Nicht in den Akten? Dann gibt es das ja gar nicht?
Dieser Artikel ist ein Vorwort zur „Unrühmlichen Geschichte des Bodelschwingh Clans“, verfasst von Johannes Lübeck. Link: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2021/03/text-blog.pdf
Quod non est in actis non est in mundo[1]. Die Welt ist aber größer als Akten hergeben, ein Blick in die Zeitung reicht.
Sogar wir stehen in Akten, – beim Standesamt oder in Flensburg. Uns gibt es schon. Doch wen interessiert das – aktenmäßig? „Unvergessen“ steht nur in der Todesanzeige bei uns Nobodies. Wären wir Somebody, sähe das anders aus. Für Luther, zum Beispiel, interessiert sich auch die Nachwelt und macht den Inhalt der elterlichen Abfallgrube zum Studienobjekt und damit aktenkundig.[2] Gerichtsakten müssen schon von besonderen Delinquenten berichten, damit die Akten jemanden interessieren.[3]
Akten können aber auch lügen, sie sind nur bedingt verlässlich. Historiker, besonders die Kirchenhistoriker kennen das. Berühmt ist die Akte von der Kostantinischen Schenkung[4]. Ein Fake, wie wir heute sagen. Sie wurde erstellt, um die Rechte der der römisch-katholischen Kirche zu dokumentieren, territoriale Ansprüche und die Führerschaft in der Christenheit gegenüber Byzanz. Dazu eignete sich als Garant vorzüglich Konstantin, der erste christliche römische Kaiser. Der Fake flog 1440 auf, wurde aber noch lange gepflegt. Auf die frommen Vordatierungen des Gründungsdatums vieler Klöster will ich gar nicht erst eingehen. Im Mittelalter dachte man anders; „bei Urkunden kam es auf den (plausiblen) Inhalt, nicht die Herkunft an.“[5] Von dieser Ansicht sind wir weit entfernt.
Um Akten geht es auch in der gegenwärtigen Diskussion über Misshandlungen und Missbräuche von Kindern und Jugendlichen. Doch wer dokumentiert das schon? Sollte es aber Zugänge zum Problemkreis geben, z.B. in Personalakten, in Praktikantenberichten o.ä., dann unterliegen sie Zugangsbeschränkungen, sie sind „unauffindbar“, schon vernichtet oder purgiert. Oder bereits ihre Anlage wurde amtlich verhindert:
„Bei der Polizei: N.L. ist 21, geht zur Polizeiwache [der Ort wird genannt], erzählt seine Geschichte wird rausgeworfen und verprügelt. Das Resultat: aufgeschlagene Knie. Der Polizist heißt P.B. [Der Name wird genannt]“. … „Der Unglauben der Leute rühre meist daher, dass diese Vorkommnisse und das von N.L. Erlebte so monströs sind und unglaublich klingen. So erkläre sich auch die Reaktion des Polizisten, der N.L. aus dem Polizeirevier hinauswirft.“[6] Später, in vergleichbarem Zusammenhang: „Immer des. I soll kein Schmarrn erzählen. Des gibt´s doch net, sowas machen doch die nicht.“[7]
Zuweilen gibt es auch Zufallsfunde. So stieß der Kirchenhistoriker Hubert Wolf im Vatikan auf eine Inquisitionsakte, die (auch zufällig?) falsch eingeordnet war.[8]
Wer sucht, stößt auch auf Zeugenaussagen von Betroffenen.[9] Etwas vorschnell hatte ich die Ohrenzeugen der Augenzeugen als Quelle genannt[10]. Ich befragte einen Kirchenhistoriker dazu, weil ich wissen wollte, ob die aktuelle Missbrauchsdiskussion, davor aber noch das Schicksal der Heimkinder, in den Focus der historischen Forschung kommt oder gar schon gekommen ist. Das Gespräch war ernüchternd. Man ersticke ohnehin im Material, so viel sei es in der neueren Zeit geworden. Man nehme nur, was regelrecht dokumentiert sei, Zeitungsartikel oder gar das Internet seien keine zuverlässigen Quellen. Kurz: Nur was schwarz auf weiß archiviert ist, verdient das Vertrauen des Historikers. So wartet er auf die absehbare Freigabe der Akten von Hermann Kunst[11], die Stoff für mindestens zwei Dissertationen bieten würden.
Da haben Zeugen vom Hörensagen keine Chance, so glaubwürdig sie selbst auch sein mögen, auch wenn ihre Aussagen glaubhaft sind. Wenn ihre Berichte noch dazu Mächtige vom Thron stürzen könnten, umso mehr. Bethel und die Bodelschwinghs[12] sind solch ein Fall. Bethel zählt wie die Bodelschwings zu den Leuchttürmen der evangelischen Welt in Deutschland.[13] Ihre Verdienste sind auch nicht zu bestreiten. Doch wo Licht ist ….
Lübeck schreibt – und ich habe es als Motto vorangestellt: „Man wird schon zum Säulenheiligen, wenn man ein erfolgreicher Spendeneintreiber ist, der wenigstens einen großen Teil des gesammelten Geldes einem guten Zweck zuführt und den Rest für ein angenehmes Leben und die Mehrung des eigenen Ruhmes verwendet. Bei den Katholiken kann man damit gar zur Reinkarnation des Erlösers werden.“[14]
Doch so etwas gefällt dem „Clan“ nicht. Er will seine „Heiligen“ nicht beschmutzt sehen. Lübeck hat seine Erkenntnisse aber offenbar nicht erfunden. Er berichtet, woher sein Wissen kommt und schreibt:
Es ist ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, im Alleingang ein historisches Thema zu bearbeiten, zu dem kaum noch belastbare schriftliche Quellen existieren bzw. zugänglich sind. Erschwerend kommt hinzu, dass beim hier gewählten Gegenstand im Hintergrund mit den Von Bodelschwinghschen Stiftungen eine Einrichtung steht, die sich seit jeher auch augenscheinlich fundierter Vorwürfe vehement und erfolgreich zu erwehren weiß, obwohl in ihrer Verantwortung in großem Ausmaße Akten ausgedünnt bzw. vernichtet wurden, …
An anderer Stelle: Wo aber Archive wiederholt – unter welchen Gesichtspunkten auch immer – entsorgt, gezielt vernichtet, „ausgedünnt“ und/oder nur selektiv zugänglich gemacht wurden und werden, erwächst dem Historiker wie dem Journalisten die Pflicht, das Erinnerungsvermögen von Zeitzeugen auszuschöpfen und Quellen zu erschließen, die nicht den Weg in Archive gefunden haben. Das gilt in besonders hohem Maße für die Forschungsarbeiten, die sich mit dem Wirken von „Helfern der Menschheit“ und den mit ihren Namen verbundenen Einrichtungen befassen und die ihre Archive eigenverantwortlich zusammenstellen, ordnen, verwalten und öffnen.
Lübeck zeigt sich hinsichtlich der Quellenlage problembewusst; er hat keine erkennbaren Eigeninteressen und kann als glaubhafter „Zeuge vom Hörensagen“[15]angesehen werden.
Ohnehin: Als ehemaliger Polizeipfarrer und studierter Kriminologe weiß ich, dass die Kriminalpolizei oft nicht bis zur Realität durchstoßen könnte, wenn sie Zeugen vom Hörensagen keine Aufmerksamkeit (aber keinen blinden Glauben) schenken würde. Historiker sollten das beherzigen.[16]
[1] https://www.proverbia-iuris.de/quod-non-est-in-actis-non-est-in-mundo/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[2] „Erstaunlich gut erhaltene Speisereste der Luthers habe man in der Abfallgrube gefunden, …. Einmalige Belege, die zeigen, wie die Luthers wirklich gelebt haben.“ https://www.deutschlandfunk.de/luther-ausstellung-in-mansfeld-museum-ohne-gaeste.886.de.html?dram:article_id=456882 Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[3] August Gottlieb Meißner (1753-1807) schrieb ganz richtig: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“ Skizzen: Erste und zweite Samlung, S. 129, Aufgerufen. Freitag, 5. März 2021
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinische_Schenkung , Dazu auch die Pseudoisidoren https://de.wikipedia.org/wiki/Pseudoisidor Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[5] Anm. 4
[6] Aus einem Zeugenbericht vom 9.4.2019 über besonders schweren Missbrauch, der Name des Zeugen ist mir bekannt, der komplette Bericht von zwei Betroffenen liegt mir vor.
[7] Erlebenszeugen können , seitdem ähnliche Vorkommnisse bekannt sind, auch bei Richtern auf offene Ohren stoße. Hier war es eine Richterin vom Sozialgericht Darmstadt, die einem Opfer eine umfangreiche Rente nach dem OEG zusprach. Das Urteil hat Aufsehen erregt und wird anderen Opfern helfen. In meinem Blog wurde das Urteils erstmals veröffentlicht. https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/oeg-urteil/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021
[8] Das Konklave und die Nonnen von Sant’Ambrogio, 12. März 2013, https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/03/12/das-konklave-und-die-nonnen-von-santambrogio/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[9] Doch danach muss man schon suchen. Ulrike Winkler und Hans-Walter Schmuhl haben nicht gesucht, sondern nur die Aktenlage wiedergegeben (Das Stephansstift in Hannover (1869-2019), Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Band 33, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2019). Hier ist die Wirklichkeit aber nachweislich deutlich umfangreicher als der Aktenbestand des Stephansstiftes. Schon nach einer simplen Google-Suche hätten sie nicht einen solchen Jubelband zum Jubiläum vorlegen können. Doch wissenschaftlich seriöse Suche gehörte wohl nicht zu ihrem Auftrag. Die beiden Wissenschaftler werden so oft wegen ihrer Unabhängigkeit gelobt, dass man misstrauisch wird. Ich rezensiere gerade diese Studie und werde Wert auf das legen, was nicht in der Studie steht und weitaus interessanter ist, als diese. Grundsätzlich dazu: https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/01/16/was-heist-und-zu-welchem-ende-arbeitet-man-geschichte-auf/ und https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/01/23/gibt-es-einen-widerspruch-zwischen-auftragsforschung-und-wissenschaft/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021
[10] Wenn die Ohrenzeugen der Augenzeugen verstummt sind, beginnt die Geschichtsschreibung. https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/09/09/wenn-die-ohrenzeugen-der-augenzeugen-verstummt-sind-beginnt-die-geschichtsschreibung/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[11] Der Militärbischof D. Hermann Kunst wird im vorgestellten Dokument 28-mal genannt. Z.B.: „Zu denen, die sich bezüglich des Aufbaues von Espelkamp mit fremden Federn schmücken und/oder schmücken lassen, zählt Erich Hampe schließlich Ehrgeizlinge wie den späteren Militärbischof D. Hermann Kunst, Karl Pawlowski vom Johanneswerk Bielefeld, Eugen Gerstenmayer als allmächtigen Chef des Ev. Hilfswerkes und Präses Wilm.“ Ob Informationen dieser Art wohl in den anderen Akten vermerkt sind?
[12] Stammwappen derer von Bodelschwingh https://de.wikipedia.org/wiki/Bodelschwingh_(Adelsgeschlecht)#Bekannte_Familienmitglieder
[13] Fast könnte man Bethel unter die deutschen „Erinnerungsorte“ einreihen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/06/02/erinnerungsorte/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021
[14] Aus einem Mail von Lübeck an mich, Sonntag, 14. Februar 2021. Es ging um eine Veröffentlichung über Pater Werenfried van Straaten, bekannt als „Speckpater“ vom 10. Februar 2021, Erschienen in Christ & Welt: Raoul Löbbert und Georg Löwisch, Gut und Böse, https://www.zeit.de/2021/07/pater-werenfried-von-straaten-held-vergewaltigung-vatikan Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Zeuge_vom_H%C3%B6rensagen Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[16] Sie sollten auch den Eröffnungsvortrag des Hirnforschers Wolf Singer zum 43. Deutschen Historikertag beachten: „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft.“ http://www.brain.mpg.de/fileadmin/user_upload/images/Research/Emeriti/Singer/Historikertag.pdf
Wir Insider wundern uns
„Die Geschichte der Heimkindheiten endlich konsequent aufarbeiten!“ fordert die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Situation Betroffener der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR“[1], im Folgenden Rörigkommission genannt.
Nanu? Hat Frau Vollmer nicht am „Runden Tisch Heimerziehung“ die Aufarbeitung längst besorgt? So richtig begann es 2006 mit dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ [2]. 2008 wurde der Runde Tisch eingerichtet[3], ich selber habe dort bei der „2. Anhörung“ am 2. April 2009 referiert[4] und Verfahrensvorschläge vorgestellt.[5] Mein Blog hat sich in der Folgezeit hauptsächlich mit den Heimkindern beschäftigt, so auch andere Plattformen im Netz.[6] In der Folge begannen manche Heime ihre Vergangenheit in umfangreichen seriösen Studien aufarbeiten zu lassen. Hier seien nur zwei der vielen Publikationen von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler genannt[7]. Dazu kommen noch die Berichte über die Ergebnisse des Runden Tisches von Prof. Kappeler, ein überaus kompetenter Fachmann, der vom Runden Tisch wohlweislich ausgegrenzt wurde.[8]
Was will die Kommission mehr?
Kann sein, dass auch sie mit den Ergebnissen des Runden Tisches nicht zufrieden ist. Da werden ihr viele, so auch ich, beipflichten. Der Runde Tisch hatte zwar auch ein paar wissenschaftliche Arbeiten in Auftrag gegeben, doch es handelte sich bei dem Runden Tisch um einen von Beginn an eingefädelten Betrug.[9] Dort wurden die ehemaligen Heimkinder gekonnt von Antje Vollmer über den Tisch gezogen.[10] In quasi mafiöser Verbindung konnten Staat und Kirchen das für sie Schlimmste verhindern: Eine echte Entschädigung und eine Anerkennung der Arbeit der Kinder in Fabriken und Landwirtschaft als Zwangsarbeit. Medikamententests an Kindern kamen nicht zur Sprache, für Säuglingsheime, Behinderteneinrichtungen und psychiatrische Unterbringungen zeigte man sich nicht zuständig. Durch ganz andere Problemlösungen im Ausland, zb gerichtliche Untersuchungsausschüsse ließ man sich nicht irritieren. Die Rechtsnachfolger der Misshandler traten in die Fußstapfen der Täter. Es hätte eine Lösung gegeben: Der Staat (die Länder und ihre Jugendämter) übernehmen die Verantwortung, zahlen Entschädigungen und refinanzieren sich bei den kirchlichen Einrichtungen. Hätte – aber genau das wollte man nicht.[11]
Wenn die Rörigkommission diese Fälle, ergänzt durch die hinzugekommenen Missbrauchsfälle, die damals kaum Thema waren, neu aufrollen will, muss sie die Erfahrungen der Heimkinder berücksichtigen: all die Untersuchungen haben für sie nichts gebracht. Ihre Berichte waren nur das Rohmaterial für Wissenschaftler, die damit ihr Geld verdienten und ihr Karriere beflügelten. Gewiss, sie gaben den Opfern Anerkennung, ihre Ergebnisse riefen bei den Rechtsnachfolgern „Betroffenheitsgestammel“[12] hervor, doch die waren damit glimpflich davongekommen und die Heimkinder fühlten sich abermals missbraucht. Wenn Herr Rörig mit seiner Kommission die Lage dieser Gruppe nachhaltig verbessern will, ist er herzlich willkommen. Das Beweismaterial liegt vor. Neue Untersuchungen sind unerwünscht. Sie würden nur als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gesehen. Auch schon lange fordern die Heimkinder für sich andere Lösungen als Alters- oder Pflegeheime. Alles längst bekannt.[13]
Es mag sein, dass die Kommission vornehmlich die Missbrauchsfälle sieht, weil sich bei ihr dieser Personenkreis gemeldet hat, der zuvor nicht so sehr im Blickpunkt stand. Das Meldeaufkommen nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Piusheim macht deutlich, dass dieser Bereich noch ein großes Dunkelfeld bergen dürfte. Ich weiß, dass wir in nächster Zeit noch einiges über klerikale Pädokriminalität hören werden einschließlich der wirtschaftlichen Nutzung der Missbrauchsopfer. Das wird noch spannend. Aber …
Aber das interessiert die Öffentlichkeit nur vorübergehend. Die Heimkinder fanden sogar persönliche Beachtung in ihrem jeweiligen Lokalblatt, das sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, Opfer aus der näheren Umgebung präsentieren zu können. Es ist den Medien nicht vorzuwerfen, dass sie immer eine neue Sau durch ihre Blätter jagen müssen, denn der Skandal von heute verdrängt den von gestern. Die Leute wollen im Grunde nichts wissen, sondern nur unterhalten werden – und das ist der eigentliche Skandal.
Wenn die Rörigkommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit all den erforderlichen Vollmachten durchsetzt, wenn diese Untersuchungen die Staatsanwaltschaften nötigen, die einschlägigen Archivakten in Jugendämtern, Kirchen, Klöstern und Jugendhilfeeinrichtungen zu beschlagnahmen, und das unabhängig von der Verjährungsfrage[14], dann dürfte sie auch Unterstützung von den Opfern erwarten.
Kurz zur Verjährung: Sie ist eigentlich dazu gedacht, Rechtsfrieden zu schaffen für Uraltfälle. Eine nicht befriedigende aber letztlich befriedende Lösung. Doch hier hilft sie nicht. Die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern, den Misshandelten und den Missbrauchten stellen das wohl größte Verbrechen in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Prof. Kappeler: „Mitten im Kern des eigenen Gesellschaftssystems geschieht solches Unrecht in unvorstellbaren Ausmaß und sämtliche – verfassungsrechtlich, staatsrechtlich, verwaltungsrechtlich! – vorhandenen Kontrollsysteme versagen; nicht zufällig!“[15] Die Zahl der Opfer ist kaum überschaubar, die „Qualität“ der Verbrechen reicht von deutlicher Benachteiligung und Ausbeutung bis hin zu Monstrositäten grundlegender Menschenrechtsverletzungen Hier kann nicht gesagt werden: „Schluss jetzt, Schwamm drüber.“ Wir werden – Verjährung hin oder her – keinen Rechtsfrieden bekommen, allenfalls Friedhofsruhe, wenn die Opfer gestorben sind – doch ihre Geschichten leben weiter.
Hinzu kommt, dass in vielen Fällen der Rechtsweg von Beginn an schuldhaft versperrt blieb: Wer sich über seine Misshandlungen beklagte, (sei es in der Einrichtung oder bei der Polizei, den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft,) wurde nicht nur abgewimmelt, sondern zuweilen auch noch geprügelt, weil er „Lügen“ erzähle. Wer, mündig geworden, auspackte, wurde bedroht. Beispielhaft sei hier Alexander Markus Homes genannt. Sein Buch „Prügel vom lieben Gott“ erschien erstmals 1981, also vor inzwischen 39 Jahren. Und die Kirche versuchte, ihn mundtot zu machen.[16] 1999 erschien das Buch MUNDTOT.[17]von Jürgen Schubert, ein weiterer Pionier. Schließlich ist noch an Paul Brune zu erinnern. Es geht dabei nicht um das Unrecht während der Nazi-Zeit (er wurde in eine der Tötungsstationen der Kindereuthanasie eingewiesen), sondern um das in der Bundesrepublik.[18]
Mich würde auch interessieren, mit welchen Methoden die Organisatoren der Kinderbordell-Einrichtungen gearbeitet haben, um die Heimkinder für den Sexmarkt gefügig zu machen und wer abkassiert hat.
Aber: welche Bedeutung haben Opfer angesichts der mächtigeren Interessenvertreter?
Es ist gut, sehr geehrter Herr Rörig, dass Sie sich nun über die Missbrauchsfälle hinaus auf breiterer Front eingeschaltet haben. Schließlich umfasst das Spektrum missbräuchlicher Behandlung von Schutzbefohlenen weitaus mehr als nur den sexuellen Bereich; die menschliche Bosheit ist bodenlos.[19]
Wir sind nun einer neuen(?) Form des sexuellen Missbrauchs auf der Spur, der Bordellisierung von Heimkindern. Ansätze dazu gab es bereits in der Korntal-Sache; die konnten aber m.W. nicht ausreichend belegt werden. Nun hören wir von ähnlichen Vorwürfen aus Mallorca und aus dem Piusstift. Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie in Sachen Piusstift Beweismaterial beschaffen könnten.
Eine andere Investigativgruppe ist mit ihren Recherchen schon weiter. Eine erste fundierte Anzeige läuft bereits. Doch wie Sie wissen sind Staatsanwälte weisungsgebunden und die Schutzlobby der Täter ist mächtig. Haben Sie einen Draht „nach oben“?
Wenn dieser Kinderbordell-Fall demnächst, wie ich vermute, in die Medien kommt, müssten Sie mit Ihrem Material bereitstehen. Denn für „Kinderkram“ ist die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums wie auch die der Politiker nicht so groß wie für Corona. Dann sollten Sie in Ihrer Funktion dafür sorgen können, dass ein Staatsanwalt mit seinem Team direkt ins Archiv marschiert, bevor dort die Akten vernichtet werden. Wie weit geht Ihre rechtliche Kompetenz? Sind Sie befugt, Klage zu erheben und werden Sie es tun?
Sollte Ihnen bei der Sichtung des Materials, das ich Ihnen jetzt präsentiert habe, der Kopf schwirren, empfehle ich zur Entspannung ein Kapitel aus den Aufzeichnungen des Heimkindes Dieter Schulz. „Von Auerbachs Keller in den Venusberg“.[20]
Fußnoten
[1] Stellungnahme vom 23. April 2020,https://www.aufarbeitungskommission.de/meldung-23-04-2020-stellungnahme-aufarbeitung-heimkindheiten/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schl%C3%A4ge_im_Namen_des_Herrn.Heimkinder waren vorher schon einmal Thema gewesen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ Fußnote 1.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Runder_Tisch_Heimerziehung_in_den_50er_und_60er_Jahren
[4] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/runder-tisch-bericht-ds.pdf
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/verfahrensvorschlage-rt.pdf
[6] Beispielhaft sei hier nur die umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit der Freien Arbeitsgruppe JHH aus Volmarstein genannt. http://www.gewalt-im-jhh.de/Grundung_der_Freien_Arbeitsgru/grundung_der_freien_arbeitsgru.html Nicht zu vergessen die stupende Aktivität von Martin Mitchell in Australien, ehemaliger Zwangsarbeiter im Moor von Freistatt bei Bethel. https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/01/freistatt_kappeler.pdf
[7] Rezensionen: Himmelsthür:https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/01/rezension-himmelsthc3bcr.pdf und Volmarstein: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
[8] http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Kritischer_Ruckblick_2011.pdf Interessant ist, dass hier die Autoren eine mythisch-literarische Sprache verwenden: „Sie schreiben: »Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das ‚Herz der Finsternis‘« So heißt der Roman von Joseph Conrad, in dem er eine (fiktive) Expedition zum Oberlauf des Kongo, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II beschreibt. Der „Freistaat Kongo“ stand außerhalb jeglichen Völkerrechts. Seine Bevölkerung wurde millionenfach zur Arbeit gezwungen, verstümmelt, versklavt, getötet. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6864476092/in/photolist-bss87h-bsAdtW-bstBdj-bFv4Nz-bFoukV-bFmU1D-brHiv7-bFmHZK-bFn3fv-bFn4MD-bss62f-bsAbz7-bsAeA5-bstGNY-bsAd8N-bstK9w-bFoDuR-bFmSHB-bFmPwD-bFmMWB/ Das Ganze unter dem „Deckmantel eines wortreichen humanitären Missionseifers“.
Auch ich griff – eher unbewusst – auf solch ein mythisch-literarisches Vorbild zurück, als ich meinem geplanten Essay über die Klerikale Pädokriminalität dieses Motto voranstellte:
„Willkommen im Reich des Bösen!
Lasst, die ihr reinkommt, alle Hoffnung fahren!
Ach so, nur zu Besuch …
Auch Kinder dabei? Nein? Schade.“
Hier regiert die Phantasie von de Sade, der nicht nur wegen seiner Phantasien viele Jahre seines Lebens eingekerkert war. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/49821171961/in/dateposted-public/ Ein Schmankerl: de Sades Schädel von Dr. Ramon nach den Methoden der Phrenologie untersucht: „Sades Schädel glich in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407841.html
[9] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[10] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
[11] Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8409300786/in/photostream/
[12] Helmut Jacob, Volmarstein, prägte diesen zutreffenden Begriff.
[13] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/02/noch-einmal-ins-heim-von-den-letzten-dingen/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/14/wer-will-ins-heim-ins-altenheim-vom-stephansstift/
[14] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/28/schindluder-mit-dem-heiligen/
[15] http://heimkinderopfer.blogspot.com/
[16] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/09/06/alexander-homes-ein-pionier/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/27/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt-2/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/06/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt/ dort: „Hintergrund“
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/09/22/man-hat-uns-die-religion-mit-prugeln-implantiert/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/15/das-system-schlug-mit-wucht-zuruck/
Hier ein sehr erhellender Auszug aus dem Buch von Homes: https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/13/wir-haben-den-kindern-immer-wieder-gesagt-dass-wir-sie-im-namen-von-jesus-christus-erziehen/
[17] http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Nachkriegsbiographie_MUNDTOT_bei_Aachener_Juergen_Schubert.html
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/06/merkwurdig-die-vinzentinerinnen/
[18] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/12/26/der-fall-paul-brune/
https://www.lernzeit.de/lebensunwert-der-weg-des-paul-brune/
[19] 1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/12/21/1-weihnachtsfest-mit-2-diakonissen/
150 Jahre Bethel – Ein chrismon spezial
»„Für Menschen da sein“: Das ist so ein einfacher Satz.« So begrüßt Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, die liebe Leserin und den lieben Leser.
Und dann schreibt sie von der außerordentlich segensreichen Entwicklung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel seit den allerersten Anfängen.
Nun darf man von der ersten Frau der westfälischen Kirche nicht erwarten, dass sie mit ihrer Gratulation die Festharmonie stört. Aber chrismon hätte wenigstens auf einer Seite an die nicht so segensreichen Momente in dieser Entwicklung erinnern müssen. Ich, der ich viele Kontakte mit ehemaligen Heimkindern habe, fühle mich an den Film von Thomas Vinterberg erinnert. Dort wird auch ein Fest gefeiert, ein Familienfest. Und dann geschieht das Schockierende. Der Jubilar sieht sich mit den Vorwürfen konfrontiert, zwei seiner Kinder missbraucht zu haben.[1] Unter der Oberfläche der Harmonie einer funktionierenden Familie taucht das Grauen auf.
Sicherlich ist Bethel eine hilfreiche Einrichtung und nur weltferne Idealisten werden von einem Sozialkonzern mit Eigeninteressen sprechen. Doch wenn das Grauen keinen Platz im Festkalender bekommt, wird das Fest zur Lüge. In der Infographik auf Seite 22f taucht auch das Schild „Freistatt“ auf. Die „Moorsoldaten“ aber werden beschwiegen. Doch vielleicht ist es ja ein versteckter Hinweis, dass zwischen der heutigen Bezeichnung Bethel im Norden und Freistatt Welten liegen. Damals war es brutale Ausbeutung der jungen Schutzbefohlenen, die man beim besten Willen nicht „Arbeitstherapie“ nennen konnte. Der Film „Freistatt“ wurde auf „arte“ gezeigt und ist – in schlechter Bildauflösung – auf youtube verewigt. Den Link dazu findet man in meinem Blog in einem Kommentar.[2] Der Film ist preisgekrönt: »Drehbuchpreis für „Anstalt Freistatt, Moorhof zur Hölle“«[3], unter diesem Link auch der Kommentar von Martin Mitchell, einem ehemaligen „Moorsoldaten“ vom 3. August 2016. Er zitiert aus der Braunschweiger Zeitung.
Hier ein Auszug:
»Sechs Wochen lang hat [der im Jahre 1923 geborene] Erich Helmer 1968 als Pfarrer IM DIAKONISCHEN HEIM IN FREISTATT IM KREIS DIEPHOLZ gearbeitet. Dort waren Jugendliche untergebracht, die als kriminell galten, und Jugendliche, die von ihren Eltern abgeschoben wurden. Helmers Auftrag lautete, die Jugendlichen zu betreuen und mit ihnen Wege aus der Kriminalität zu finden. Dazu kam er aber nicht. Die Jugendlichen mussten von morgens bis abends im Moor schuften. Freizeit gab es nicht, Räume für Einzelgespräche oder einen Hauch von Privatsphäre auch nicht. Helmer erlebte, wie die Jugendlichen geschlagen und getreten wurden, wie sie mit Zahnbürsten den Boden schrubben und sich abends damit die Zähne putzen mussten.«
Zum chrismon-spezial hätte auch ein kurzer Blick auf diesen Teil der Jubelvergangenheit gehört. Nichts davon, auch kein Hinweis auf den Vortrag von »Pastor Friedrich von Bodelschwingh, theologischer Vordenker, Gründungsvater und Chef in Bethel. [Er] behauptete: Die Sterilisierung Behinderter entspreche dem Willen Jesu. von Bodelschwingh wörtlich: „Ich würde den Mut haben, in Gehorsam gegen Gott, die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen.“«[4]
Ist Bethel heute ganz anders? Sicherlich. Aber die FAZ vom 27. Januar 2017 berichtet unter der Überschrift Ausgerechnet in Bethel »„Für Menschen da sein“, so lautet das Motto der Stiftung, von der viele sagen, sie habe mit ihrem Taktieren auf dem Rücken der Menschen ihren Haushalt sanieren wollen. „Von denen kann man in Sachen kaltblütigem Verhandlungsgeschick noch was lernen“, sagt ein an der Sache nicht beteiligter Beamter im Düsseldorfer Schulministerium.« [5]
Spenden für Bethel? chrismon-spezial druckt den Aufruf von Pastor Ulrich Pohl,Vorsitzender des Vorstandes der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel samt Überweisungsträger ab. Der Kollege Pohl zählt zu den Geschäftsleuten des Evangeliums und macht das recht professionell. Hat auch schon einen Platz in meinem Blog samt vielen Kommentaren.[6] Alles lesenswert. Ich beherzige das.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Fest_(Film)
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/27/willkommen-arbeit-macht-frei/
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/18/drehbuchpreis-fur-anstalt-freistatt-moorhof-zur-holle1/
[4] so Alexandra Galle in einem Kommentar von 17. Juli 2015 in https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/12/27/hephata-aus-tradition/
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/27/willkommen-arbeit-macht-frei/
Willkommen, Arbeit macht frei!
Das KZ von Bethel mit Anstaltsgottesdienst hieß Freistatt. Noch 23 Tage können Sie in der arte-Mediathek die bigotte Vergangenheit von Bethel nacherleben: http://www.arte.tv/guide/de/048779-000-A/freistatt .[1] Ziehen Sie mit den Moorsoldaten und ihren Spaten ins Moor und erleben Sie mit den geschundenen Zöglingen einen zu Herzen gehenden Weihnachtsgottesdienst: o du fröhliche!
Heute ist Bethel natürlich ganz anders. Bethel im Norden nennt es sich nun und »hat starke Wurzeln. Die Diakonie Freistatt und der Birkenhof können sich jeweils auf eine über 100 Jahre alte Geschichte stützen. Wir in Bethel im Norden setzen auf diese festen Wurzeln auf und entwickeln eine gemeinsame christliche Identität, um ein starker Partner zu sein, der die Herausforderungen der Zukunft annimmt.«[2] Das ist doch ein Angebot.
Über Bethel heute lesen wir heute in der FAZ unter der Überschrift Ausgerechnet in Bethel »„Für Menschen da sein“, so lautet das Motto der Stiftung, von der viele sagen, sie habe mit ihrem Taktieren auf dem Rücken der Menschen ihren Haushalt sanieren wollen. „Von denen kann man in Sachen kaltblütigem Verhandlungsgeschick noch was lernen“, sagt ein an der Sache nicht beteiligter Beamter im Düsseldorfer Schulministerium.« [3]
Zur Vergangenheit von Bethel sei empfohlen: https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/05/10/jetzt-wissen-wir-wer-schuld-ist-allein-der-bose-staat/
Eine sehr differenzierte, geradezu decouvrierende Würdigung der Forschungsergebnisse zu Freistatt finden Sie hier: freistatt_kappeler
Fußnoten
[1] Film – 98 Min. – 58802 Aufrufe.
[2] http://www.bethel-im-norden.de/ueber-uns.html
[3] FAZ, Donnerstag, 26. Januar 2017, S. 6
Ist doch richtig schön für Bethel: Die Kasse stimmt.
Das wird auch die Bethel-Sklaven von Freistatt ungemein freuen. Der Runde Tisch hat sich gelohnt – für die Täternachfolger.
http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2015_08_19_2_bethel.html
„Was ist das für eine dreckige Welt. Ich habe noch nie so eine schlimme Geschichte gehört.“
Das erzählt der Regisseur Marc Brummund über sein Spielfilmdebüt „Freistatt“ und die Misshandlungen in einer kirchlichen Fürsorgeanstalt.[1]
Extrem schlimme Geschichten – wie wappnet man sich dagegen?
Er sagt im Interview: „Ich habe versucht, mir einen Schutzmantel anzuziehen, damit es mir persönlich nicht zu nahe kommt“.
Schutzmäntel gibt es verschiedene. Ich selber war mit vielen schlimmen Geschichten konfrontiert, als Polizeipfarrer, später mit dem Thema Notfallseelsorge[2], noch später mit den Heimkinderangelegenheiten. Als Pfarrer muss man in der Lage sein, von einem Trauergespräch kommend ein Traugespräch zu führen. Und dies ohne Schauspielerei. Man muss in beiden Fällen dicht bei den Leuten sein, so schlimm die Trauer der einen und so zukunftsfreudig die Stimmung der anderen auch sein mag. Warum ich das konnte, das Einstimmen in die Situation und auch das echte Mitfühlen, das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich als Kind zu oft und zu viele schlimme Geschichten gehört. Von schlimmen Geschichten geht ja auch eine gewisse Faszination aus. Wer sie konsumierend goutiert, ist widerlich. Man muss also schon genau hinschauen und sich einfühlen können.
Der Regisseur Marc Brummund zeigt sich fasziniert von der „Diskrepanz zwischen der neuen Bewegung der 68er, Liberalisierung in Politik, Sexualität, Rockmusik – und innen drin in dieser Gesellschaft haben sozusagen die Nazis weitergemacht.“ Es gibt auch einen persönlichen Bezug. „Freistatt“[3], lag im Moor bei Diepholz, „wo ich geboren und bis zum zehnten Jahr aufgewachsen bin, und auch als Schüler Ausflüge in genau dieses Moor gemacht habe. Das hat mich wahnsinnig berührt und bewegt, als ich mir vorgestellt habe: Irgendwo hier haben vor noch nicht langer Zeit Kinder und Jugendliche ganz heftig gelitten.“ Aber: „Ich habe versucht, mir einen Schutzmantel anzuziehen, damit es mir persönlich nicht zu nahe kommt“. Ob ihm der Versuch geglückt ist?
Ich erinnere mich an einen Zeitungsreporter. Er musste für seine Zeitung auch die schlimmen Verkehrsunfälle aufnehmen. „Ich war froh“, erzählte er, „dass ich zwischen dem Geschehen und mir die Kamera hatte“. So ein Foto-Objektiv kann tatsächlich „objektivieren“.
Und wer zufassen muss? Der Leichensachbearbeiter der Mordkommission, der Sanitäter, der Anatom? Ich habe mit vielen gesprochen.[4] Die Kripo zeigt sehr schnell die Bildmappen, Fotos, die nicht an die Öffentlichkeit kommen dokumentieren grauenvolle Details. Die Botschaft: „Schau her, das ist mein Job.“ Einer sagte, seine Hände vorzeigend: „Wenn meine Frau wüsste, was die anfassen, dürfte ich sie nicht mehr anfassen.“ Ein anderer, wir standen am Fenster und sahen einen Bauern am Pflug: „Der hat es gut, der kann was wachsen lassen, aber wir …“. Ein anderer kam von einer Leiche, die rund zwei Wochen im Wasser gelegen hatte, mehrere Stunden Arbeit im Regen. Er war sichtlich froh, dass ich in seiner Gegenwart das Gespräch mit den Eltern übernahm.[5]
Einen Schutzmantel anziehen – Der Regisseur sagt: „Ich glaube, wenn man liest, worum es geht, denken viele: Das tue ich mir nicht an.“ Ich tue meinen Kollegen vielleicht unrecht. Aber ich habe den Eindruck, dass sie einen Bogen um die schlimmen Geschichten der ehemaligen Kinder in kirchlichen Heimen machen. Bei mir jedenfalls fragt niemand nach. Wenn ich das Thema anspreche, ist man eher peinlich berührt oder wehrt ab.Vielleicht muss man die „Stories“ anders aufbereiten und einen Film draus machen wie Marc Brummund: „Die Resonanz von denen, die den Film gesehen haben, war Begeisterung und eine große Gebanntheit. Wahrscheinlich wird man danach mit einem Schlucken rausgehen. Es ist inhaltlich die ganz harte Kost. Aber in einer Art und Weise erzählt, dass man sagen kann: Das kann man sich angucken.“
O.k., das ist sein Film und wir können ihn uns angucken. Aber was dann?
[1] http://www.choices.de/das-war-bis-mitte-der-70er-gang-und-gaebe
[2] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/03/notfallseelsorge2.pdf
[3] Man assoziiert unwillkürlich „Arbeit macht frei“. Wer bei diesem Slogan nicht an Auschwitz denkt, der lese bei Wiki nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_macht_frei , dort steht auch mehr, als ich bisher wusste. So wird das „Dachaulied“ genannt http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/soyferdachaulied.pdf , doch im Kontext von Freistatt passen die „Moorsoldaten“ besser. Es lohnt sich, nachzulesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Moorsoldaten , der Text: http://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/BereichInfo/BereichPublikationen/Friedenserziehung/Handreichungen/0095_Moorsoldaten_lied.pdf
[4] mehr zum Thema: Dierk Schäfer und Werner Knubben, in meinen Armen sterben? – Vom Umgang der Polizei mit Trauer und Tod. VDP-Sachbuch
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/03/notfallseelsorge1.pdf
Wieder ehrbar werden? – Spendenmanagement
Wie kann ein Mensch oder eine Organisation, eine Firma oder eine ganze Gesellschaft nach totalem Vertrauensverlust wieder ehrbar werden?
Mein Beitrag Bethel – da war doch mal was!,[1] hat die Kommentare erhalten, die zu erwarten waren.
Doch das Problem ist komplexer. Bleiben wir beim „Spendenmarkt“.
Jetzt, in der Vorweihnachtszeit erhalte ich viele Bettelbriefe diverser Einrichtungen, mit oder ohne religiösen Hintergrund. Haben sie ein „Spendensiegel“[2], und wenn, welches? wie steht es mit Transparenz und Kontrolle?
Auch vermehrt in dieser Jahreszeit, aber auch sonst, dann besonders vor Kirchentüren, sitzen Bettler, zuweilen mit Kleinkind im Arm, und halten mir ihre Plastikbecher heischend entgegen oder verharren in geradezu klassischer Bettlergestik. Die haben natürlich kein Spendensiegel und ob auf jeden Bettler zutrifft, dass er am Gängelband dunkler Organisationen hängt, die ihn kostümieren und plazieren, so wie diese hilflose Bettlerin[3], das weiß ich nicht.
Neben die Menschen in Notlagen, als Spendenmotiv, sind andere Sammelmotive getreten. Unter dem Begriff Sponsering kann man manches tun für manch honorigen Zweck, bis hin zum „Crowd Funding“[4], bei dem das Internet „zur Kathedrale“ einer „ digitalen Kollekte“[5] wird.
Bei wem wird mein Geld, das ich in idealistischer Absicht gebe, so ausgegeben, wie ich mir das vorstelle? Wie seriös sind der Sammler und seine Organisation?
Was ist, wenn die Organisation sich früher als unseriös erwiesen hat, wie im Ausgangsbeispiel Bethel. Gesetzt den Fall, eine solche Organisation arbeitet mittlerweile seriös, das heißt transparent und kontrolliert und wirklich im Sinne der Hilfebedürftigen, wie müsste ihr „Bettelbrief“ aussehen, um glaubhaft zu sein? Und wen interessiert eine ausführliche Jahresbilanz über die Verwendung der Gelder?
Ich weiß: Viele meiner Leser meinen, Bethel und die Kirchen überhaupt sollten ihren Laden zumachen und ihre Konkursmasse auf den Markt der Bedürftigkeit werfen. Doch das wäre nur eine vorübergehende Lösung, die nur den aktuell Bedürftigen hilft.
Mitmenschlichkeit, die über eine face-to-face-Hilfe[6] hinausgeht, braucht ein „Spendenmanagement“ einschließlich der Einwerbung von Spenden. Oder wollen wir eine Gesellschaft, in der jeder nur noch an sich denkt?
Manche Organisationen erleben ihre Transformation/Deformation noch zu Lebzeiten ihres Gründers[7].
[1] https://wordpress.com/post/7234051/5764 = Bethel – da war doch mal was!,
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Spendensiegel
[3] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8978071752/in/set-72157605061052271
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Crowdfunding
[5] http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/149908/index.html
[6] und auch ihre Probleme hat, s. Beispiel der Straßenbettelei
Bethel – da war doch mal was!
Ein Bettel-Brief aus Bethel. Selbst wenn heute alles anders ist, anders sein sollte, – die Kinderhöllen der Bethel’schen Anstalten leben im Bewußtsein fort. Und die Opfer warten heute noch auf eine Entschädigung.
Ich als Theologe warte auf eine Erklärung, wie Bethel heute theologisch steht zu Demütigung, Ausbeutung und Mißhandlung seiner Schutzbefohlenen.
Es reicht nicht, zu sagen, dass heute alles anders ist, dass Bethel in den Fonds eingezahlt hat, der zudem nicht für ehemalige Heimkinder mit Behinderung zuständig ist. Ich erwarte eine klare Verurteilung der Personen, die dafür verantwortlich waren und der Theologie, die Grundlage von alldem gewesen ist.
Fangen wir doch einmal bei der Arbeitstherapie und dem protestantischen Arbeitsethos an. Beide kannten keine Rücksicht auf Kinder und ihre Rechte, Kind zu sein.
Aber die heute Verantwortlichen kennen das Rechtsinstitut der Verjährung krimineller Handlungen..
Drehbuchpreis für: »ANSTALT FREISTATT – MOORHOF ZUR HÖLLE[1]«
»Kurzinhalt: Es ist eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte: Die oft unvorstellbaren Lebensbedingungen, unter denen Tausende von Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Heimen und Fürsorgeanstalten aufwuchsen. Eines dieser Häuser war die Anstalt Freistatt im Kreis Diepholz.«1
»Dramaturgin Nicole Armbruster und der Dokumentarfilmer und Regisseur Marc Brummund sind mit dem Deutschen Drehbuchpreis 2013 ausgezeichnet worden. Sie erhielten die mit 10.000 Euro dotierte Ehrung für das Drehbuch zu „Freistatt“ beim Berlinale-Empfang des Verbands Deutscher Drehbuchautoren. Freistatt“ erzählt die Geschichte eines Heimzöglings im Nachkriegsdeutschland. Der Preis ist die wichtigste und höchstdotierte deutsche Ehrung für Filmautoren«.[2]
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