Ein Besatzungskind will nach Hause
»Anthöfers Geschichte war schon in den 1990er Jahren das erste Mal in den Medien. Sie steht exemplarisch für die Geschichte von Tausenden Besatzungskindern. Schätzungen gehen für 1945 bis 1955 von mindestens 400.000 Kindern aus, die aus Verbindungen mit Besatzungssoldaten stammen. Anthöfers Suche nach seinem Vater wurde zu seiner Lebensaufgabe.«[1]
Als er ihn fand, war der Vater seit fünf Wochen tot. Anthöfer wollte es wissen und ließ ihn exhumieren. Das Ergebnis war positiv. Er blieb in West-Virginia, pflegte seine Mutter, die er mitgenommen hatte, bis zu ihrem Tod. Nun ist er selber krank, Magenkrebs, auf 44 Kilo abgemagert. Mit seiner Krankenversicherung hat er keine Chancen im amerikanischen Gesundheitssystem und möchte zurück. Aber einen Ambulanzflug kann er sich nicht leisten. Und auf Antwort der Botschaft in Washington wartet er jeden Tag. Sein großes Ziel war es immer, ein Grundsatzurteil zu erstreiten, das allen Kindern von US-Soldaten mehr Rechte verschafft. „Dann hätte das Ganze doch einen Sinn gehabt“, sagt er.«
Vielleicht, aber nur vielleicht erreicht ihn sein Anteil aus dem Heimkinderfonds noch rechtzeitig. Doch dort, so hat man ihm gemailt, gibt es eine Wartefrist von sechs Monaten. Anthöfer hat sein Photo hingeschickt, wie er total abgezehrt im Krankenbett liegt. Wenn er ein medizinisches Gutachten vorlegen könnte, wonach er noch höchsten sechs Monate zu leben hätte, dann könnte seine Akte vorgezogen werden. Eine makabre Vorzugsbehandlung, aber bürokratisch korrekt. Doch Geld für ein Gutachten hat er nicht.
[1] Alle Zitate: http://www.ksta.de/koeln/koelner-schicksal-sein-letzter-wunsch–zurueck-nach-koeln,15187530,29980392.html
Ehemalige Heimkinder im Wiener Parlament!
Ehemalige Heimkinder im Wiener Parlament!
Zwar war es nur das Gebäude des österreichischen Parlaments, in das ehemalige Heimkinder am 5. März 2010 eingeladen hatten.
Doch das hatte einen mehrfach symbolischen Charakter.
Zum einen galt die Veranstaltung jenem Jenö Alpár Molnár, der dem österreichischen Staat zu verdanken hat, daß seine Herkunft verschleiert blieb und er nach einer fürchterlichen Zeit in österreichischen Heimen ohne Papiere und damit auch ohne Staatsangehörigkeit auf der Straße stand. Zum anderen wurde durch das Schicksal von Herrn Molnár erstmals in Österreich, und dies sogar im Parlamentsgebäude öffentlich gemacht, wie es in den dortigen Heimen zuging. Nicht anders als in Deutschland: Kinder wurden gedemütigt, mißhandelt und manche auch mißbraucht. Es fehlte an Bildungsangeboten und als Lehrberufe kamen nur solche infrage, die für die Jugendämter, also für den Staat, nichts kosteten, das war vielfach die Bäckerlehre.
Zu Herrn Molnár verweise ich auf meine Rezension seines Buches hier im Blog:
https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/02/18/geschichte-einer-geraubten-kindheit-rezension/
Das Podium im Budget-Saal des Parlaments war fachkundig besetzt und zur Überraschung der meisten entpuppte sich Prof. Dr. Bauer, Kommunikationswissenschaftler an der Wiener Universität als Heimkamerad von Herrn Molnár. Er war der lebendige Beweis dafür, daß Heimkinder sogar in Spitzenpositionen gelangen können, doch die Umwege zum Erfolg waren, wie Herr Bauer nicht ohne innere Bewegung vorbrachte, nicht „zielführend“, wie man heute sagt, denn sie führten durch Obdachlosigkeit und den Kampf ums nackte Überleben. Im Publikum saßen noch mehr Menschen, die Zeuge waren für die damals üblichen Menschenrechtsverletzungen in den Heimen.
Ich muß die Veranstaltung hier nicht ausführlich beschreiben, denn sie wurde komplett dokumentiert vom ORF, dem österreichischen Fernsehen, und von Peter Henselder, der seine Videoaufnahme ins Netz stellen wird. Sobald ich den Link habe, werde ich ihn hier einfügen.
Die Frage ist: Was wurde erreicht, was sind die nächsten Schritte?
Erreicht wurde, daß die Heimkinderdiskussion nun auch in Österreich angekommen ist. Im Unterschied zu Deutschland waren die meisten Heime in staatlicher Hand.
Dieser Staat muß nun seine Verantwortung erkennen und Entschädigung leisten – eine Klage ist auf dem Weg. Die österreichische Gesellschaft muß sich fragen (lassen), wie man angesichts der schuldhaften Verstrickung des Staates und dem eigenen damaligen Wegsehen nun Strukturen schafft, die einerseits den Familien helfen, ihrer erzieherischen Verantwortung gerecht zu werden, aber im Falle eines anhaltenden familiären Versagens Kindern und Jugendlichen so zu Hilfe kommt, daß sie in die Lage versetzt werden, erwachsen geworden ihr Leben zu „meistern“. Das wird der Staat nicht allein schultern können, sondern hier ist die Gesellschaft zur Mitwirkung aufgerufen, freundliche soziale Kontrolle zu leisten, Pflegschaften zu übernehmen, Lehrstellen zu bieten, Talente zu fördern und nicht zuletzt, den Aufwand über Steuern zu finanzieren. Das wird um so bereitwilliger geschehen, wenn wir endlich lernen, Ausgaben für Kinder und Jugendliche nicht als Unkosten zu begreifen, sondern als Investitionen, ein Lernfortschritt, den wir in Deutschland auch noch nicht erreicht haben.
Eigentlich wäre es ganz einfach. Am Wiener Parlament ist Artikel 1 der Menschenrechte eingemeißelt.
Problem ist nur, daß dieser repräsentative Eingang des Parlaments nicht mehr benutzt wird. Man betritt das Gebäude heutzutage ein Stockwerk tiefer, auf der Erdgeschoßebene. Also müßte das Menschenrecht im wahrsten Sinne des Wortes etwas tiefer gehängt werden, tief genug, daß man es lesen, tief genug aber auch, daß man nicht drunterdurch schlüpfen kann.
Geschichte einer geraubten Kindheit, Rezension
Geschichte einer geraubten Kindheit
Die Erstauflage des Buches datiert von 2008. Zu dieser Zeit war „Jöri“ 62 Jahre alt. Der im Buch 14jährige erzählt mit vielen Rückblenden aus seiner Heimzeit. Am Ende des Berichts steht der Beginn der nicht gewollten Bäckerlehre – und wie es bei dem Bäcker zugeht, erfahren wir auch, denn ein Kamerad von Jöri war schon da.
Die Geschichte von Jenö Alpár Molnár kann man in doppeltem Sinne als Geschichte einer geraubten Kindheit lesen.
Den einen Aspekt einer geraubten Kindheit kennen wir aus der derzeitigen Heimkinderdiskussion: Unfähiges Heimpersonal, Prügel und Demütigungen, Gewalt, auch unter den Kindern selbst, bis zu sexuellen Übergriffen. Im Hintergrund Jugendämter, die die Kinder nur verwalten, und das möglichst kostengünstig.
Der andere Aspekt liegt in einem Geheimnis, ähnlich wie bei Oliver Twist oder bei Kaspar Hauser: Wer sind die Eltern von Jöri? Jöri wird als Waise behandelt, doch er ist fest überzeugt, daß seine „Mom“ lebt und er auch einen Vater hat. Es sind nicht nur die üblichen Nachkriegsverhältnisse, die seine Familie auseinander gebracht haben. Das Geheimnis seiner Herkunft ist gezielt herbeigeführt. Die US-Besatzungsarmee in Österreich wollte Ehen zwischen ihren Soldaten und Einheimischen verhindern, so wie auch dafür gesorgt war, daß Vaterschaftsfeststellungen vereitelt wurden durch Versetzungen der Soldaten und Verschleierung der Spuren, wie ich es auch von einem Besatzungskind in Deutschland weiß. Diese von den besetzten Ländern akzeptierte Situation gilt bis heute. Allerdings verwundert das Verhalten der USA nicht, haben sie doch als einziges Land der Welt neben Somalia die UN-Kinderrechtskonvention bis heute nicht unterzeichnet; die Konvention gibt dem Kind ein Recht auf Kenntnis seiner Herkunft. Im Fall von Jöri verweigerten die Behörden nicht nur Kooperation und Auskunft, sondern die Besatzungsmacht griff aktiv ein: Militärpolizisten holten den kleinen Jöri ab, brachten ihn ins Heim und man sagte der Mutter, er sei beim Vater. Die Akten wanderten mit ins Heim, doch sie blieben lange Zeit geheim. Jöri aber „wußte“, daß seine Mutter auf ihn wartet (erst 1986 fanden die beiden wieder zusammen). Die Militärpolizei tauchte in den Träumen des kleinen Jöri auf.
Wie kam Jöri damit zurecht? Uns begegnet ein äußerst lebendiger Junge, zäh, umsichtig und mit ungeheurer Durchsetzungskraft – und er „trägt das Herz auf der Zunge“, wie es mehrfach heißt. Das hatten (und haben) Erzieher nicht so gern, denn solch ein Kind hat seinen eigenen Kopf, ist unbequem und tanzt aus der Reihe. Am schlimmsten war die prügelnde Schwester Margit; na ja, da ist auch noch die Heimleiterin, die Jöri brutal zusammenschlägt, nachdem er ihr eine Standpauke gehalten hat – und ihn schließlich zu dem Bäcker in die Lehre schickt, von dem sie weiß, wie er seine Lehrlinge skrupellos ausbeutet. Doch Lehrjahre sind keine Herrenjahre, meint auch das Jugendamt. Die Bäckerlehre ist kostengünstig – und die „Berufsberatung“ eine Farce.
Wie kam Jöri damit zurecht? Das ist die Frage nach den Schutzfaktoren, nach der „Resilienz“. Davon hatte Jöri sehr viel. Über die Lebensenergie, die er von Geburt mitbekam, können wir nur spekulieren. Doch wir wissen, daß es Säuglinge und Kleinkinder gibt, die voll Energie stecken, manchmal durchaus zum Leidwesen der gestreßten Eltern. Und dann gibt es die „Pflegeleichten“. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jöri jemals phlegmatisch war. Im Heim jedenfalls nicht. Wir sehen einen Jungen, der den Widerstand organisiert, sich für Schwächere einsetzt, der Schwester Margit – wie zum Schluß auch der Heimleiterin – die Leviten liest und planvoll und erfolgreich dafür sorgt, daß Schwester Margit das Heim verlassen muß. Er entmachtet auch Stefan, den Primus und Liebling von Schwester Margit, und organisiert die Gruppe als Beistands- und Schutzgemeinschaft. Er gibt sich auch nicht damit zufrieden, daß die Heimleiterin nichts gegen die fünf Jungen tun will, die ihn überfallen und geschändet haben, und er setzt sich durch. Jöri hat allerdings auch Unterstützer, nicht nur seine Kameraden. Da sind insbesondere die Schwester Gusti und der Lehrer, freundlich sind aber auch der Schreiner im Heim und die Küchenchefin. Sie sichern Jöri eine abgehobene Position, auch wenn der Heimalltag immer wieder unbarmherzig durchschlägt.
Mindestens genau so wichtig erscheint mir jedoch etwas anderes. Es ist das große Geheimnis, dem er auf die Spur kommen muß – und er „weiß“ eine ihn liebende Mutter irgendwo auf der Welt. Das heißt: In seiner Vorstellung existiert eine enge Mutter-Sohn-Bindung, die ihm Kraft gibt, den Mißhandlungen und Ungerechtigkeiten im Heim zu trotzen. Er fragt nicht nach den Elternhäusern der Kameraden, sieht die Nicht-Waisen eher im Vorteil, weil Jugendamt und Heim sich denen gegenüber nicht so viel herausnehmen können, wie bei den schutzlosen Waisen. Er fragt nicht, warum seine Kameraden nicht bei ihrer Familie aufwachsen, wo wir doch wissen, daß manche Familien ihre Kinder mißhandeln und mißbrauchen und sie deshalb im Heim leben. Daß viele Kinder unter der „professionellen Pädagogik“ ebenso leiden mußten wie daheim, das steht auf einem anderen Blatt. Jöri ist seinem Geheimnis auf der Spur – und als es ihm aufgedeckt wird, darf er zwar darüber nicht sprechen, doch nun weiß er definitiv, daß er von seiner ihn liebenden Mutter fortgerissen wurde.
Die Biographie Jöris deckt nicht nur die „Schwarze Pädagogik“ in der Heimerziehung auf, sondern auch den Schandfleck des us-amerikanischen Umgangs mit Kinderschicksalen und in der Folge auch des österreichischen Staates, der nicht nur seiner Aufsichtspflicht über die Heime nicht nachkam, sondern Jöri als Staatenlosen ins Leben entließ. Es ist die Geschichte der Ausgrenzung als lästig empfundener Kinder, Kinder, die vom Personal weder gemocht werden (von geliebt ganz zu schweigen), noch nach den Regeln des pädagogischen Wissensstandes erzogen wurden. Heute verlangen diese Kinder Anerkennung, Rehabilitation und Entschädigung, in Irland, in Deutschland, in Österreich – und demnächst wohl auch anderswo, denn es ist nicht anzunehmen, daß es in anderen Ländern besser war. Doch auch jetzt sind sie nur lästig, die ehemaligen Heimkinder. Für Betroffenheitsbekundungen reicht es wohl, aber bis zu einer materiellen Anerkennung des staatlich zu verantwortenden, meist aber kirchlich praktizierten Unrechts ist es noch weit.
Wäre das Buch kein Lebensbericht, hätte es keinen dokumentierenden Bildanhang, könnten wir es als klassischen Bildungsroman lesen: Ein junger Mensch auf dem mit zahlreichen Hindernissen gespickten Weg ins Erwachsenenalter. Erzählform ist das Imperfekt, die Dialoge und reflektierenden Gedanken jeweils in der Gegenwart. Dadurch wird die „Handlung“ lebendig und Jöri so sympathisch, daß man sich unweigerlich von Seite zu Seite mehr mit ihm identifizieren kann. Das gilt für sein heldenhaftes Verhalten und seine Klarsicht; aber auch für die ungewöhnliche Reife bei seiner unbefangenen Behandlung pubertärer Sexualnöte und für sein Liebeserlebnis mit der Küchenhilfe Lisa. Wer in der damaligen verklemmten Zeit aufgewachsen ist, hätte an diesen Punkten jedenfalls gern mit ihm getauscht.
Doch dieser Bildungsroman mit Dokumentationsanspruch wirft auch Fragen auf. Das Buch ist im Rückblick auf den 14jährigen und dessen Vergangenheit geschrieben. Das ist nicht unproblematisch, denn auch wenn man unterstellt, daß Jöri in Gedanken und Verhalten reifer war als altersüblich, so ist doch kaum anzunehmen, daß er damals zu den Formulierungen, Monologen und reifen Gedankengängen in der Lage war, wie im Rückblick auf den 14jährigen. Der Leser fragt sich, inwieweit in dieser Darstellung bereits die Gedanken und Verarbeitungsversuche, auch die Stilisierungsbemühungen des Erwachsenen den Blick auf den damaligen Jöri beeinflußt haben. Es mag auch sein, daß der Autor versucht, sich ein Stück des ihm gestohlenen Lebens zurückzuerobern. Auch wüßte man gern, wie es dem Jöri später erging. Hier vermißt man ein erhellendes Editorial, hervorgegangen aus einer auch psychologisch fachkundigen Begleitung beim Erstellen des Manuskripts.
Doch abgesehen davon: Ein lesenswertes Buch, das uns das Schicksal der abgeschobenen Kinder näher bringt und uns nachdenklich werden läßt; nachdenklich, weil wir immer noch nicht sicher sind, wie wir Kindeswohl außerhalb der Familie bieten können, wenn die Familie – warum auch immer – ausfällt. Die Prügelpädagogik ist zum Glück vorbei. Die Rechte der Kinder aber scheitern all zu oft an der Realität, die wir Erwachsenen für uns geschaffen haben.
Jenö Alpár Molnár, Wir waren doch nur Kinder …Geschichte einer geraubten Kindheit; August von Goethe Literaturverlag, Frankfurt, 20092, 301 Seiten, plus Bildanhang, 17,40 €
Rezensiert von Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll
Fon: (0 71 64) 1 20 55, Mail: ds [at] dierk-schaefer.de
Die Rezension bezieht sich ausschließlich auf das Buch.
Unter http://www.interview-trier.de/Molnar.html kann man mehr über „Jöri“ erfahren.
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