Dierk Schaefers Blog

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« Kap. 37 f

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Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

Siebenunddreißigstes Kapitel

Zwei große Dinger parallel

So sitze ich nun vor einem PC und haue wieder im Zweifingersuchsystem in die Tasten. Das fällt mir jetzt umso leichter, weil sich der Kreis bei mir zu schließen beginnt. Dass dies jemals der Fall sein könnte, habe ich mir zu Beginn meiner Aufzeichnungen noch nicht einmal träumen lassen.

Die Vertreibung aus meinem Geburtshaus in der Nähe von Königsberg. Aus Königsberg generell und meine Rückkehr dorthin. Zwar nur mit einem Visum ausgestattet hatte ich das unwahrschein­liche Glück, in das Innere unseres kleinen Häuschens in Neudamm sehen zu können. Jedoch um diesen Kreis zu schließen, muss ich hier noch ziemlich viel Aufklärungsarbeit leisten. Bin ich doch wieder einmal völlig aus der Reihe getanzt in meiner Erzählung. Alles was ich bisher geschrieben habe, schreiben werde, ist ohne weiteres von mir belegbar. Sie lesen hier keinen Roman! Nur, hier taucht bei mir die Frage auf: wollen die Menschen überhaupt erfahren, wie ein Mensch zum Ver­brecher wird? Ich meine damit das Vorspiel. Alles im Leben hat ein Vorspiel. Nicht nur beim Sex. Was wäre ein Buch ohne Vorspiel? Um zum Höhepunkt zu kommen, muss der Kopf einge­schaltet werden. Zum Vorspiel gehört meines Erachtens auch, dass ich Ihnen meine Beweg­gründe zum Verfassen dieses Buches darlege. Jetzt kann ich Ihnen ja auch gestehen, dass ich damals versäumt hatte, meinen Kopf einzuschalten, als ich mich den Vorschlag von Harry einließ. Puh! Ich hoffe, ich habe wieder die Kurve erwischt, wo ich bei meiner Erzählung aus der Bahn gekommen bin.

Geiz ist geil, sagt ein moderner Werbeslogan. 1990 war dieser Spruch noch völlig unbekannt. Ich aber war da bereits geizig. Ich sparte mir sogar das Denken. Das Nachdenken darüber, wozu ich mich da verpflichtet hatte. Mein Gewissen beruhigte ich dahingehend, indem ich mir sagte: „Dieter, du bist ja nur der Fahrer“. Eine Waffe in die Hand zu nehmen, andere gar damit zu bedrohen, war so gar nicht mein Ding. Hatte ich doch selbst schon als Kind am eigenen Leibe spüren müssen, wie man sich in solch einer bedrohlichen Situation fühlt. Ich meine damit, von einer Waffe bedroht zu werden.

Das große Projekt

Vorläufig konnte ich [mich] noch durch ein anderes Projekt ablenken, welches ich mit einem Detlev Kaufmann in Angriff genommen hatte. Dazu war allerdings eine Menge Anfangskapitel notwendig. Meine Wut darüber, von meinem Ex-Geschäftspartner reingelegt worden zu sein, war noch nicht verraucht, da traf ich in der City zufällig wieder auf einen ehemaligen Bekannten aus dem Knast und stolperte in die nächste Abzockfalle! Im Knast hatte dieser Mann schon allenthalben für Aufmerksamkeit gesorgt. War er doch der einzige Strafgefangene, der doch tatsächlich ständig mit Zivilklamotten, mit Schlips und Kragen, über die Flure lief. Fast immer trug er dabei auch noch irgendeinen Akten­ordner unter dem Arm. Mister Wichtig wurde er deshalb schon von den übrigen Gefangenen genannt. Durch Tricksereien, die er sich aus den einschlägigen Gesetzesbüchern herausgelesen hatte, hatte er sich diesen Sonderstatus übers Gericht erkämpft, dass er seine Privatklamotten auch im Knast tragen durfte. Intelligente Menschen hatten mich schon immer beeindruckt. Deshalb hatte er leichtes Spiel, mich für seine Geschäftsidee zu begeistern. Schnell hatte er gecheckt, dass ich finanziell ganz gut da stand. Für sein Vorhaben war ich genau der richtige Mann. Er hatte das Know-how, ich konnte mit einer ordentlichen Finanzspritze seine Idee verwirklichen. Wenige Tage später schon holte ich ihn mit meinem Auto vom Knast ab. Er wurde nach Verbüßung von 2/3 seiner Strafe entlassen. Im Gefängnis selbst hatte er nie eine Hand gerührt, um sich mit primitiver Arbeit etwas zu verdienen. In den letzten Monaten seiner Haft hatte er den Freigängerstatus erreicht, hatte im Büro seiner Schwester einen Job angenommen. Beinahe hätte ich umsonst vor dem Gefängnistor auf ihn gewartet. Seine Schwester hatte nämlich nie die fälligen Beiträge an die Gefängnisverwaltung abgeführt, die nun einmal erhoben werden, wenn ein Gefangener außerhalb der Anstalt arbeitet. Irgendwie schaffte er aber auch diese Hürde.

Schon am nächsten Wochenende fuhr ich mit meiner Familie, Helga, mein Sohn und dessen Freun­din nach Amsterdam. Bis nach Essen folgte uns seine Schwester mit ihrem klapprigen Ford Capri. Dort bog sie dann mit ihrem Bruder in Richtung Düsseldorf (Köln?) ab. Wir setzten unseren getarnten Familienausflug gen Amsterdam fort, während Detlev sich bei einer Spezialmesse umschauen wollte. Er hatte sich schlau gelesen. Auf besagter Messe wurden die neuesten Modelle von Fotokopierern vorgeführt. Solch ein Gerät benötigten wir unbedingt, um unsere Geschäftsidee umzusetzen. Ich hätte zu der Zeit gut und gerne jeden Tag ein Kilo Haschisch an den Mann brin­gen können, holte aber nur vier bis fünf Kilo pro Fahrt. Und das zweimal im Monat. Mein Dealer in Amsterdam wusste wohl, dass ich ohne weiteres eine größere Menge abnehmen könnte, wenn ich nur wollte. Deshalb machte er mir einen Vorschlag. Sollte ich mich dazu ent­schlie­ßen können, Mengen in der Größenordnung ab 20 Kilo abzunehmen, garantierte er mir die Lieferung frei Haus nach Deutschland. Bei solchen Dimensionen jedoch schreckte ich zurück.

Zunächst einmal durfte ich die Unkosten finanzieren, die bei Detlevs Schwester anfielen. Sie betrieb ein Übersetzungsbüro in der City von Hannover, wo in einem zweiten Raum Detlev selbst eine Zei­tung herstellte und zu vertreiben versuchte. Beide Geschäfte gingen aber nur mit sehr mäßigem Erfolg. Ich jedenfalls war von seiner Geschäftsidee dermaßen begeistert, dass ich die Unkosten des bestehenden Büros übernahm.[1] Dieses Büro war enorm wichtig, um überhaupt ins Geschäft zu kommen.

Ein Fotokopierer für 80.000,00 DM

Die erste Firma, von der Detlev den begehrten Fotokopierer beziehen wollte, machte allerdings einen Rückzieher. Die hatten natürlich bei diesem 80 000 Mark Projekt, wenn auch nur auf Leasingbasis, die Kontenbewegungen angeschaut. Hindernis erkannt, Hindernis beseitigt. Ich sorgte mit Hilfe von Helga und deren Familienmitgliedern für einen regen Geldfluss auf dem Konto von Detlevs Schwester. Ein paar Wochen später eine andere Firma, die das gleiche Kopiergerät vertrieb, und wir sollten ein derartiges Gerät geliefert bekommen. Die nächste Hürde musste noch genommen werden. Wir benötigten Spezialpapier, welches den echten DM Scheinen am nächsten kam. Gar nicht so einfach da ran zu kommen, kann ich ihnen sagen. Ab einer gewissen Prozent­zahl[2] stand das Papier überall auf dem Index, wo nicht gleich jeder bestellen konnte. Was also tun? Über unseren bestehenden Verlag als Firma eingetragen bestellten wir europaweit bei Herstel­lungs­firmen Muster ihrer Produktionspalette. Das neu herausgekommene Geld sollte ja, so laut Bundesbank, fälschungssicher sein. Irgendeine Firma hatte dann in dem Album, welches wir erhielten, ein Papier dabei, das in etwa 75 % der Kriterien erfüllte. Um aber nicht aufzufallen, bestellten wir zunächst vier verschiedene Muster in begrenzter Anzahl von Bögen bei der betref­fenden Herstellungsfirma. Bei der zweiten Bestellung waren es dann nur noch zwei verschieden­artige Papierbögen in einer schon größeren Menge. Auch diese Bestellung wurde uns anstandslos geschickt. Unsere letzte Bestellung enthielt nur noch die eine Sorte Papier, auf die wir scharf waren. Auch die von uns benötigte Menge wurde uns prompt geschickt.

Dann konnte es ja mit der Produktion losgehen, nachdem inzwischen auch der Kopierer eingetrof­fen war. Das ganze musste ich natürlich finanzieren, auch die Büromiete. Von meinen Drogenge­schäf­ten blieb mir kaum noch ein Gewinn übrig. Das alles geschah im Monat November 1990. Parallel zu meinem Versprechen, als Fahrer bei einem Banküberfall zu fungieren. Ich war zwar nicht gerade pleite, aber ein zusätzlicher Geldregen, dagegen hatte ich nichts einzu­wenden. Außerdem hatte ich ja ein Versprechen abgegeben.[3]

Bei meiner letzten Rückfahrt aus Amsterdam kommend gerieten wir in einen kilometerlangen Stau in der Höhe von Minden. Zu Hause angekommen fand ich auf dem Wohnzimmertisch einen Zettel vor. Darauf hatte mein Sohn geschrieben, dass ein gewisser Harry angerufen hätte. Er wollte es um sechs Uhr wieder versuchen. Ich solle mich bereithalten. Helga ging ins Schlafzimmer, ich dagegen blieb gleich im Wohnzimmer auf der Couch liegen. Schnurlose Telefone waren derzeit noch nicht erfunden. Nach nur knapp drei Stunden Schlaf riss mich das Telefongebimmel in die Wirklichkeit zurück. Harry stand schon mit Reisegepäck am Bahnhof und wartete darauf, dass ich ihn dort abhole. Wolfgang wartete auch schon startbereit zu Hause. Innerhalb einer halben Stunde war ich dann auch soweit, nachdem ich mir eine Dusche und Tasse Kaffee gegönnt hatte.

Das kleinere Ding

Kaum waren wir aus Hannover raus, auf der Autobahn, fragte Harry mich auch schon, ob ich was zum Kiffen mitgebracht hätte. Ich muss gestehen, ich weiß bis heute nicht, wie ich auf den Trichter gekommen war, ein kleines Sortiment von meiner Ware einzustecken, bevor ich losfuhr, die beiden abzuholen. Ich hatte acht Gramm in der Tasche, von dem am nächsten Abend wieder zurück in Hannover kein Krümel mehr übrig war. Ich selbst konnte zu dem Zeitpunkt dem Zeug überhaupt keinen Geschmack abgewinnen. Erst viel später im Knast widmete ich mich aus Gesundheits­gründen der Heilpflanze Cannabis. Ganz ehrlich! Erläuterung kommt später!

Während der Fahrt gen Osten kristallisierte sich heraus, dass die beiden weder ein bestimmtes Ziel, noch überhaupt einen Plan hatten, wo und wie der Banküberfall ablaufen sollte. Mein Vorschlag Frankfurt/Oder, wo ich mich etwas auskannte, wurde dann auch akzeptiert. Fast vierhundert Kilometer von Hannover entfernt, befuhren wir die Straßen der Stadt, hielten nach Bankinstituten Ausschau. Nicht nur die Begehbarkeit der Bank an sich musste berücksichtigt werden. Ein viel versprechender Fluchtweg war maßgeblich. Aber genau daran haperte es, wie wir bei unserer Erkundungsreise durch Frankfurt feststellen mussten. Das lag vor allem daran, dass eine Flucht­möglichkeit nur in einer Richtung gegeben war. Schließlich zog die Oder eine natürliche Grenze zu Polen. Etwas wirklich Geeignetes fanden wir in dieser Stadt also nicht. Harry und Wolfgang hatten gut reden, „dann versuchen wir es eben morgen woanders!“ Die beiden hatten ja noch nicht ein­mal soviel Geld in der Tasche, dass sie mir einen Spritkostenanteil geben konnten. Somit würde ich auch noch die Hotelkosten berappen können. Jetzt war ich nicht nur Fahrer der beiden, sondern auch noch der Versorger. Klar, dass sie auch noch Hunger hatten. Beim Haschisch­konsum bekommt man leicht einen Heißhunger. Bei der Gelegenheit, so dachte ich mir, könnte ich mich ja auch gleich mal wieder bei meiner Schwester in Eisenhüttenstadt sehen lassen. Eisenhüttenstadt[4] lag ja gleich um die Ecke.Hannover-Eisenhüttenstadt.jpg Ganze 27 Kilometer entfernt. Mein Vorschlag dorthin zu fahren wurde von den beiden angenommen. Blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig. Irgendwie waren sie ja von mir abhängig.

Bei meiner Schwester klingelte ich dann vergebens. Sie war auf Schichtdienst in der Großbäckerei der Stadt. Die Nachbarin, die uns nach vergeblichem Klingeln diese Auskunft gegeben hatte, beschrieb uns auch den Weg dorthin. Meine Schwester war erfreut, ihren Bruder wiederzusehen. Hatten wir uns doch seit 1955 nur ein paar Mal kurz gesehen. Bei der Beerdigung unserer Mutter 1973, als sie dafür ausreisen durfte, und später fuhr ich mit unserem Vater zweimal zu ihr in den Osten. 1989, als unser Vater starb, trafen wir uns auch kurz wieder. Erst die Wiedervereinigung brachte uns auch wieder näher. Welch ein Wunder also, dass sie sich von ihrem Dienst befreien ließ, eine Vertretung mobilisierte und mit uns zur Wohnung fuhr.

Sie ließ es einfach nicht zu, dass wir uns in Eisenhüttenstadt in einem Hotel einmieteten. Sie überließ uns ihr Schlafzimmer, nächtigte selbst auf der Couch im Wohnzimmer. Natürlich war in ihrer Gastfreundschaft auch ein von ihr serviertes Abendessen drin. Auf ihre Frage, was uns denn nach Eisenhüttenstadt getrieben hätte, so ganz ohne Anmeldung, erfand ich eine Geschichte, die ziemlich plausibel klang. Mit Wolfgang, der sich, wie erwähnt, gerne als Gentlemen kleidete, war meine Ausrede erklärbar. Angeblich wollten die beiden sich in Frankfurt ein Objekt ansehen, wo sie sich geschäftlich niederlassen wollten. So war es nur logisch, dass wir am nächsten Morgen wieder nach Frankfurt fahren müssten.

Nichts war vorbereitet.

Mir machte schon den ganzen Tag über während der langen Fahrt von Hannover nach Frankfurt eine Sache Kopfzerbrechen. War doch mit Harry im Vorfeld ausgemacht, dass er irgendwie an zwei Autonummernschilder kommen müsse, die an meinen Passat passen würden. Noch nicht einmal das hatte der erfahrene Knacki auf die Reihe bekommen. Ich selbst war für Diebstahl oder gar Einbruch so gar nicht geeignet, hatte ich doch zwei linke Hände, was das Technische anging. Also war mal wieder mein Improvisationstalent gefragt. War ich nicht darauf geeicht zu improvisieren?

Meiner Schwester gaukelte ich vor, zum einen, einen Verdauungsspaziergang zu benötigen nach ihrem frugalen Mahl und zum anderen wollten wir dabei noch das morgige Geschäft besprechen. „Gut!“ meinte mein Schwesterherz. Derweil würde sie für uns das Nachtlager in ihrem Schlafzim­mer vorbereiten und das Geschirr abwaschen. Es war bereits nachtdunkel draußen, als wir an diesem 19. November gegen 17 Uhr aus dem Haus gingen. Längst hatte ich erkannt, dass Harry und Wolfgang sich mehr um die Funktionalität ihrer Waffen Gedanken machten als um den ebenso wichtigen Rest, der bei einem Banküberfall von Nöten war. So langsam machte ich mir Gedanken darüber, worauf ich mich da bloß eingelassen hatte.

Zunächst einmal hatte ich eine Lösung für die fehlenden, falschen Autonummernschilder gefunden. In einer Drogerie erstand ich eine Rolle weißen Heftpflasters. Damit konnte ich das H in meinem Nummernschild zu einem I abkleben. Derzeit fuhren noch die meisten Ostautos mit ostdeutschen Kennzeichen durch die Gegend. Das I stand für Berlin. Aus den zwei Achten im Nummernschild ließen sich sehr gut zwei Dreien machen. Dann musste ich auch noch in die Tasche greifen, um den beiden je eine gestrickte Schimütze zu kaufen. Noch nicht einmal daran hatten sie gedacht, mit einer Maske in die Bank zu gehen. Das kennt, glaube ich, jeder, der schon mal einen Krimi gesehen hat. Bankräuber zieht sich seine Pudelmütze ins Gesicht, darin sind zwei Schlitze für die Augen rein geschnitten. Wenigstens hatten die beiden an Handschuhe selbst gedacht. Der Fin­gerabdrücke wegen. Sie verstehen? Jetzt glaubte ich, dass die Ausrüstung stimmte. Nur einen richtigen Plan hatten die beiden immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. Zunächst einmal taten sie, wieder bei Schwester in der Wohnung, nichts anderes, als was sie schon während des ganzen Tages getan hatten. Sie rauchten einen Joint nach dem anderen von meinem Vorrat, den ich bei mir hatte. Dazu stand noch eine große Flasche Wodka und reichlich Bier auf dem Tisch. Da ich mir als Fahrer der Verantwortung bewusst war, schlürfte ich im Laufe des Abends gerade mal an zwei dünnen Weinschorlen. Meine Schwester bat mich mal nachzuschauen, ob es wohl so recht wäre, wie sie ihr Schlafzimmer für drei zurechtgemacht hätte. Dort hatte ich schon mit Helga und meinem Sohn während der Sommerferien die Nächte verbracht. Beim Besichtigen des Schlafzim­mers fiel rein zufällig mein Blick durchs Fenster.

Nehmen wir doch ganz einfach die Dresdner Bank, direkt vor der Haustür.

Natürlich! Das war es! durchfuhr es mich wie ein Blitz. Wie schon in den Ferien konnte ich durchs Fenster einen Teil der Bank erkennen, die schon zu Ostzeiten dort ansässig gewesen war. Jetzt allerdings prangte dort in greller Leuchtschrift der Name einer bekannten Bank. Dresdner Bank!

Ich musste an diesem Abend ein zweites Mal meine Schwester anlügen. Unter einem an den Haa­ren herbeigezogenen Vorwand brachte ich die beiden noch nicht ganz besoffenen Harry und Wolfgang dazu, mir noch mal nach draußen zu folgen. Erstaunt folgten sie mir sogar gehorsam. Nicht schnurstracks auf die Bank zugehend, meine Schwester hätte uns ja sehen können, führte ich die beiden zu der Bank. Die Lage war einfach ideal für unser Vorhaben! Der Spaziergang in der frischen, kalten Novemberluft machte die vollgekifften und angesoffenen Köpfe meiner Tatgenos­sen wieder aufnahmefähig. Sofort baldowerten wir einen geeigneten Fluchtweg aus. Ich dachte gar nicht daran, direkt vor der Bank mit laufendem Motor auf meine Komplizen zu warten. Dabei hätten allzu viele Passanten in dieser kleinen Einkaufsstraße Gelegenheit, sich Einzelheiten an meinem Auto zu merken. Hinzu kam noch, dass sich die Bank am Ende einer Sackgasse befand. Vom Sommer her kannte ich die Bauweise dieser erst in den 50er Jahren aus dem Nichts erbauten Stadt. Fantasielos waren sämtliche Plattenbauten immer im gleichen Stil angelegt. Mir das Vorbild des Hauses, in dem meine Schwester wohnte, vor Augen haltend begingen wir den vorgesehenen Fluchtweg. Wie nicht anders zu erwarten, waren die vorderen Eingangstüren nicht abgeschlossen. Die aus Plastik bestehenden Schlüssel und Schlösser hätten nur allzu oft ausgewechselt werden müssen. Ins Haus zu kommen war also kein Problem. Vier oder fünf Stufen hoch, an zwei Woh­nungs­türen vorbei, vier, fünf Stufen runter, und man stand vor der Hintertür. Die auch nicht abgeschlossen war. Noch nicht einmal am späten Abend, sowie in der Nacht. Cirka 50 Meter Kiesplattenweg, und dort würde ich bei laufendem Motor und angelehnten Autotüren auf meine Kumpane warten. Soweit der erste Teil unseres Fluchtplanes, den ich so bestimmte. Die beiden, die mich ja lediglich als Fahrer des Fluchtautos engagiert hatten, waren vollauf begeistert von meinem Plan.

 

Achtunddreißigstes Kapitel

Der Banküberfall

Ich fragte mich wie die beiden nach so langer Alkoholabstinenz im Knast diese Mengen von Alko­hol vertragen konnten. Ich selbst hätte mich schon zehnmal bekotzt. Zumal ja auch noch das Dope hinzukam, welches sie sich da reinzogen. Es störte sie gar nicht, als ich sie ermahnte am nächsten Morgen fit zu sein und die Nacht um 8 Uhr zuende wäre. Ich jedenfalls entzog mich der Säufer­runde und machte lieber Matratzenhorchdienst. Meine Schwester, die ich gebeten hatte, uns gegen acht Uhr zu wecken, hatte uns einen reichhaltigen Frühstückstisch zubereitet. Als wir gegen neun Uhr aus dem Haus gingen glaubte sie, dass wir einen Termin in Frankfurt hätten. Wir erweckten bei ihr sogar den Eindruck, dass wir im Laufe des Tages wieder zu ihr zurückkehren würden. Der Ein­druck wurde noch dadurch verstärkt, indem wir unsere kargbestückten Reisetaschen bei ihr stehen ließen. Ursprünglich war ja auch vorgesehen, dass ich die beiden Bankräuber unmittelbar nach Vollendung der Tat mit der Beute an der Hintertür meiner Schwester absetzen würde, ich selbst in Kauf nahm, in eine Kontrolle zu geraten. Was konnte mir schon passieren, wenn man bei mir im Auto weder einen zweiten Mann noch eine Geldbeute vorfand? Am Abend, als dieser Plan in mir reifte, hatte ich weder die Jahreszeit noch einen anderen Umstand in Erwägung gezogen. Ich wunderte mich nur dass meiner Schwester der Gestank nicht auffiel, den die beiden Kiffer in ihrem Wohnzimmer hinterließen.

„Armoured!“ stand ganz groß an der Seite des Wagens.

Gleich nach den zwei Brötchen drehten die beiden sich eine Tüte, um sich aus der realen Welt zu beamen. Durch eine große Toreinfahrt erreichten wir das Innere des Karrees, wo sich die Bank befand. Allerdings die Rückseite der Bank, was ja auch so vorgesehen war, damit niemand sehen konnte, aus welchem Auto die Bankräuber ausgestiegen waren. Vorher waren wir noch zu dem Sportflugplatz etwas außerhalb der Stadt gefahren. Dort, völlig abgeschieden, beklebte ich mein Nummernschild wie oben beschrieben mit dem weißen Heftpflaster um eine ganz andere Nummer vorzutäuschen, den Wagen fuhr ich über eine Regenpfütze, bespritzte mit dem Schlammwasser das auffallend weiße Heftpflaster ordentlich mit dem Schlamm, um das ganze echt wirken zu lassen. Danach konnte man selbst bei genauerem Hinsehen nicht mehr erkennen, dass an dem Num­mern­schild manipuliert wurde. Alles sah schön echt aus. Unser vorgesehener Zeitplan wurde dann aber ganz ordentlich durcheinander gebracht. Gut vorbereitet, die Pudelmützen waren für einen derartigen Novembertag ohne weiteres angebracht, fuhr ich also in die Nähe der Bank. Fragte die beiden noch mal, ob sie sich den Fluchtweg auch gut eingeprägt hätten, den sie zu Fuß zurück­legen müssten, bevor sie mein Auto erreichten, da erwartete uns auch schon eine Überraschung. Am Hintereingang der Bank, die wir vorhatten um etwas Bares zu erleichtern, stand ein Geldtrans­porter. Was solch ein Gefährt zu bedeuten hatte, wusste jedes kleine Kind. Es stand ja auch ganz groß an der Seite des Wagens: „Armoured!“ Wir konnten dies im Vorfeld ja nicht ahnen, dass gerade um diese Zeit bewaffnete Geldabholer mit einem gepanzerten Wagen vor Ort sein würden. Mit Sicherheit wäre es zu einer Schießerei gekommen, wären meine Kumpels jetzt von vorne in die Bank eingedrungen, um abzukassieren. Also hieß es warten. Um ihr Herz wieder aus der Hose zu holen, baten sie mich, ihnen doch ein Mutwässerchen zu besorgen. Um nicht unnötig aufzufallen, fuhr ich zunächst einmal in eine Seitenstraße und holte vom Kiosk gegenüber der Bank eine Fla­sche Wodka. Ohne dass ich mich daran beteiligen musste, schafften die beiden in Null­kom­ma­nichts die Flasche zu leeren. So nebenbei sorgten sie auch noch dafür, dass meine acht Gramm Haschisch so langsam zur Neige gingen. So langsam fragte ich mich, ob wohl alle Bankräuber sich derart betäubten, bevor sie trauten eine Bank zu überfallen. Tags zuvor hatte ich ja auch noch versucht, den beiden ein paar Sätze in russischer Sprache einzupauken, um den Eindruck zu erwecken, hier seien Osteuropäer am Werk. Selbst wenn mir dies Tags zuvor gelungen wäre, ich glaube kaum, dass sie bei ihrer Aktion noch dazu in der Lage gewesen wären. Bei der Gerichtsver­handlung erfuhr ich erst, dass Harry zwei Anläufe benötigte, um über den Bankschalter zu jumpen. Seine Koordinationsfähigkeit hatte um einiges gelitten. Ich hatte den beiden auch klargemacht, dass sie sich auf keinen Fall länger als zwei Minuten in der Bank aufhalten dürften. Diese Zeit hatte ich ihnen vorgegeben, weil ich die Strecke zum einzigen Polizeirevier abgefahren hatte. Unter den allergünstigsten Umständen, die man immer in Betracht ziehen musste, konnte die Polizei in zwei­einhalb Minuten am Ort des Geschehens eintreffen. Das war jedenfalls meine Überlegung.

Auch das noch! Eine ganze Horde Kindergartenkinder.

Zunächst aber kam ich noch einmal in Bedrängnis. Der Geldtransporter war weggefahren, ich hatte die beiden abgesetzt, wollte zum vereinbarten Treffpunkt fahren. Beim Begehen am Abend war die Absperrung noch nicht vorhanden. Aber jetzt! Im Zuge des Geldflusses im Rahmen Wie­der­aufbau Ost war man dabei, auch in Eisenhüttenstadt die maroden Häuser zu sanieren. Aus­gerechnet auf unserem Fluchtweg war die Sanierung in vollem Gange. Angefangen hatte man damit, die von Bäumen bewachsenen Flachdächer zu entrümpeln. Unten, auf dem Plattenweg, hatte man vorsorglich abgesperrt. Was ja auch der Vorschrift entsprach. Nur ich musste jetzt wie ein Verrückter kurbeln, um auf diesem engen Weg wenden zu können. Hatte ich doch lediglich zwei Minuten und ein paar Sekunden laut meiner eigenen Vorgabe Zeit, den vereinbarten Treffpunkt zu erreichen. Geschafft! Dann aber kam mir zu allem Überfluss auf meinem Umweg auch noch eine ganze Horde Kindergartenkinder entgegen. Zu meinem Glück hatten die Betreuerinnen ihre Kinder aber gut im Griff. Schnell machten die Gören mir bereitwillig Platz. Mir kam das ganze wie eine Ewigkeit vor. Dennoch musste ich noch eine unendliche Weile auf meine Kumpane warten. Im Rückspiegel sah ich sie auf unser Auto zu rennen. Soweit schien ja alles bestens geklappt zu haben.

Plan B war angesagt.

Rein ins Auto und ab! Kaum hatte ich den Wagen in Fahrtrichtung rangiert, da kam mir auch schon das nächste Hindernis entgegen. Den schmalen, asphaltierten Weg im Inneren des Karrees versperrte eine Frau mit ihrem Kinderwagen. Während sie sich nur sehr langsam dazu bequemte an die Seite zu fahren, traten mir die Schweißperlen auf die Stirn. Mich wie vorgesehen auf dem Weg zum Haus meiner Schwester befindend musste ich feststellen, dass jetzt ganz andere Umstände herrschten, als ich sie vom Sommer her in Erinnerung hatte. Die im Sommer grünen Bäume und Büsche im Karreebereich boten in dieser Jahreszeit überhaupt keine Deckung mehr. Längst hatte ich bemerkt, dass uns die Arbeiter auf dem Dach sehr gut mit ihren Blicken verfolgen konnten. Den Plan, die beiden hinter dem Wohnhaus meiner Schwester abzusetzen, konnte ich getrost ad acta legen. Plan B war angesagt. Einfach so, aus dem Bauch heraus!

Zwei Torbogen von meiner Schwester entfernt fuhr ich, dabei eine Unterbodenwäsche meines Wagens kostenlos in Kauf nehmend, mit Karacho auf die John Scheer Straße. An der Kreuzung, wo sich auch das Städtische Krankenhaus befand, parallel zu der Straße wo, wenn überhaupt, um diese Zeit längst die Polizei zum Tatort unterwegs sein musste, fuhr ich diesen entgegen. Ein paar hundert Meter weiter hatten wir auch schon die Peripherie der Stadt erreicht. An der Kreuzung warf ich einen Blick nach rechts, wo sich das Polizei- und Gerichtsgebäude befand. Dort konnte ich keine irgendwie gearteten Aktivitäten feststellen. Ich jedenfalls bog nach links ab. Wie später aus den Gerichtsakten ersichtlich traf die Polizei erst nach 12 Minuten bei der Bank ein. Meine Güte. Hätten wir das gewusst, wir hätten noch in die Hinterräume der Bank eindringen können und dort weitere Hunderttausende, die gerade aus dem Nachttresor zusammengezählt wurden, mitnehmen können. Oder doch nicht? Meine so angeblich cleveren Kumpane hatten ja noch nicht einmal an eine Plastiktüte gedacht, worin sie ihre Beute verstauen konnten. So gab ich ihnen in letzter Minute mein Verbandskissen aus dem Auto. Dieses musste ich aber vorher noch leeren. Stellen Sie sich mal vor, ich wäre in eine Verkehrskontrolle geraten und hätte dieses notwendige Utensil nicht vorweisen können. Das hätte mich mindestens 10 Mark Geldstrafe gekostet. Zum Glück gerieten wir in keine Verkehrskontrolle. Noch in Sichtweite der Stadt überquerten wir einen kleinen Hügel. Ich hielt an, entfernte die Klebestreifen an den Nummernschildern, um nicht doch noch aufzufallen. Ich nahm, ohne überhaupt einen Plan zu haben, die nächste Abzweigung nach links. So genau, wie ich es Ihnen hier schildere, habe ich es viel später noch nicht einmal der Staatsanwaltschaft erklärt. Tatsache aber ist, dass die Bullen sich vier Jahre lang die Köpfe darüber zerbrachen, wie wir aus Eisenhüttenstadt entkommen konnten. Diese Stadt lag genauso wie Frankfurt genau auf der Grenze zu Polen.

Die Aussicht in Geld wühlen zu können ernüchterte selbst Harry.

Man hatte sofort die Wasserschutzpolizei alarmiert, die daraufhin diesen Fluchtweg absperrte. Die beiden Ausfallstraßen in Richtung Frankfurt als auch Bautzen waren schneller dicht gemacht worden, als dass die Polizei bei der Bank selbst eintraf. Ich selbst wusste ja auch nicht so recht, wo ich mich eigentlich befand, als ich nach links abgebogen war. Was die Ossis damals als Straßen bezeichneten, wäre hier im Westen gerade mal als Feldweg der dritten Kategorie durchgegangen.

Anfangs winkten unserem Westkennzeichen [?] ja noch Feldarbeiter fröhlich zu. Dann aber landeten wir in einem Kiefernwaldgebiet. Ich befürchtete schon auffällig zu werden, wenn uns jetzt ein Fahrzeug entgegenkommen würde. Doch wir befanden uns in einem Gebiet, wo zumindest um diese Jahres­zeit keine Menschenseele etwas verloren hatte. Ich aber dachte in westlichen Maßstäben. Ich rechnete sogar damit, dass Hubschrauber eingesetzt werden könnten. Ich wusste aus Verwandt­schafts­kreisen, das sich etwa 50 Kilometer entfernt eine Hubschrauberstaffel befand. Um der Überwachung aus der Luft zu entgehen, parkte ich in einem sehr dichtbewaldeten Stück.

Wolfgang konnte meiner Argumentation folgen, Harry dagegen wollte jetzt den Macker heraus­hängen lassen. Er wollte unbedingt ausprobieren, wie sich so ein echter Schuss anhörte. Mit viel Überredungskunst konnte ich ihn jedoch davon abbringen. Ich konnte ihm klar machen, dass gerade in dieser Jahreszeit Förster unterwegs waren, um Bäume zu markieren, die in der Frostpe­ri­ode gefällt werden sollten. Und so ein Schuss könnte einen Waldbegeher auf uns aufmerksam machen. Erst richtig von seinem Vorhaben konnte ich ihn aber erst ablenken, als ich ihn fragte, ob er denn gar nicht wissen wolle, was sie bei dem Überfall erbeutet hätten. Wodka und Haschisch hatten schon völlig sein Hirn vernebelt. Die Aussicht in Geld wühlen zu können ernüchterte selbst Harry. Mein Adrenalinspiegel hatte sich schon seit dem Augenblick aufs Normalmaß gesenkt, als wir kurz hinter der Stadt meine Nummernschilder wieder in den Normalzustand versetzt hatten. Ein sichern­der Rundblick, dann setzten wir uns alle drei ins Auto. Ich breitete auf der Rückbank eine Decke aus und entleerte nun das zweckentfremdete, prallgefüllte Erste-Hilfe-Kissen.

Harry, der hinter den Bankschalter gesprungen war, während Wolfgang an der Eingangstüre der Bank stehen geblieben war, um die anwesenden Bankkunden sowie das Personal in Schach zu halten, hatte in seiner Gier sogar einige Rollen Fünfmarkstücke eingesackt. Zunächst verschaffte ich mir einen Überblick über die Gesamtsumme. Ich bitte den geneigten Leser darauf zu achten, was ich jetzt niederschreibe! Die Höhe der Beute betrug genau 153.750 DM!!! Warum ich dies betone? Nun, in der späteren Anklageschrift wurde uns vorgeworfen, dass die Dresdner Bank einen Verlust von genau 31.517,32 DM[5] erlitten hätte.

Seltsam, sehr seltsam!!! Dabei hatte doch jeder von uns nach der Beuteteilung schon 51.250 DM in der Tasche. Das heißt, ich hatte ein wenig mehr. Hatte ich mir doch erlaubt gleich die Unkosten, die ich bisher getragen hatte, abzuziehen und Harrys Schulden bei mir abzurechnen. Um die Diskrepanz zwischen den beiden Summen zu erklären bedarf es keiner großen Phantasie.

1.) Für den Fall eines Bankraubs steht in einer Versicherungsklausel, dass an einem geöffneten Bankschalter jeweils nur 15.000 DM Bargeld (+ 10%) vorrätig gehalten werden dürfen. Diese Vorschrift wurde erlassen, um den Anreiz für einen Raub so niedrig als möglich zu halten. Und eben o.g. Summe ist auch nur versichert. Es ist sehr selten, dass die Bank das geraubte Geld vom Räuber zurück erhält, sofern man diesen nicht unmittelbar nach der Tat samt Beute einfängt. Um den Schaden einigermaßen einzugrenzen hatte die Bank, um wenigstens den Versicherungsanteil erstattet zu bekommen für die beiden geöffneten Bankschalter die Phantasiesumme von 31.517,32 DM angegeben. Wobei ich noch erwähnen möchte, dass sich unter der Beute kein einziges Markstück, geschweige denn Pfennige befand.

2.) So meine zweite These: Die Bank hatte selbst Dreck am Stecken. Erst wenige Wochen bevor wir abkassierten war die DM im Osten als offizielles Zahlungsmittel eingeführt worden. Wer weiß schon wie die Banken bei der Umtauschaktion gekun­gelt haben. Wäre die tatsächliche Beutesumme angegeben worden, hätte die Bank nicht nur die Versicherungssumme nicht bekommen, sondern es hätte höchstwahrscheinlich eine genauere Überprüfung der Bankunterlagen stattgefunden. Dabei könnte ja so Einiges ans Tageslicht kom­men. Also hielt man sich lieber bedeckt. Selbst als ich knapp vier Jahre später der Staatsanwältin alle offen gebliebenen Fragen in allen Einzelheiten erzählte, weil alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, an meiner langen Haftstrafe ohnehin nicht mehr zu rütteln war, wurde der Sache nicht mehr nachgegangen. Hier bewahrheitet sich wieder mal ein Sprichwort: Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen.

Ich soll der eigentliche Boss der Aktion gewesen sein.

Bei der Aufteilung der Beute durch drei achtete ich peinlichst genau darauf, ob sich unter den Geldbündeln nicht etwa ein Sicherheitspaket befand. Die meisten Bedenken hatte ich bei den 200er-Scheinen, die dazu auch noch mit fortlaufenden Seriennummern versehen waren. Im Gegensatz zu meinen Komplizen hatte ich ja zuhause noch einiges an Rücklage. Da lag es nur Nahe, dass ich die gefährdeten Geldbündel für mich behielt. Angeblich, laut Propaganda, war das neue Geld ja fälschungssicher. Gerade deswegen wurde ja bei Einkäufen besonders auf größere Scheine geachtet. Ich konnte ja davon ausgehen, dass sich unter diesen Scheinen NOCH keine Fälschungen befanden. Schließlich arbeitete ja Detlev in Hannover noch an der Produktion unseres Geldes. Da kam diese Beute hier sehr zupass. Jedes Geschäft bedarf einer Investition. Detlev war so klamm, dass er weder die Büromiete, geschweige denn die Leasingkosten für den Kopierer, noch das nötige Papier finanzieren konnte. 2.000 Mark kosteten alleine die drei Farbpatronen, die gerade mal zur Herstellung von ca. 150.000 Mark reichten. Aber zurück zum eigentlichen Geschehen.

Das Geld war also aufgeteilt. Wobei Harry allerdings schmollte. Er meinte, dass er als Ideengeber einen größeren Anteil beanspruchen könnte. Dann frage ich mich nur, warum das Gericht zu dem Urteil kam, dass ich der eigentliche Boss der Aktion gewesen sei. Der Richter führte aus, dass die Nähe der Wohnung meiner Schwester zur Bank hin kein Zufall sei. Und da ich ja bereits im Som­mer dort einige Zeit verbracht hätte, hätte ich das Ganze schon damals ausbaldowert. Konnte aber gar nicht sein. Im Sommer war die ehemalige Ostbank nämlich geschlossen. Zu jener Zeit gab es allenfalls Container und Busse, die die verschiedensten Banken in Eisenhüttenstadt zum Kunden­fang aufgestellt hatten.

Wolfgang holte seine überdimensionale Magnum heraus.

Weil es auch nach zwei Stunden des Versteckspielens unter den Bäumen keinerlei Hubschrauber­ak­ti­vi­täten am Himmel gab, beschloss ich unsere Flucht in Richtung Hannover fortzusetzen. Ich wollte ja auch nicht unbedingt in der früh einbrechenden Dunkelheit in dem mir unbekannten Wald umherirren. Nach einer unendlich erscheinenden Fahrt auf einer Waldschneise stieß ich endlich auf einen Feldweg. Pardon, auf eine Straße. Es musste eine Straße sein. An ihr entlang führte jeden­falls eine Strom- Telefonleitung? Die musste ja irgendwohin führen. Mit viel Risiko verfolgte ich diesen Weg. Risiko deshalb, weil dieser Weg eigentlich mehr für Trecker geeignet war. Es war für meinen Passat unmöglich, die eingefahrene Fahrspur zu benutzen. Das Mittelteil der beiden Spurrillen war derart hoch, dass mein Passat darauf hängengeblieben wäre. So musste ich mich darauf konzentrieren, mit einem Reifenpaar auf dem verbliebenen Hügel in der Mitte der Fahrrille zu balancieren, während die beiden anderen Reifen an der linken Böschung für Höhenausgleich sorgten. Zu meinem Glück wuchsen keine Bäume an der Böschung. Lediglich Ginsterbüsche. Diese fast immergrünen und Gott sei Dank weichen Zweige peitschten gegen mein Auto, zer­schrammten mir den Lack. Noch Tage später fand ich bei der Autowäsche am Unterboden des Autos festgeklemmte Ginsterzweige. Nach wer weiß wie vielen Kilometern erreichte ich endlich eine asphaltierte Straße. Zivilisation war in Sicht. Und siehe da, bald darauf ein Hinweisschild nach Cottbus. In Cottbus angekommen suchte und fand ich einen Wegweiser nach Berlin. Um dorthin zu gelangen, dass heißt die Autobahn zu erreichen, musste ich mich noch durch die Rush Hour in der City durchkämpfen. Ganz schön anstrengend, zumal auch noch ein Platzregen, den die Scheibenwischer kaum schafften, runter kam.

Wolfgang auf der Rückbank beduselt vom Alkohol und Haschkonsum hing in seinem Sitz wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Doch wurde er plötzlich hellwach und überaktiv, als ich so nebenher erwähnte, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Polizeiauto befände. Sofort holte er aus seiner Reisetasche seine überdimensionale Magnum heraus.

Fußnoten

[1] Herr Schulz sagte mir [ca. Oktober 2010, ds], dass er über den dubiosen gemeinnützigen Verein (Cooperative Hilfe Niedersachsen e.V., Gemeinnütziger Verein] die Farbkopien der DM-Noten finanziert hatte. Sein Partner sei allerdings zu blöd für die Geldwäsche gewesen, so dass er in Süddeutschland aufgeflogen sei. [s. Kap. 42]

[2] Gemeint ist offensichtlich die Menge der Kriterien für Fälschungssicherheit bei Banknoten.

[3] Aus einem Mail von Dieter Schulz vom 25. Juli 2005: Noch hatte ich Auto und Führerschein. Beides hatten die Typen nicht, die an mich herantraten und fragten, ob ich wohl als Fahrer bei einem Bankraub mitmachen würde.

Herr Schäfer, Sie werden es vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen meine Beweggründe schildere, die mich dazu veranlassten JA zu sagen. Ich war ganz einfach frustriert. Frustriert darüber, dass das Arbeitsamt einem 50-jährigen keinen Job mehr vermitteln konnte. Ich konnte mir schlecht auf die Stirn schreiben „Jetzt zeig ich es euch allen mal, wozu ein 50-jähriger noch fähig ist!“ Abenteuer im Blut fiel es mir nicht schwer, JA zu dem Plan zu sagen. Aber was heißt Plan. Keiner der beiden hatte einen Plan. Kreativ wie ich nun einmal bin lief dann alles so ab, wie ICH es mir ausgedacht hatte.

[4] Karte: https://www.google.de/maps/dir/Hannover/Frankfurt+(Oder)/Eisenh%C3%BCttenstadt/Hannover/@52.331475,11.3142521,7z/data=!4m26!4m25!1m5!1m1!1s0x47b00b514d494f85:0x425ac6d94ac4720!2m2!1d9.7320104!2d52.3758916!1m5!1m1!1s0x4707982a02b5fb6f:0x42120465b5e3bc0!2m2!1d14.5505673!2d52.3472237!1m5!1m1!1s0x4707b885b42fafe3:0xe754b8581c20604e!2m2!1d14.6419022!2d52.1436615!1m5!1m1!1s0x47b00b514d494f85:0x425ac6d94ac4720!2m2!1d9.7320104!2d52.3758916!3e0

[5] Schulz gibt hier wie auch im Folgenden 31.517.32 DM an. Doch diese siebenstellige Zahl ist unlogisch, wie auch die durch Punkt abgesetzen zwei letzten Ziffern zeigen. Diese müssen Pfennige bedeuten.

Inhaltsverzeichnis _Inhaltsverzeichnis

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« IX

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 Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

 

Neuntes Kapitel

Aber nun wieder zurück nach Berlin

Knautschke, wohl das berühmteste Flusspferd des Berliner Zoos aller Zeiten. Es gibt bestimmt auch heute noch leichaltrige im Rentenalter, die sich an dieses unförmige Ungetüm erinnern können.[1]

Dem kleinen Jungen floss das Herz über, weil glück­lich

Ich konnte mich an Knautschke kaum sattsehen, war verliebt in dieses Tier. Wir hatten auch noch das Glück, dass gerade Fütterungszeit war. Ganze Brotlaibe wurden ihm in den weit aufgerissenen Rachen geworfen. Völlig unbeschwert genossen wir diesen Zoo­besuch. Bei solch einer Gelegenheit, wo einem kleinen Jungen das Herz überfloss, weil glück­lich, vergaß man ganz, dass man sich ja eigentlich auf der Flucht befand. Aber genau das waren ja unsere Beweggründe gewesen. Ein paar unbeschwerte Stunden zu erleben, außerhalb des militäri­schen Drills im Heim. Eigentlich waren wir schon recht bald wieder auf dem Boden der Tatsachen. Ohne festen Plan waren wir ratlos geworden, wie es nun weitergehen sollte. Wir durchstreiften Berlin in alle Richtungen. Wirkliche Grenzen innerhalb der Stadt gab es ja im Prinzip derzeit noch gar nicht. Wir sahen zum ersten Mal in unserem Leben schwarze Men­schen. An einem Flughafen – auch das war völlig neu für uns – marschierten sie in viel schmuckeren Uniformen als die Russen gemischt mit weißen Soldaten entlang. Die weißen Schnüre an ihren Schultern sowie die weißbehand-schuhten Hände, mit denen sie ihre Gewehre hielten, verliehen ihnen etwas von Vornehmheit. Erst viele Jahre später konnte ich in Moskau feststellen, dass auch die Russen so schöne Paradeuniformen anlässlich der Feier­lichkeiten auf dem Roten Platz trugen. In die Richtung unseren Weg fortsetzend, woher die schmucke Truppe gekommen war, standen wir auch bald vor dem Haupteingang des Flug­platzes. Ein schöner, großer, sauberer Platz. Wir staunten die herausgeputzten Pferde vor den Pferdedroschken an, die dort auf Fahrgäste warteten. Ich weiß bis heute nicht, wo wir uns damals eigentlich befanden. Ziel- und wahllos durchstreiften wir Berlin.

Diese Erinnerungen aufzufrischen wäre bestimmt sinnlos, bei dem Bauboom in und um Berlin. Manchmal trafen wir auf Schilder auf denen zu lesen war: „Sie verlassen den Westsektor Berlins“ oder aber auch: „Sie verlassen den Ostsektor…..“.[2]

Soviel wussten selbst wir schon, dass Berlin in vier Sektoren eingeteilt war.

In Deutsch und Russisch konnte ich es ja gut lesen. Bei den anderen beiden Sprachen konnten wir nur raten, dass dies das gleiche zu bedeuten hatte. Durch das ‚the’-Schriftbild einigten wir uns darauf, dass dies Englisch sein müsste. Blieb als letztes nur noch Französisch übrig. Soviel wussten selbst wir schon, dass Berlin in vier Sektoren eingeteilt war. Wir waren richtig stolz auf unsere Sprachkenntnisse. Eine richtig ausgelassene Stimmung aber wollte bei uns trotz der Freiheit, die wir genossen, nicht so recht aufkommen, nachdem wir durch vieles Rumfra­gen erfahren hatten, dass wir keine Chance hätten, von Westberlin direkt nach Westdeutsch­land zu kommen. Clever (?) wie ich war, rief ich sogar bei einer Behörde an, deren Telefon­nummer uns wiederum ein freundlicher Mensch gegeben hatte, erkundigte mich welche Aussichten bestanden, per Luftweg in den Westen zu meinem Vater zu gelangen. Als Minder­jähriger ohne den Beistand eines Elternteils gab man mir keine Chance. Hätte ich damals schon etwas mehr über die Kirche und deren Funktion gewusst, hätten wir es viel­leicht auf diesem Wege versuchen können, mit meinem Vater in Kontakt zu kommen. Bloß gut, dass ich damals noch nicht auf diese Idee gekommen bin. Ich hätte bei meinem Vater ein Fiasko aus­ge­löst, wie sich knapp zwei Jahre später herausstellen sollte. Seine spärlichen Briefe klangen ja immer sehr liebevoll und besorgt seinem Sohn gegenüber. ABER! …. Ich will nicht vorgreifen.

Hin und wieder leisteten wir uns eine Cola, sofern wir genügend weggeworfene Verschluss­kappen der besagten Marke fanden, die wir sammelten und für eine bestimmte Menge gegen eine Flasche eintauschten. War wohl eine Werbeaktion der Amis für ihr Produkt.

Noch zu jung für den Strich

Zweimal ging einer meiner Kumpels mit einem Typen mit, wichste dem einen für ein paar Mark ab. Ich hatte ja schließlich schon vorher für reichlich Geld gesorgt. Jetzt sollten die beiden anderen auch mal was für unsere Reisekasse beitragen. Ich erschien den Freiern anscheinend doch etwas zu jung; durch meine mickrige Körpergröße wäre ich glatt als Zehnjähriger durchgegangen. Es kam noch hinzu, dass die Freier, wie mir meine Reisege­fährten hinterher berichteten, gerne etwas Spritziges in die Hand oder in den Mund wollten. Dies traute man mir nicht zu, dass ich dazu fähig war. Dabei hatte ich doch genau an meinem 13ten die Bettdecke vollgesaut, und war deswegen bei meiner Mutter in Erklärungsnot gera­ten. Irgendwann kamen wir dann doch noch an eine einigermaßen erträgliche Geldquelle. Vor dem Funkturm war derzeit ein riesiger freier Platz, der als Parkplatz genutzt wurde. Dort sah ich dann auch (außer zu Kriegszeiten) zum ersten Mal Unmengen von Autos. Zum Teil zwar noch Vorkriegsmodelle, aber auch ganz andere, wie wir sie nur zu Messezeiten hin und wieder in Leipzig sehen konnten.

Wie alle interessierten Jungs in dem Alter stillten wir unsere Neugierde und erforschten in fast jedem Westauto das Innere (Pfui! nicht was Sie jetzt denken lieber Leser). Wir wurden von einem Mann angesprochen, ob wir uns nicht etwas Geld verdienen wollten. Nein, diesmal war es kein Schwuler. Natürlich waren wir sofort Feuer und Flamme. Wir sollten während seiner Abwesenheit auf sein Auto aufpassen und, wenn wir Lust auf eine extra Mark hätten, könnten wir ja in der Zeit seinen Wagen waschen. Sollte es zu seiner Zufriedenheit ausfallen, würde er uns zwei Mark geben. Aber Hallo! Das wären ja umgerechnet 11 Colas. Einen kleinen Eimer und Putzlappen hatte er sogar in seinem Kofferraum. Wasserhydranten gab es auch in der Nähe.

So verdienten wir uns ganz redlich unsere ersten zwei Westmark. Das brachte uns natürlich auf die Idee, auch anderen Autobesitzern unsere Dienste anzubieten. Es klappte vorzüglich. Soviel ich weiß, gab es für uns noch keine Konkurrenz von professionellen Waschanlagen.[3] [4] Bei uns klappte es vorzüglich. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir drei eine Lebens­stellung daraus gemacht. Hatten uns schon selbst mit den nötigen Putzutensilien ausgestattet.

Leider machten uns die Schupos einen Strich durch die Rechnung. Erstens kommt es anders, zweitens als du denkst, sagte schon meine Mutter oftmals. Wir liebäugelten ja schon mit dem Gedanken, uns in einen der auch hier geparkten Laster, die nach Westdeutschland fuhren, zu schmuggeln. So sah ich auf dem Parkplatz einen Schwerlaster mit dem Herkunftsschild Buxtehude. Buxtehude? Das gab es wirklich? Ich hatte immer geglaubt das sei ein Märchen, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen.[5] Diese Pläne konnten wir dann aber bald abhaken.

Alles Paletti! – Dachten wir.

Nicht dass wir Kinderarbeit leisteten, war der Bahnpolente vom Bahnhof Zoo aufgefallen. I wo! Gegen Abend hielten wir uns gerne vor dem Bahnhof auf. Tagsüber standen dort allenthalben Obst­stände herum, die an Reisende verkauften. Wir hatten schnell herausbekommen, wann diese Stände wieder abgebaut wurden. Dabei fiel dann eine ganze Menge angeschlagenes, unver­käufliches Obst ab. Kartons und Obstkisten, nebst Holzwolle wurden aufgeschichtet und (welch eine Verschwendung aus der Sicht von uns Ostdeutschen) verbrannt. Wir freuten uns über das angeschlagene Obst, die Stand-besitzer darüber, dass wir ihnen beim Verbrennen halfen und sie selbst somit früher nach Hause kamen. Brauchten sie nun doch nicht unnötig lange auf das Feuer zu achten. Das erledigten wir für sie. Dabei konnten wir uns auch noch an den kühlen Sommerabenden am „Lagerfeuer“, wie wir es romantisch verträumt nannten, wärmen. Dieser Platz, wenige Schritte vom Haupteingang entfernt, wo sich heute Busse und Taxis breit gemacht haben, gehörte anscheinend zum Bahnhofsbereich und in die Zuständig­keit der Bahnbullen. Jedenfalls kamen eines Abends zwei Bahnbullen direkt auf uns zu und fragten, was wir hier täten. Eine blöde Frage! Das sahen sie doch! Vor der Obrigkeit, dazu noch in Uniform, kuschten wir natürlich. Wieder einmal hatten wir unsere Schularbeiten nicht gründlich genug gemacht. Zu sorglos geworden, hatten wir nicht im Entferntesten daran gedacht, vor ein Problem dieser Art gestellt zu werden. Der Mensch, zumal mit 13 Jahren, lernt eben nie aus. Bei der Nennung der Namen hatten wir noch keine Schwierigkeiten. Wir hatten uns für den Fall solcher Fälle jeder einen anderen Namen eingeprägt und dies auch immer wieder geprobt, ob der Angesprochene darauf richtig reagierte. Alles Paletti! Dachten wir. So, hofften wir, würden sich die Bullen die Zähne daran ausbeißen müssen, um unsere wahre Herkunft heraus­zubekommen. Von daher drohte uns von der West­polizei das geringste Übel. Glaubten wir jedenfalls. Doch als die Frage nach dem Woher und dem Wohin kam, gerieten wir doch schon etwas ins Stottern. Zumindest meine beiden Kumpane, die ein wirklich einwandfreies sächsisch spra­chen und es zu verbergen versuchten. Das schon genügte den Bullen, miss­trauisch zu werden. „Na, dann kommt doch mal mit“, hörten wir den gefürchteten Satz aus berufenem Munde sagen. Ich konnte mir gar nicht denken, was die Uniformierten überhaupt von uns wollten. Mir war doch ganz fließend ein Straßenname aus dem Ostteil der Stadt über die Lippen gekommen, auch die Hausnummer. Ich kann nicht behaupten, dass die Bahnbullen irgendwie unfreundlich oder gar handgreiflich uns gegenüber wurden. Von direkter Freund­lichkeit konnte man allerdings auch nicht sprechen.

Ganz einfach routinemäßig lief das Ganze ab. In einen Nebenraum gesteckt, wo außer einer langen Bank nichts weiter vorhanden war, harrten wir gelassen der Dinge. Es dauerte gar nicht lange da kam ein grinsender Oberbulle und dazu noch zwei weitere in unsere Zelle. Ganz freundlich, eigentlich viel zu freundlich, erfragte er nochmals die Hausnummer, die ich ihm genannt hatte. Ich hatte ganz spontan die 22 genannt, weil dies wirklich die Hausnummer war, in der ich in Leipzig bei meiner Mutter wohnte. Verplappern konnte ich mich diesbezüg­lich nicht. Und die genannte Straße gab es ja auch in Ostberlin. „Na, dann kommt doch mal mit“, wurden wir immer noch freundlich und grinsend aufgefordert. Heute würde so ein Grinsen im Gesicht eines Bullen sofort sämtliche Alarmglocken läuten lassen. Man halte mir aber bitte zugute, dass ich in dem Alter immer noch das Gute in jedem Menschen sah, eben ein blutiger Anfänger, was den Umgang mit den Bullen anging. Am besten man pflegt überhaupt keinen Umgang mit solchen Typen. Ich will damit sagen, man geht ihnen am besten aus dem Wege und lässt sich erst gar nicht erwischen. Aber wer denkt schon, während er sich am Lagerfeuer wärmt, an etwas Böses? Die Hausnummer wurde uns zum Verhängnis! Die Straße gab es unbestritten. Auch die Hausnummer. Im Prinzip, laut Radio Eriwan[6]. Vor dem Krieg hatten darin sogar Menschen wohnen können. Inzwischen aber waren ein paar niedliche Bomben daraufgefallen und hatten nur einen Trümmerhaufen zurückgelassen. Dies wiesen mir/uns die Bullen voller Häme im Gesicht anhand einer Spezialkarte von Berlin nach. „Ihr seid doch faule Früchtchen!“ wurde uns auf den Kopf zugesagt. Schon wieder diese Bezeichnung. Früchtchen, ob die das überall auf der Polizeischule lernten? Ich glaube, in dem Heim, wo wir die folgende Nacht schlafen durften, hätte sogar ich heimisch werden können. Nach einer Fahrt mit einem neuwertigen Westauto von etwa einer halben Stunde erreichten wir ein schmuckes Haus, welches in etwa die Größe eines Zweifamilienhauses hatte. Drinnen war alles so adrett und sauber, zum Teil mit Glastüren versehene Zimmer. Eigentlich war ja schon längst Schlafenszeit für die Heimkinder, aber bei unserer Ankunft sprach es sich sehr schnell herum, dass noch Neuankömmlinge erwartet würden. So wurden wir natürlich von neugierigen Jungs und Mädchen in adretten Schlafanzügen, bzw. Nachthemden begrüßt. Wir durften Milch, Kakao oder Früchtetee zu dem reichlichen Brot und Aufschnitt wählen. Irgendwie mussten im Osten die Propagandafilme über den kapitalistischen Westen ver­tauscht worden sein. Darin jedenfalls wurde uns vorgeführt, wie Westkinder sich ihr Essen aus den Mülltonnen fischten. Fast die Verhältnisse, die man uns mit den Filmen untergejubelt hatte, herrschten schon am nächsten Tag in Rummelsburg. Wir hatten in wundervoll weichen Betten geschlafen, mit frischer Nachtwäsche ausgestattet, nachdem wir auch noch hatten duschen dürfen. Köstlich frische Brötchen (die bekamen alle, nicht nur wir, um uns etwas vorzutäuschen) zum Frühstück und …… Kakao satt! Es sollten danach Jahre vergehen, bis ich wieder solch einen Gaumengenus bekommen sollte.

Leider verbrachten wir dort nur etwa 12 Stunden, deshalb zähle ich dieses Heim auch nicht den anderen neun Heimen während der 26 Monate, die ich darin verbringen musste hinzu. Die Frau, die uns dann wieder mit einem schicken Westauto zu irgendeinem Berliner Bahnhof brachte, lieferte uns dort auf dem Bahnsteig an zwei finster dreinblickende Herren ab. Mit einem Blick, welcher soviel heißen sollte wie: „ihr armen Würstchen“, wurden wir noch von der Frau bedacht, bevor sie sich umdrehte und davonging. Ohne Kommentar wurden wir von den beiden Herren in die Mitte genommen und in den anfahrenden Zug verfrachtet.

In Rummelsburg[7] erwartete uns eine triste Kasernenhofatmosphäre. Das Gelände war unheim­lich groß. Von der Kleiderkammer, wo wir mit viel zu großen Klamotten ausgestattet wurden – Hosen ohne Gürtel, Schuhe ohnehin zu groß, auch noch ohne Schnürsenkel – hatten wir, bedingt durch das Festhalten der immerwährend rutschenden Hosen und den viel zu großen Botten an den Füßen, ein ganz schönes Stück Weg bis zu unserer eigentlichen Unterkunft zurückzulegen. Viele Erinnerungen von dort gibt es nicht mehr. Nur dass am Gelände ein Fluss (oder war es ein größerer See?) angrenzte, der so breit war, dass an ein Entkommen nicht zu denken war. Es lag in einiger Entfernung ein abgesoffenes Schiff (also doch ein Fluss?) halb aus dem Wasser ragend darin. Unmöglich es schwimmend zu erreichen. Von unserem Zim­mer­fenster aus lernte ich wieder etwas Neues von der Welt kennen. In einem fast kreisrunden Stadion fuhren Motorräder, die am hinteren Ende Stangen samt Querstange hatten und sich abstrampelnde Radfahrer bemühten, dran zu bleiben. Das laute Geknatter der stinkenden Motorräder und die schwitzenden Radfahrer dahinter zu beobachten war eigentlich die einzige Abwechslung, die wir in Rummelsburg während unseres Aufent­haltes dort hatten. Ich habe die Tage nicht gezählt, die wir dort verbringen mussten. Außer dem täglichen Hofgang gab es ja nichts. Und deshalb kam uns die Zeit wohl auch doppelt lang vor, die wir dort verbringen mussten. Nur immer am Abend war dann wieder das Motorgeknatter der Trainierenden im Stadion zu hören.

Dafür hatten wir dann mit einem Typen, der uns gleich furchtbare Prügel androhte, falls wir auch nur einen Fluchtversuch andeuten würden, ein ganzes Zugcoupé für uns. Er hatte eigens einen Schlüssel vom Schaffner bekommen, falls mal einer aufs Klo musste. Er hielt die Türe von innen verschlossen, solange wir fuhren. Mit ihm war wirklich nicht gut Kirschen essen. Er unterband sogar jedes Gespräch unter uns. So ging das bis Dresden. In Dresden blieben wir aber nicht. Das Heim war tatsächlich schon für die koreanischen Waisenkinder geräumt wor­den. So blieben wir nur wenige Stunden auf einem Polizeirevier, bis wir von einem fast geschlos­senem Kastenwagen in eine Gegend verfrachtet wurden, dessen Weg wir nicht nach­vollziehen konnten, weil wir ja nichts von der Landschaft erkennen konnten. Wie ich erst 1990 von meiner Schwester erfuhr, hatte sie viele Stunden gebraucht, um von Dresden aus dorthin zu kommen, nachdem ihr mein derzeitiger Aufenthaltsort bekannt wurde, um mich zu besuchen. Mir war es trotz aller Briefzensur gelungen, ihr eine Nachricht zukommen zu las­sen, dass ich mich in einem Heim in der Nähe von Königsbrück befand. Danach trieb ich mich jeden Tag auf der einzigen Landstraße herum und erwartete sehnsüchtig meine Schwester. Jeder Brief, der geschrieben wurde, wurde von der Heimleitung gelesen. Stand auch nur ein verdächtiges Wort darin, wurde er zu den Akten geheftet. Und man erfuhr noch nicht einmal, war der Brief nun abgeschickt oder nicht. Meine Mutter wusste meist längere Zeit nicht, wo ich mich gerade befand. Kein Wunder bei dem Tempo, mit dem ich die Heime wechselte. Das war nach jeder Flucht angesagt. In der Abgeschiedenheit von jeglicher Zivili­sation erfuhr ich dennoch, dass wir uns in der Nähe von Königsbrück, Kreis Kamenz, Bezirk Dresden befan­den.

Irgendwann hatten wir alle das Gammeldasein satt.

Mitten im tiefsten Wald gelegen hatte man ein ehemaliges BDM- Heim, welches zu Hitlers Zeiten dazu diente, junge Mädchen als Köchinnen auszubilden, wieder reaktiviert. Ein Gebäudekomplex in Hufeisenform, etwas bessere Baracken, ca. 40 Zentimeter hoher Stein­sockel, darauf Holzaufbau. 70 Kinder und 5 Erzieher, die uns rund um die Uhr zu betreuen, besser gesagt zu überwachen hatten. Selbst deren Kochkünste mussten wir über uns ergehen lassen. Ein eigenes Gefährt hatte das Heim nicht. Deshalb bekamen wir manchmal etwas Warmes zu essen, oftmals aber auch nicht. Wer für unsere Versorgung verantwortlich war, haben wir nie erfahren. Bei Nachfrage bei den Erziehern hieß es immer nur, dass sie selbst keinen Einfluss darauf hätten. Die Versorgung funktionierte genau so wie eine verrostete Türe. Etwas tiefer noch im Wald gelegen stand ein altes Pulverhäuschen. Das sollte für uns zur Schule umgebaut werden. Nur wann, das wurde uns nicht gesagt. Die reguläre Schulzeit nach den Sommerferien hatte längst begonnen. Da vertrieben wir unsere Zeit damit, Kräuter, Eicheln und Kastanien zu sammeln. Das Ganze, was eigentlich für einen Zoo bestimmt war, wurde niemals abgeholt. Ansonsten spielten wir in den alten Grotten des Elb­sandsteingebirges und im Wald „Russe und feindlicher Faschist.“ Alte, verrostete Knarren und Pistolen fanden wir in den Höhlen genügend vor. Blau- und Preiselbeeren sowie Pilze sammeln und erkennen lernten wir, und andere Dinge in der Natur zu lesen, was den Groß­städtern sonst verwehrt bleibt. Ich begriff gleich, dass es nicht ratsam war, eine gute Tat zu begehen, einem Bauern seine Kartoffelernte beschützen zu helfen, wenn sich eine Wild­schweinfamilie in den Kopf gesetzt hatte, auf einem Kartoffelacker ihre Mahlzeit einzu­nehmen. Mein Knüppel-schwingen und „Ksch-Ksch–Rufen“ verärgerte diese Biester aber ungemein. Zumindest erkannte ich sehr schnell, dass ein Eber seine Hauer nicht nur zur Zierde trug, als er auf mich losstürmte. Ich bekam gerade noch die Kurve, bevor er mich erreichte. Die Rehe waren da schon anderer Natur. Die liefen schon weg bevor man ihre braunen Augen genau erkennen konnte. Seitdem weiß ich auch, warum man im Biologie­unterricht zu ihrem Hinterteil Spiegel sagt. Diesen Spiegel sah man öfter als ihre braunen Augen. Mag sein, dass daher meine Vorliebe für Frauen mit braunen Augen herrührt. So etwas Sanftes und Treues im Blick. Junge, Junge, da wird es einem ganz schwummerig ums Herz. Bei beiden. Den Frauen sowohl als auch bei den Rehen. Ehrlich, ich lernte die Natur lieben. Aber zum einsamen Trapper war ich dennoch nicht geschaffen. Ich musste Trubel um mich haben. Und sei es nur in der Schule. Der Bau der Schule aber ließ auf sich warten. Immer nur Bio auf dem Stundenplan war nicht gerade gut für die Allgemeinbildung. Es mag vielleicht blöd, unwahr klingen, dass ein junger Bur­sche sich nach der Schule sehnt, aber irgendwann hatten wir alle das Gammeldasein satt. Wir kannten im weiten Umkreis jeden Busch und Baum, jede Höhle im Elbsandsteingebirge. Wir wussten, wo alte Waffen herum­lagen, wo ein Hasenlager oder ein Rehgehege war. Wir kannten die Wildwechsel und konnten die Spuren lesen, von welchem Tier sie stammten. Lernten schnell eine Ringelnatter von einer Kreuzotter zu unterscheiden. Selbst die Verteidi­gungstaktik von Hornissen blieb uns kein Geheimnis. Einer der Jungs trieb seine Neugierde soweit, dass er mal so eben in einem Hornissennest unter einem vorspringenden Dachsparren mit seinem Stock (keiner von uns trieb sich ohne einen solchen Stock in der Gegend herum) herumzustochern. In ihrer Ruhe gestört machten die erbosten Hornissen Jagd auf den Frevler. Ganz gezielt auf eben den Jungen, der ihren Frieden gestört hatte, obwohl wir mit mehreren dort herumstanden.

Seltsamerweise stach ihn nur eine der Hornissen. Anscheinend beließen die Tiere es mit die­sem Warnhinweis, weil er an ihrem Bau keinen größeren Schaden angerichtet hatte. Nur eine hatte ihn in die Wange gestochen. Ein paar Stunden später konnte man bei dem gesto­chenen Jungen gerade noch erahnen, wo sich mal seine Augen befunden haben mussten. Es gab nur noch verquollene wülstige Lippen eines Negers und eine kartoffeldicke Nase. Sein Anblick hätte ihn ohne weiteres dazu prädestiniert, in einem Horrorfilm mitzuwirken. Einen Arzt aufsuchen? Wie denn? Wo denn? Was denn? Wir hatten ja noch nicht einmal ein Fahrrad auf dem Heimgelände. Außer den Erziehern wusste hier sowieso niemand, in welcher Rich­tung so einer aufzutreiben gewesen wäre. Die wenigen Fremden, Lieferanten meist, die zu uns fanden, kamen alle von rechts. Dort irgendwo musste sich die Welt befinden, wo es noch anderes Leben gab als die Tiere. Unsere Hilfsbedürftigkeit, besonders die des Betroffenen, wurde dahingehend abgetan, dass man meinte, er hätte sich eben nicht mit den Hornissen anlegen sollen. Außerdem würde die Natur schon selbst für sich sorgen. Es wäre nur eine Frage der Zeit bis die Schwellungen weggehen würden. Basta!

Ohne genau zu wissen, wo wir uns eigentlich genau befanden, konnten einem aber auch jegliche Fluchtgedanken vergehen. Ende September! Immer noch keine Schule. Ja, man hatte noch nicht einmal damit begonnen, an dem ohnehin für 70 Schüler zu kleinem Pulver­häus­chen irgendwelche baulichen Maßnahmen vorzunehmen. Marx oder Lenin? Jemand hatte mal gesagt: „Wissen ist Macht!“[8] Diese Macht forderten wir schließlich vollkommen sauer ein. Es setzte Ohrfeigen und Stockhiebe. Mit Prügel hatte schon meine Mutter versucht mich zu erzie­hen, mir meine Rumtreiberei auszutreiben. Mit geringem – ja – fast Null Erfolg. Aber Prügel von Fremden, dazu noch unberechtigt, ließen mich die Hasskappe aufsetzen. Hass gegen die unkompetente Autorität. Hass gegen jede willkürliche Autorität und diese ganze Situation hier. Dass sich hier etwas ändern müsse, darüber sprachen alle. Aber nur Schulzi hatte die Idee wie das zu ändern sei. Einmal die Hasskappe aufgesetzt bekommen, ließ sich sein ostpreußischer Dickschädel nicht mehr beruhigen.

Fußnoten

[1] Knautschke ist tatsächlich legendär. https://de.wikipedia.org/wiki/Knautschke

[2] Zur politischen Geographie der Nachkriegszeit: https://de.wikipedia.org/wiki/Vierm%C3%A4chte-Status

[3] Späterer Zusatz von Schulze: Bei meinen jährlichen Reisen nach Königsberg (Pardon – Kaliningrad) werde ich jedes Mal an diese Zeit erinnert. Sehe ich doch jedes Mal russische Straßenkinder sich auf die gleiche Weise etwas Geld verdienen.

[4] Unter der Nummer DE 1187943 meldeten die beiden Augsburger Unternehmer Gebhard Weigele und Johann Sulzberger am 8. August 1962 die erste selbsttätige Kraftfahrzeug-Waschanlage für Autos an. https://www.welt.de/regionales/muenchen/gallery108510460/Vor-50-Jahren-eroeffnete-die-erste-Autowaschanlage.html

[5] Hier irrt Schulz. In der Redensart sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=~~wo%20sich%20Fuchs%20und%20Hase%20gute%20Nacht%20sagen&suchspalte%5B%5D=rart_ou , Hase und Igel liefen in Buxtehude um die Wette https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Hase_und_der_Igel, dort bellen auch die Hunde mit dem Schwanz http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/schauplatz-nordwest/buxtehude-dackel104.html

[6] Auch heute noch ein großer Spaß https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Jerewan

[7] „Das zwischen 1854 und 1859 errichtete Friedrichs-Waisenhaus Rummelsburg in der Hauptstraße diente zur Unterbringung elternloser Jungen und Mädchen, die in Berlin und der Umgebung aufgegriffen worden waren. In der Zeit der DDR war auf dem Gelände das Grenzregiment untergebracht, das für die Bewachung der Berliner Mauer zwischen Eberswalder Straße und der Mündung des Landwehrkanals in die Spree verantwortlich war.“ Zum Verständnis der Lage am Wasser lohnt ein Blick auf die Karte: https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Rummelsburg

[8] Wissen ist Macht https://de.wikipedia.org/wiki/Wissen_ist_Macht

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf

 Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf

 Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/

04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2

Kapitel 5, von Heim zu Heim

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/

PDF: 05-von-heim-zu-heim

 Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/

06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen

 Kapitel 7, Lockender Westen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/

PDF 07-lockender-westen

Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/

PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser

Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/

PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin

 Wie geht es weiter?

Kapitel 10, Bambule

 

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« VIII

Posted in DDR, Deutschland, Geschichte, heimkinder, Kinder, Kinderheime, Kriminologie, Leben, Soziologie by dierkschaefer on 9. Januar 2017

logo-moabit-kDieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

Achtes Kapitel

Berlin? In Leipzig lief’s besser.

Nicht weit von unserem Landeplatz entfernt verlief eine Landstrasse im Winkel wieder zur Autobahn. Allerdings jenseits der kontrollierten Brücke. Somit hatten wir diese Hürde schon mal genommen. Wohlgemut folgten wir der Landstrasse in Richtung Autobahn/Berlin. Auf dieser Landstrasse entfernten wir uns auch immer weiter aus dem Blickwinkel der Brücke. Das machte uns das Laufen noch leichter. Ja, die Autobahn würden wir an diesem Tage noch erreichen. Aber Berlin? Wir hätten es uns nicht einmal träumen lassen an diesem Tage auch noch Berlin zu erreichen.

Russisch fluchen muss man können

Uns überholte ein Autokonvoi bestückt mit russischen Soldaten. Ich winkte und rief ihnen zu uns doch ein Stück mitzunehmen. Sie winkten zwar freundlich zurück, weil Russen von Natur aus sehr kinderlieb sind, doch anhalten tat keines der Autos. Zum Teufel mit euch, dachte ich. Das rief ich dann auch dem letzten Wagen, einem Jeep, in Russisch hinterher.

Quietsch!!! Da hielt der Wagen in einer Staubwolke gehüllt in etwa 20 Meter Entfernung an. Au weia! Ein Major kam auf uns zu. Mit Muffensausen schauten wir ihm entgegen. Oh Wunder. Der Typ sah gar nicht allzu böse aus seinem Uniformkragen hervor. Er wollte ledig­lich wissen, wer von uns in so perfektem Russisch fluchen konnte. Meine Kumpane mit ihrem Schulrussisch verstanden natürlich kein Wort von dem was der Offizier fragte. Am Ausdruck seiner Augen konnte ich ablesen, dass er gar nicht böse zu sein schien. Seine Stimmlage bestätigte dies noch. Deshalb gab ich mich ihm auch zu erkennen. Der Mann war richtig aus dem Häuschen vor Freude, soweit ab von seiner Heimat eine Jungenstimme in seiner Sprache zu hören. Ich erfuhr auch gleich, dass er einen etwa gleichaltrigen Sohn daheim hätte und ich ihn an diesen erinnere. Damals (1953) war es noch nicht gang und gäbe, dass die Offiziere ihre Familien mit nach Deutschland bringen durften. Als er in fließendem Russisch von mir erfuhr, dass wir nach Berlin wollten, lud er uns zu unserer Überraschung ein auf seinem Jeep mitzufahren. Er würde zwar nicht ganz nach Berlin reinfahren, aber wollte uns so weit als mög­lich mitnehmen. Wir bildeten das Schlusslicht des Konvois, den wir schnell wieder einge­holt hatten. Der Offizier und auch sein Fahrer waren Russen von dem Schlag wie ich sie liebte. Aufgeschlossen und amüsiert hörten sie sich meine wahre Geschichte der Flucht aus dem Heim an. Ich dachte gar nicht daran die beiden anzulügen. Als ich ihnen dann auch noch erzählt hatte, woher mein gutes Russisch stammte, nahm er mich sogar in seine Arme. Das bekräftigte mich noch mehr in meinem Vorhaben in den Westen zu gelangen und auch mal von meinem Vater so in die Arme genommen zu werden. Deshalb erzählte ich dem Offizier auch die Wahrheit, dass ich zu meinem Vater in den Westen wollte. Er nahm mich abermals ganz gerührt in seine Arme und wünschte mir viel Glück bei meinem Vorhaben. Dieser Offizier war nicht der erste Russe, der mir zeigte, dass unter der Uniform immer noch ein Mensch steckt. Ihn und auch den überwiegenden Teil der Russen habe ich seitdem mit ganz anderen Augen betrachtet. Viel später, auf meinen touristischen Moskau­reisen, habe ich es immer wieder bestätigt bekommen. Und jetzt, nachdem ich schon im Laufe von 5 Jahren jedes Jahr in meine Geburts-Heimat/Königsberg fahre, habe ich dort viel mehr russische Freunde gefunden als ich sie je hier hatte.[1] Dank meiner Sprachkenntnisse habe ich einen tieferen Einblick in die russische Seele erhalten, als es so manchem Menschen zuteil wird. Ich kann/will dieses Volk nicht als meinen Feind betrachten. Irgendwo auf der Auto­bahnstrecke machte mich der Major auf einen Gedenkstein aufmerksam. Er war einem bekannten deutschen Autorennfahrer gewidmet der an dieser Stelle tödlich verunglückt war. Ich habe viele Jahre später, als wir Wessis uns auch auf der Autobahn tummeln konnten, versucht diesen Stein wieder ausfindig zu machen, weil er mich an diese, meine Kindheit erinnern sollte. Wurde er entfernt oder konnte ich mich nur nicht die genaue Stelle merken?

Für 20 Mark Ost gab’s im Westen nicht viel

Außer einem langen Händeschütteln, an die väterliche Brust drücken, gab der Major mir dann noch ganz verstohlen zusteckend 20 Mark und alles Gute mit auf den Weg. Von dort, wo der Konvoi dann abbog, konnten wir schon die Skyline von Berlin erkennen. Welch ein Gefühl. Wir wähnten uns schon in der Freiheit. Ich weiß heute nicht mehr genau wo unsere Füße zum ersten Mal Berliner Boden betraten. In drei oder vier Sprachen stand da aber auf Schildern geschrieben, dass man den Ost/Westsektor verließ bzw. betrat. Man möge mir verzeihen, aber inzwischen sind 52 Jahre ins Land gezogen. Da lassen genaue Erinnerungen schon etwas zu wünschen übrig. Ich habe nie ein Tagebuch geführt. All die Erinnerungen kommen frei aus meinem Gedächtnis, so wie ich es hier niederschreibe. Viele Erinnerungen sind nur noch blaß, schemenhaft vor meinen Augen. Andere haben sich (warum wohl?) tief bei mir eingeprägt. Ich weiß allerdings noch, dass unsere Ostmark in diesem Teil von Berlin nicht viel wert war. Zumindest nahm man die Ostmark überall an. Schnell hatten wir spitz bekommen, dass es für uns, hatten wir Hunger, günstiger war in den Ostsektor zu wechseln. Ebenso suchten und fanden wir bald einen Schlafplatz im Ostteil der Stadt. Vom Bahnhof Zoo an der Siegessäule vorbei das russische Ehrenmal links liegen lassend gingen wir durch das Brandenburger Tor. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, dass wir dabei unter den Linden heraus kamen. Diese, damals in Trümmern liegende Prachtstraße hat heutzutage für mich keinen Wiederer­kennungswert mehr. Rechts vom Brandenburger Tor war damals schon eine riesige Baustelle. Dort lagen Unmengen von Marmorsteinen (?) in großen Blöcken, geschützt von reichlich Stroh dazwischen herum. Zwischen den Blöcken waren wir vor Sicht geschützt. Das Stroh selbst schützte uns wiederum vor der Nachtkälte. Die Zwischenräume der Marmorblöcke wirkten wie kleine Kammern, die uns dazu einluden dort zu übernachten.

Nur einmal hatten wir im Westen übernachtet. Dort hatten wir eine Obstverkaufsbude aufge­brochen, uns mit all den für uns völlig unbekannten Köstlichkeiten den Magen vollgestopft und auch gleich darin übernachtet. Was es da alles für Früchte gab. Die meisten davon kannten wir noch nicht einmal vom Biologieunterricht dem Namen nach. War ja auch klar, was es im Sozialistischen Staat nicht gab, dass existierte eben auch nicht. Orangen, die kannte man schon, Bananen auch. Wenn man sich auch nur sehr vage an den Geschmack erinnern konnte. Aber Blutorangen (erfuhr ich erst viel später wie die innen roten Orangen hießen), igitt, lieber nicht! Was der Bauer nicht kennt, das frisst er auch nicht, kann ich mich an ein Sprichwort meiner Mutter erinnern. Für Cola und Schokolade ging unser Geld schnell drauf. Wir standen mit sehnsüchtigen Blicken vorm Eingang des Zoologischen Gartens. Konnten uns aber den Eintritt nicht leisten.

Ein älterer, freundlicher Herr erkannte wohl unser Problem. Auch das wir aus dem Osten kommen mussten. Wegen der Kleidung, vor allem aber an unserem sächsischen Dialekt, wie er uns später erklärte, während er für uns die Eintrittskarten löste. Gott sei auch seiner Seele gnädig!

Vieles war aber auch hier noch im Argen. Von Bomben zerstört war man im Begriff diesen Zoo wieder auf Vordermann zu bringen. Ich liebte den Zoo.

Meine Liebe zum Zoo resultiert eigentlich daher, dass ich schon in Leipzig, zumindest während der Saison, fast jeden Sonntag im Zoo war.

Eine halbe Stunde Bedenkzeit, dann habe ich das Problem gelöst, sagte der 11jährige.

Ich verband meine Vorliebe natürlich mit kommerziellen Interessen. Hatten mich doch wieder einmal Russen zu dieser Liebe gebracht. Nämlich, als ich mal außerplanmäßig auch an einem Sonntagmorgen zum Hauptbahnhof gefahren war, wurde ich Zeuge wie ein Offizier mit ausgebreiteter Stadtkarte auf der Motorhaube eines Truppentransporters sich ziemlich hilflos an mehrere Passanten wandte. Doch diese verstanden wohl die russischen Fragen nicht, und gingen achselzuckend davon. Als Möchtegern-Pionier, der angehalten war jeden Tag eine Gute Tat zu begehen, bot ich mich dem Offizier an. Fragte ob ich ihm helfen könne. Überrascht darüber in gutem Russisch angesprochen zu werden, erfreut darüber, endlich verstanden zu werden und auch noch Hilfe zu bekommen, erklärte er mir, dass er mit seiner Kompanie einen Kulturtag hätte, aus Torgau kommen würde und gerne als erstes den Leipziger Zoo sowie andere Sehenswürdigkeiten in der Stadt besuchen möchte. Als ich begann ihm die Fahrtstrecke zu erklären fragte er mich, ob ich nicht Zeit und Lust hätte ganz einfach neben dem Chauffeur Platz zu nehmen, um ihm den Weg direkt zu zeigen. Da der Sonntag für meine Mutter der einzige Ruhetag in der Woche war, wo sie sich von ihrer Trümmerfrauentätigkeit mal entspannen konnte, sie keinen großen Wert darauf legte, von ihrem Sohn genervt zu werden, genoß ich viele Freiheiten. Dem Offizier gegenüber gab ich aber zu bedenken, dass er mir dafür das Geld für eine Rückfahrkarte geben müsse. Er schien regelrecht beleidigt zu sein deswegen angesprochen zu werden. „Wir bezahlen dir natürlich auch den Eintritt für den Zoobesuch! Und wenn du Zeit hast, gehst du mit uns zusammen essen, wenn du uns auch noch ein Restaurant zeigen kannst, wo wir alle 58 hinein passen!“

„Hurra“, schrie es in meinem Inneren. War doch damit der langweilige Sonntag gerettet, ich konnte zu dem Zeitpunkt ja noch garnicht ahnen, welche Folgen das für die weiteren Sonntage für mich haben sollte.

Genau gegenüber vom Zooeingang war ein riesiger Parkplatz, wo die drei LKW mit den Soldaten parken konnten.

Zunächst aber mussten die Soldaten in Reih und Glied antreten. So eine Art Appell mit Abzählen fand zunächst statt. Dann wurde ich gefragt wie viel Zeit wohl benötigt wurde, um einen Rundgang durch den Zoo zu bewerkstelligen. Zum ersten und bisher einzigen Male, wo ich in diesem Zoo war, anlässlich eines Klassenausflugs, hatte man uns drei Stunden bis zum Sammeln am Ausgang zugestanden. Dieser Richtwert schien mir angemessen, ihn auch dem Offizier nahe zu legen.

Dementsprechend gab der Offizier seinen drei Sergeanten Befehl. Einer der drei Sergeanten fragte dann noch, wo man danach essen könnte. Schließlich wäre es dann schon halbeins. Fragend schaute mich der Offizier an.

Beinahe wäre ich bei dieser Frage überfordert gewesen. Klein Schulzi, gerade mal 11 Jahre alt, war pfiffig genug, den Frager um eine halbe Stunde Bedenkzeit zu bitten. Bis dahin wolle er das Problem gelöst haben.

Zunächst aber stellten sich die Soldaten brav an dem einen vorhandenen Kassenhäuschen an, um ihre Eintrittskarten zu kaufen. Meine ermäßigte Kinderkarte bezahlte der Kommandant dieser Truppe. Als letzter den Kartenabreißer passierend sagte dieser zu mir: „Anscheinend hat von euch noch keiner was davon gehört, dass es für Gruppen ab 10 Personen ermäßigte Billetts gibt, was?“ Ich schaute den Mann blöd an. „Na ja, nächstes Mal weißt du Bescheid! Sollte sich so was mal wieder ergeben, geht einer an die Kasse, gibt die Personenzahl an und bekommt bis zu 50% Ermäßigung!“ Diese Aussage brannte sich in meinem Hirn fest.

Eine ganz leise Ahnung hatte ich schon, wohin ich mich wenden musste, um die gesamte Truppe abfüttern zu können. Hatte sich doch jeder, der ein paar Groschen besaß, beim Klassen­besuch derzeit noch ein Eis gegönnt. Und dort, wo es das Eis gab, hatte ich ein Hinweisschild gesehen „Zum Restaurant“. Den Offizier, der nicht von meiner Seite wich, erklärte ich was ich vorhatte. Erfreut über meine Offensive begleitete er mich zu den Gaststättenbetrieben, die zum Zooareal gehörten. Die aushängende Speisekarte sagte mir, dass wir hier richtig sind. Schnell hatten wir jemanden gefunden der das Sagen hatte.

Natürlich wäre es kein Problem die 58 sowjetischen Freunde zu versorgen. Allerdings wäre es bei dieser doch sehr großen Personenzahl von Vorteil und würde reibungsloser und schneller ablaufen, wüsste man schon im Voraus, was die Herren denn essen wollten. Dafür hatte der Offizier natürlich volles Verständnis. Ich übersetzte ihm so gut ich konnte die deutsche Speise­karte. Kurzer Hand entschied er sich dafür, dass alle ein Schnitzel mit Gemüse und Kartoffeln bekommen sollten. Ein Getränk, wenn es bestellt wurde, auch ein Bier, wurde noch zugestanden. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass die Mannschaftsdienstgrade vollauf begeistert waren. Denn das Kasernenessen war ja nicht gerade das Gelbe vom Ei.

Wir holten dann auch ganz schnell die Truppe ein, die sich so langsam zu zerstreuen begann. Der Offizier gab zum Weitersagen durch, wo und wann gegessen wurde.

Als wäre es schon beschlossene Sache, dass ich auch weiterhin der Stadtführer sein sollte, erklärte mir der Oberleutnant, dass sie noch vorhätten das Georgi Dimitroff Museum, die russische Kirche und zu guterletzt auch noch das Völkerschlachtdenkmal zu besuchen. Meine Mutter hatte schon an vielen Ecken von Leipzig Trümmer beseitigt. So kannte ich mich ganz gut in der Stadt aus.

Außer in der russischen Kirche, die anlässlich der Völkerschlacht von Leipzig gebaut worden war, musste überall Eintritt gezahlt werden.

Schon beim Völkerschlachtdenkmal hatte ich gecheckt, dass so eine Stadtführung für mich von Vorteil sein könnte. Stand doch über der Kasse geschrieben, dass Gruppenkarten schon für die Hälfte des normalen Preises angeboten wurden.

Trümmerfrau? Der Kleine verdient mehr als seine Mutter

Da der Zeitplan schon etwas eng wurde, zeigte sich der Offizier hocherfreut, als ich ihm vorschlug mir die Gesamtsumme zu geben, so dass ich das mit dem Eintrittsgeld erledigen könne, während die Soldaten sich schon mal zum Aufstieg begeben könnten. Beim Karten­kauf blieben schon mal 29,50 Mark in meiner Tasche ohne dass sich die Russen groß geschä­digt fühlen mussten. Ich stieg natürlich selbst auch die vielen Stufen zur Plattform in 91 Meter Höhe hinauf. Es dämmerte schon etwas an diesem Sommerabend, als die Stadtführung beendet war. Als sich die Soldaten wieder vollzählig bei den drei Lkw versammelt hatten, hielt die Starschiene[2] (Feldwebel) eine kurze Ansprache, nahm seine Mütze vom Kopf und jeder, aber auch jeder der Soldaten warf etwas Geld hinein.

Ganz in der Nähe von meinem Zuhause wurde ich abgesetzt. Nicht ohne mir nochmals eine große Dankesrede zuteil werden zu lassen.

Als ich, noch bevor ich Zuhause war, meine erworbenen Schätze durchzählte, erkannte ich, dass dies ein rundum gelungener Sonntag war. Schließlich hatte ich 96 Mark dabei verdient. Anderthalb Wochenlöhne meiner Mutter.

Da ich annahm, dass solche Kulturausgänge auch bei anderen Kasernen angesagt waren, hielt ich mich von da an jeden Sonntagmorgen vor dem Zoo auf. Und richtig, die meisten Gruppen fanden direkt bis zum Zoo. Meine Tipps, die ich geben konnte, die wurden von den Offizieren jedes Mal dankend angenommen. So kam es dann, dass ich f a s t jeden Sonntag so um das Zweifache eines Wochenlohnes meiner Mutter mit nach Hause brachte. Zumindest in der Sommersaison. Dass ich so ganz nebenbei den durstigen Soldaten während des Zoorund­ganges auch noch ein paar Taschenflaschen Wodka besorgte, soll nicht unerwähnt bleiben. – Nicht nur die Japaner fotografieren gerne. Viele der Soldaten hatten bei derartigen Ausflügen aus dem Kasernenalltag auch einen Fotoapparat dabei. Irgendwo in Russland müssten noch hunderte von Fotos herumliegen, wo ich samt den russischen Söhnen, Brüdern oder Ehemän­nern, die in Deutschland stationiert waren, abgebildet bin.

Aber nun wieder zurück nach Berlin.

Fußnoten

[1] Dies ist ein Einschub aus späterer Zeit. Schulze hatte tatsächlich in Ostpreußen russische Freunde gefunden und am liebsten wäre er dort hin gezogen. Königsberg als Sehnsuchtsort sozusagen. Ich plante sogar, Schulzes Erinnerungen unter dem Titel „Fluchtpunkt Königsberg“ zu veröffentlichen. Doch ihm war und ist klar, dass er mit seiner Akte nur ein Besuchervisum bekommen kann. Inzwischen ist er gebrechlich und ein Besuch bei den Freunden in Königsberg ist ihm nicht mehr möglich.

[2] Vorgesetztenfunktion, https://books.google.de/books?id=ytpPAAAAcAAJ&pg=PA333&lpg=PA333&dq=Starschienen&source=bl&ots=wq5bR1RFYm&sig=akZnJS00UNe-NMEj5OkckcvvkyA&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjqnOPXkv_QAhWlJMAKHXGUAF4Q6AEILTAC#v=onepage&q=Starschienen&f=false

 

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf

 Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf

 Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/

04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2

Kapitel 5, von Heim zu Heim

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/

PDF: 05-von-heim-zu-heim

 Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/

06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen

 Kapitel 7, Lockender Westen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/

PDF 07-lockender-westen

Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.

Wie geht es weiter?

Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin

Kapitel 10, Bambule

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PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser

 

Wer Augen hat zu lesen, der lese …

Posted in Bürokratie, Deutschland, Geschichte, Menschenrechte, Politik by dierkschaefer on 8. September 2015

… und ihm werden die Augen aufgehen. Ein emeritierter Professor[1] für alte Sprachen (Richard) gerät eher zufällig, dann aber recherchierend in Kontakt mit schwarzafrikanischen Flüchtlingen. Er entdeckt dabei nicht nur sie, ihre Länder und die dortigen Lebens- und Fluchtbedingungen, entdeckt nicht nur die hiesigen Lebensbedingungen für schwarzafrikanische Flüchtlinge, sondern er entdeckt auch seine Lebensbedingungen in diesem immer merk- und fragwürdiger erscheinenden Deutschland.

Von Jenny Erpenbeck sachkundig und faszinierend geschrieben. Sollte man unbedingt lesen, denn dabei gehen einem die Augen auf – Zyniker und andere Menschenverächter ausgenommen.

[1] (mit DDR-Hintergrund)

Hier ein Auszug:

Jenny Erpenbeck

GEHEN, GING, GEGANGEN

Roman

Die Afrikaner müssen ihre Probleme in Afrika lösen, hat Ri­chard in letzter Zeit häufig Leute sagen hören. Hat Leute sagen hören: Dass Deutschland überhaupt so viele Kriegsflüchtlinge aufnehme, sei sehr großzügig. Im gleichen Atemzug sagen sie: Aber wir können nicht ganz Afrika von hier aus ernähren. Und sagen außerdem: Die Armutsflüchtlinge und Asylbetrü­ger nehmen den wirklichen Kriegsflüchtlingen, das heißt also den Kriegsflüchtlingen, die auf direktem Wege nach Deutsch­land kommen, die Plätze in den Asylbewerberheimen weg.

Die Probleme lieber in Afrika lösen. Richard stellt sich einen Moment lang vor, wie ein Erledigungszettel für die Männer, die er in den letzten Monaten hier kennengelernt hat, dann aussehen müsste.

Während auf seinem eigenen Zettel zum Beispiel stünde:

  • Monteur für Reparatur Geschirrspüler bestellen
  • Termin beim Urologen ausmachen
  • Zähler ablesen

würde auf der Erledigungsliste für Karon stattdessen stehen:

  • Korruption, Vetternwirtschaft und Kinderarbeit in Ghana abschaffen

Oder bei Apoll:

  • Klage gegen den Konzern Areva (Frankreich) einreichen
  • neue Regierung in Niger einsetzen, die sich durch aus­ländische Investoren nicht bestechen oder erpressen lässt
  • unabhängigen Tuareg-Staat Azawad gründen (mit Yussuf besprechen)

Und bei Raschid stünde da:

  • Christen und Muslime in Nigeria miteinander versöhnen
  • Boko Haram davon überzeugen, die Waffen niederzu­legen

Zuletzt sollten Hermes, der Analphabet mit den goldenen Schuhen, und Ali, der zukünftige Krankenpfleger, sich ge­meinsam um diese beiden Aufgaben kümmern:

  • Verbot von Waffenlieferungen an Tschad (USA und China)
  • Verbot, im Tschad Erdöl zu fördern und außer Landes zu bringen (USA und China)

Sag einmal, fragt Richard Karon, wie groß müsste ein Grund­stück in Ghana sein, von dem sich deine Familie dort selb­ständig ernähren könnte?

Karon überlegt einen Moment und sagt dann: Ein Drittel vom Oranienplatz etwa.

Und wieviel würde das kosten?

Karon überlegt wieder und sagt: Ich denke, zwischen 2000 und 3000 Euro.

Noch im Sommer vor anderthalb Jahren hätte Richard sich beinahe ein Surfbrett gekauft (1495,- Euro), aber be­vor er sich hatte entscheiden können, war schon der Herbst dagewesen, und im letzten Sommer, nachdem der Mann im See ertrunken und nicht mehr aufgetaucht war, hatte ihm natürlich nichts ferner gelegen als der Kauf eines Surfbretts. Dagegen wäre der Kauf eines staubsaugenden Roboters (799,- Euro) sicher auf jeden Fall eine gute Idee, auch einen …

S. 252f

Knaus-Verlag, München, 2015

Es gibt noch Richter in …

Posted in Geschichte, Gesellschaft, heimkinder, Justiz, Kinderrechte, Kirche, Kriminalität, Soziologie by dierkschaefer on 16. Februar 2014

… in Berlin, so geht das Sprichwort weiter. Es gibt zum Glück auch noch Richter in Straßburg.

Martin Mitchell/Australien verdanke ich den Link über das Urteil des EuGH.[1] Und allen, die an der ausbleibenden Gerechtigkeit im Sinne gerechter Rechtsprechung zweifeln, empfehle ich die vergnügliche Lektüre vom hochwohllöblichen Kammergericht zu Berlin, das den „längst berüchtigten Prediger Schulz zu Gielsdorf“ rehabilitierte und vor dem Gottesgnadenkönig und seinem pietistischen Minister nicht zu Kreuze kroch. [2]


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