg frühzeitig zum Erwachsensein gezwungen worden. Nachdem ich unseren Volksempfänger auseinander genommen hatte und feststellen konnte, dass darin gar niemand war, begann ich wissensdurstig zu werden. Ich hatte gelernt, dass gerade das unmöglich Erscheinende am leichtesten zu bewältigen war. Wie sonst hätte ich den Einmarsch der Sowjettruppen und die vier darauf folgenden Jahre ohne Lebensmittel­karten oder anderweitiger Hilfe überleben können?

Fußnoten

[1] Bambule, krawallartiger Protest von Häftlingen, Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Berlin, New York, 199923 Der Titel dieses Kapitels ist dem Fernsehfilm über die Heimkampagne entlehnt https://de.wikipedia.org/wiki/Heimkampagne. Text: https://www.wagenbach.de/buecher/titel/194-bambule.html . Es handelte sich m.W. um das erste Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte, dass die Lage der Kinder und Jugendlichen in den Heimen in staatlicher, meist kirchlicher Verantwortung die Chance hatte, öffentlich wahrgenommen zu werden. Heimkinder ohne die Vitalität von Schulz hatten kaum Chancen, sich dem Heimalltag immer wieder und teilweise erfolgreich zu entziehen. Im Hintergrund der Kampagne stand der Versuch politischer Instrumen­talisierung der Heimkinder. Dennoch hätte der Film die erforderliche Diskussion um die Bedingungen der Heim­erziehung anregen können. Doch die Heimkinder hatten auch damit wieder einmal Pech: Die ARD wollte den Film am 24. Mai 1970 ausstrahlen. Intendant Helmut Hammerschmidt setzte ihn jedoch nach Meinhofs Teil­nahme an der Baader-Befreiung (14. Mai) trotz Protesten von 122 SWF-Mitarbeitern ab. Erst 1994 wurde er gesendet. https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrike_Meinhof#Heimkampagne . Die Behandlung des Themas im späteren Verlauf (Runder Tisch Heimkinder unter der Moderation von Dr. Antje Vollmer) erwies auch weiterhin den Unwillen von Politik und Gesellschaft, sich ernsthaft mit Kindern zu beschäftigen, die Opfer von staatlichen und kirch­lichen Anpassungsversuchen geworden waren. https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerschlacht_bei_Leipzig

[3] Das war anders: „Wir sind nicht davor gefeit, daß wir mal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüßte, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzen Prozeß. Weil ich Humanist bin. Deshalb hab’ ich solche Auffassung. /…/ Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“ Erich Mielke, zitiert in der Ausstellung im Stasi-Museum Runde Ecke, Leizig, http://www.runde-ecke-leipzig.de/ Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2554638522/in/album-72157605456895559/

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Moritzburg_(Sachsen)

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf

Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf

Kapitel 4,  17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/

04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2

Kapitel 5, von Heim zu Heim

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/

PDF: 05-von-heim-zu-heim

Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/

06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen

Kapitel 7, Lockender Westen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/

PDF 07-lockender-westen

Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/

PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser

Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/

PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin

Kapitel 10, Bambule

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/

PDF: 10-bambule

Wie geht es weiter?

Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude