Dierk Schaefers Blog

Was tut ein weißer Hase im Internet?

„Es hatte bestimmt alles seine Ordnung“, schreibt Günter Scheidler. Doch das stimmt nicht. Nichts war in Ordnung. Seine Mutter hatte ihn nach seiner Geburt in die Obhut des Staates übergeben, unfähig und unwillig sich seiner anzunehmen. Sein Vater wusste nichts von seiner Geburt und so verbrachte er das erste halbe Jahr seines Lebens an dem Ort, an dem er das Licht der Welt erblickte. Später, im Kinderheim, wenn jedes Wochenende viele Kinder Besuch von Ihren Eltern bekamen, blieb er stets allein und niemand sagte ihm warum. Einmal, zu Weihnachten, bekam er einen Freund. Einen Hasen. Einen kleinen weißen Plüschhasen.Weißer Hase

„Ich war plötzlich nicht mehr allein, dort am Ende der Welt, und wenn mich schon niemand dort besuchen kam, so hatte ich nun endlich jemanden, der mir immer zuhörte.“

Doch im März 1965 kam ein dunkler VW Käfer. „Es war kein Platz im Auto für meinen einzigen Freund, den kleinen weißen Hasen. Als wir an der großen schweren Eingangstür vorbeifuhren, drehte ich mich kurz um und sagte leise: „Keine Angst weißer Hase, ich bin bald wieder da“. Ich wusste nicht, dass ich mein Versprechen nicht halten werde. Das Auto brachte mich auf direktem Weg in die Hölle.“

Wer mit Heimkinderschicksalen vertraut ist, kann kaum noch erschüttert werden. Doch jedesmal läuft es mir eiskalt über den Rücken, wenn ich von eiskalt-sadistischen Erziehern lese und hätte gern ihr Psychogramm. Warum tickt ein Mensch so wie Schwester Elisabeth?

Auf dem Gelände der Anstalt, gab es ein Kriegerdenkmal mit vielen Namen von gefallenen Soldaten. „Es sah aus wie ein Friedhof, für uns war es ein Friedhof. Schwester Elisabeth wusste das. Beim letzten Spaziergang nahm sie mich zur Seite, zeigte auf den großen Stein und sagte zu mir „Und da kommst Du auch hin“. „Im Bewusstsein, dass man zu jeder Zeit willkürliche Bestrafungen erfuhr und dass das Leben eines Kindes hier keinen großen Wert zu haben schien, versuchte ich nicht aufzufallen und heil durch den Tag zu kommen.“

Heimwechsel: In der Kinderpsychiatrie musste ich mich nur vor den Schwestern, Pflegern und Ärzten fürchten. Hier musste ich jeden fürchten. „Du bist also der aus dem Irrenhaus“ sagte sie schließlich. Ich stand wie angewurzelt und wagte es nicht zu antworten. Sie drehte sich zu den sitzenden Kindern und sagte laut: ,Kinder, das ist der neue, von dem ich Euch erzählt habe. Er ist nicht ganz richtig im Kopf und kommt direkt aus dem Irrenhaus. Er wird nicht mit Euch zur Schule gehen, dafür ist er zu dumm, ihm werden hier auch keine Extra­würste gebraten. Schlimm dass so etwas bei uns aufgenommen wird, aber wir werden ihm schon zeigen wie wir hier mit solchen Kindern umgehen.’ Ein Raunen ging durch den Raum. Dann drehte sie sich zu mir und sagte genauso laut: ,Ich bin Schwester Therese. Mit Dir werde ich schon fertig. Jetzt geh und setz´ Dich in die letzte Reihe, wage es ja nicht albern zu sein.’“ Schwester Therese war schlimmer als Schwester Elisabeth. „Wie ein Pfarrer bei der Segnung legte Schwester Therese eine Hand, manchmal auch beide auf den Kopf des oder der Badenden, sprach ein schnelles ,Herr vergib ihm/ihr’ und tauchte dann mit aller Kraft den Kopf des Kindes unter Wasser. Manchmal einmal, manchmal mehrmals.“

Wie schon gesagt: Ich hätte gern ein Psychogramm.

Die ganze Geschichte von Günter Scheidler kann man nun online lesen.

http://guenter-scheidler.de/wp-content/uploads/2017/09/Weisser-Hase-Scheidler-van-Haaken.pdf

Und der weiße Hase? Verwandelt! Er taucht in anderer Farbe, aber weiterhin als wichtiger Freund eines Kindes, wieder auf im Buch von Marie-Aude Murail, Simpel. Eine Rezension dazu unter https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/ . Es ist die zweite der unter diesem Link zu findenden Rezensionen.

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« X

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Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

 

 

 

Zehntes Kapitel

Bambule[1]

Unsere Erzieher, 3 Männer, zwei Frauen, genossen offensichtlich diese idyllische Ruhe hier am Arsch der Welt. Niemand kontrollierte ihre „Arbeit!“. Sicherlich hatten sie ihre regelmäßi­gen Mahlzeiten, während bei uns gestreckt werden musste, weil die fällige Lebens­mittelliefe­rung wieder mal auf sich warten ließ. Selbst deren Liebesleben schien in Takt zu sein. Wer mit wem, dass hatten wir allerdings nicht so richtig herausbekommen. Hatten doch ihre Behau­sungen ihre Eingänge zur entgegengesetzten Seite. Dass es aber zwischen denen ein reges Liebesleben gab, konnten wir sehr bald selbst anhand von an den schönen weißen Bett­laken feststellen, auf denen die Erzieher sich räkelten. Wir dagegen hatten so ’ne grau-blaue Unterlage, die überall hässliches Hautjucken verursachte.

ein großes Hakenkreuz als Protest

Weil eines der Fenster einer Erzie­he­rin so schön weit offen stand, stieg ich ins Zimmer ein und nahm ihr schönes weißes (jedenfalls zum größten Teil weiß, ansonsten war eben das Liebesleben darauf abgebildet) Bettlaken weg. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob das überhaupt stilgerecht oder gar zeitgemäß war. Mit blauer Tinte (die hatten wir schon) malte ich ein großes Hakenkreuz drauf. Ich will noch nicht einmal beschwören, dass ich die Winkel in die richtige Richtung einzeichnete. Aber als ich mein Kunstwerk aufs Dach brachte, es dort an einer langen Stange befestigte und diese Stange wiederum am Schornstein festband, da erkannte man an der ganzen Art wie ich es tat, dass es als Protest gedacht war. Mir wurde natürlich seitens der Erzieher gleich vorgeworfen, weshalb ich im Heim sei und keine Besserung zeigen würde und bla…bla…bla. Mit seinem Gürtel drohend vor meiner Nase herumfuchtelnd verlangte doch einer der Erzieher tatsächlich von mir, dass ich freiwillig her­un­terkommen solle, um mir eine Tracht Prügel abzuholen. Hielt der mich etwa für blöd? In seiner ohnmächtigen Wut schlug er wild um sich. Das er dabei unglücklicherweise eines der wenigen Mädchen traf, auch ein Heimkind natürlich, das war der Auslöser dafür, was nun geschah. Wütend stürzten sich ein paar beherzte Jungs auf den Erzieher und schlugen nun ihrerseits mit ihren Knüppeln auf ihn ein. So eine feige Memme. Anstatt sich ordentlich zu wehren, begann er schon nach den ersten Schlägen, zu flennen und zu jammern. Jetzt waren auch die Jagdinstinkte und die aufgestaute Wut in den anderen Jungs erwacht. Die vielen kleinen Repressalien kamen in ihnen hoch. Bevor sich die übrigen Erzieher von dem Schock über so etwas noch nie Dagewesenes erholen konnten, waren sie ebenfalls umringt, bekamen Prügel wie sie es nur gewohnt waren welche auszuteilen. Wehe wenn das Tier im Menschen losgelassen wird.

Wehe wenn das Tier im Menschen losgelassen wird

Ich brauchte gar nicht helfend einzugreifen. Von meinem Dach herunter hatte ich einen Logenplatz, um das Geschehen bestens im Auge zu haben.

Ich hätte ohnehin keine Stelle mehr gefunden, wohin ich meinen Stock hätte schwingen kön­nen. Die dichte Traube der übrigen Kinder ließ nur erahnen, wo sich der verhasste Feind befand, wenn ihre Knüppel niedersausten. Nur einer von uns besaß eine richtige, funktio­nie­rende Waffe. Das war ich. Aus dem ganzen verrottenden Zeug hatte ich mit viel Öl und akri­bischer Putzarbeit einen russischen Trommelrevolver, wie sie von den Panzerfahrern benutzt wurden, wieder funktionsfähig gemacht. Diesen Schatz hütete ich wie meinen Aug­apfel. Muni­tion fand man hier allenthalben noch kistenweise. Trotz meiner Hasskappe war ich längst noch nicht blutrünstig. Nur eben, dass mir die Waffe ein Gefühl der Sicherheit und Größe verlieh, durch die ich meine tatsächliche mickrige Körpergröße ausglich.

Es half nichts, dass ich mir die Kehle heiser schrie. Keiner wollte mit dem Eindreschen auf seine Peiniger wieder auf hören. Jeder hatte irgendwie ein persönliches Hühnchen mit den Erziehern zu rupfen. Da meine Mahnungen nicht erhört wurden, zog ich unter meiner Wind­bluse den Revolver hervor und ballerte in die Luft. Nach dem vorhergegangenen Spektakel trat urplötzlich eine fast erdrückende Ruhe ein. Schon alleine die kurze Unterbre­chung ließ in die Köpfe der prügelnden Kinder wieder Besinnung einkehren. Zum Teil verschämt auf ihre Schlag­stöcke schauend, so als fragten sie sich selbst, wie diese in ihre Hände gekommen sein mochten, zum Teil verlegen zu mir heraufschauend lichtete sich das Knäuel etwas. „Findet ihr das nicht ganz schön happig?“ zeigte ich auf die am Boden liegen­den Erzieher. „Naa, Duu has das Gansse doch angefangen!“ sächselte mich von unten einer her an.

Doch das sahen nicht alle so. Es entstand wieder erneut Tumult dort unter mir. Ausgerechnet jetzt und heute kam mal wieder ein Lieferant mit seinem knatternden Opel Blitz aufs Heim­ge­lände gefahren. Der erkannte sofort, was hier vor sich gegangen war. Aus Angst, dass man ihn genauso behandeln würde wie die blutig am Boden liegenden Erzieher, schwang er sich sofort wieder hinter das Lenkrad seines Vorkriegsmodells von Auto und raste im Rückwärts­gang wieder die Auffahrt zurück. Was das zu bedeuten hatte wurde uns allen blitzschnell klar. Selbst die schwerfälligsten Denker begriffen nun, was sie sich da eingebrockt hatten. Ziem­lich kopflos und ohne strategisches Konzept verkrümelten wir uns tiefer in den Wald. Dort waren wir unschlagbar. Dachten wir. Kannten wir doch im weiteren Umkreis jeden Baum und Strauch. Ging ja auch in den ersten Stunden auf unsere Rechnung. Die Polizei kam dann ja auch gleich (gleich, heißt nach etwa zwei Stunden) mit einer Hundertschaft ange­rückt. Einmal ausgebüxte Halbwüchsige, kriegserfahrene Kinder lassen sich nicht so ohne weiteres durch gutes Zureden wieder aus dem Wald locken. Als das nichts an Kindern aus dem Wald hervor­lockte, riefen sie wieder, diesmal mit einem Megaphon, schon etwas bar­scher und rückten gleichzeitig in Schützenlinie in den Wald vor. Natürlich hatten ihnen die zurückge­blie­benen Erzieher unsere Fluchtrichtung angezeigt. Als es der Polizei dann zu bunt wurde auf uns zu warten, begannen sie also den Wald zu durchkämmen. Sie gingen über uns hinweg, traten zum Teil auf uns drauf, gingen in Armlänge an uns vorbei. Die Uniformierten kannten den Wald eben nur als Wald. Wir aber kannten ihn aus dem FF. Dieser Wald war eben unser Wald geworden. Langsam begann der Septembertag zur Neige zu gehen. Jetzt mussten die Vopos schon ihre Taschenlampen zu Hilfe nehmen. Dann begannen sie auch noch auf den LKW Scheinwerfer zu montieren, um den Wald auszuleuchten.

War das ein erhebendes Gefühl. Für mich zumindest.

Immer eindring­licher wurden wir aufgefordert doch endlich aus unseren Verstecken hervor­zukommen. Natür­lich mit dem leeren Versprechen, dass uns ja auch gar nichts passieren würde. Je weiter die Dunkelheit fortschritt, desto deutlicher konnte man aus der Stimme des Sprechers seine Wut heraushören, der sich von ein paar Dreikäsehochs an der Nase herum­geführt sah. Der Kommandant der Hundertschaft schien sich der Lächerlichkeit preisgegeben. War das ein erhebendes Gefühl. Für mich zumindest. Es musste dann später noch jemand ande­res gekommen sein. Die Stimme am Megaphon war eine andere. Diese neue Stimme verlegte sich aufs Einschmei­cheln. Er würde uns ja sehr gut verstehen, man könne doch über unsere Probleme auch in aller Ruhe reden. Es wäre sicherlich so Einiges nicht nach unserer Zufrie­den­heit verlaufen, aber das würde sich doch ändern lassen. Und so’n Zeugs gab er pausenlos von sich.

Nicht alle 70 Kinder hatten solche Nerven wie ich. Auch waren sie anscheinend noch nicht so oft von Erwachsenen, bzw. Polizisten angelogen worden oder hatten deren Lügen nicht als sol­che erkannt, weil eben so geschickt gelogen wurde wie eben jetzt. Bei den ersten bröckelte die Standhaftigkeit. Es wurde immer kühler in dieser Septembernacht. Von den ersten Abtrün­nigen hatten die Bullen wohl auch schon einige Informationen über die Hintergründe unserer „Revolution“ erhalten. So konnte die neue Stimme wieder dahingehend kommen­tie­ren, dass uns nichts geschehen würde, da wir ja allem Anschein nach sogar im Recht gewe­sen seien. „Kommt raus Kinder, hier wartet was Warmes zu essen und auch euer war­mes Bett auf euch!“ König Hunger und Graf Müdigkeit übernahmen nun das Kom­mando auch bei den standhaft gebliebenen. Vor, neben, hinter mir löste sich einer nach dem anderen aus seinem Versteck und gab auf. Die Kapitulation war perfekt. Wie mochte wohl einem Feldherrn zumute sein, wenn er seine Truppen zurückweichen sieht und die Schlacht für verloren erklä­ren muss? Ich will ja gar nicht so vermessen sein, mich mit einem Feldherrn vergleichen zu wollen. Ich hatte im Geschichtsunterricht großen Respekt vor solchen Herren. Vor allem die, die Völkerschlacht[2] bei Leipzig so bravourös gegen Napoleon geschlagen hatten. Nein, mein Name war schlicht und einfach nur Schulz, ein Feldherr war ich schon lange nicht. Hatte ich denn überhaupt eine Schlacht angezettelt? Also nahm ich erstmal Abschied von meinem Revo­lver, der eigentlich völlig zweckentfremdet einen, oder gar mehrere? Totschläge verhin­dert hatte, und begab mich als letzter in die Hände meiner Feinde. Ich wurde sehnsüchtig-nervös, aber doch sehr freundlich (erinnern Sie sich noch was ich über freundliche Polizisten geschrieben habe?), aufgenommen. Mädchen und Jungs plauderten angeregt mit den Bullen, hatten zum Teil deren Uniformmützen auf ihren Köpfen (diese Verräter!) und ließen sich auch die Waffen erklären, mit denen man uns vor kurzem noch hatte Angst einjagen wollte. Es war allenthalben eine lockere Stimmung festzustellen. Es wurden jede Menge belegte Brote und Brauseflaschen herumgereicht. Deeskalation nennt man so etwas wohl.

Unser Schlaf wurde sogar von den lieben Polizisten bewacht.

Ich frage mich noch heute, wo man das alles her hatte. Wann hatte es so etwas hier schon mal gegeben. Erschöpft durften wir dann auch gegen Mitternacht in unsere warmen Betten schlüp­fen. Unser Schlaf wurde sogar von den lieben Polizisten bewacht. Am nächsten Morgen waren immer noch 30 Mann der Truppe in unserer Nähe. Andere. Und, ein paar Zivilisten. Von unseren Erziehern weit und breit nichts zu sehen. Wir erfuhren lediglich, dass sie alle im gleichen Krankenhaus untergebracht seien. Wie fein! Die waren also bestens ver­sorgt. Wir mutmaßten, dass sie schon der Blamage wegen hier niemals wieder auftauchen würden. Zunächst aber einmal wurde mir gesagt, dass ICH hier niemals wieder auftauchen würde, und auch nie wieder mit einem der Kinder aus diesem Heim in Kontakt treten könne. Man wüsste ganz genau, dass ich, Dieter Schulz, an dem ganzen Desaster die Schuld trüge. Das könnte mir eines Tages noch ganz schön sauer aufstoßen. Ich war der Erste und blieb auch der Ein­zige, den man in das Büro geholt hatte, wo ich diese Vorwürfe über mich ergehen lassen musste. Mir wurde gerade noch soviel Zeit eingeräumt meine persönlichen sieben Sachen einzupacken. Dann sollte es losgehen. Diesen Fehler hätten sie lieber nicht machen sollen. Man unterschätzte ganz einfach die Tatsache, dass ich immer noch (oder jetzt erst recht) meine Hasskappe trug. Ein paar verlässliche Freunde wusste ich immer noch unter den Jungs. Vor allem die beiden, mit denen ich den unvergesslichen Berlintrip unternommen hatte. Ich musste, durfte mich bei ihnen verabschieden. Über das Wieso und Weshalb gab ich ihnen als Auskunft, was ich von den Kripo(?)-beamten erfahren hatte. Eine so dahin gemachte Bemer­kung, der man natürlich nicht nachzukommen brauchte, brachten die Jungs auf Trab. Ich beeilte mich nicht allzu schnell zu den Bullen zurückzukehren, obwohl ich im Grunde genom­men heilfroh war von diesem Arsch der Welt wegzukommen. Vielleicht hatte man ja woanders bessere Chancen für eine Flucht.

Es machte kurz hintereinander viermal „Peng“

Ich hatte mich in meinen vergangenen Weggefährten nicht getäuscht. Meine Bemerkung hatte sie befruchtet. Zwei der Zivilisten setzten sich mit mir in ein Auto. Wie üblich erfuhr ich noch nicht einmal, wohin man mich bringen würde. Dafür erfuhren die Bullen aber, dass es manch­mal doch besser ist, gleich mit vier, anstatt nur einem Reserverad unterwegs zu sein. Die ein­zige Ein-und Ausfahrt war gespickt mit verbogenen, rostigen Nägeln und ähnlichen spitzem nützlichem Zeug. Es machte kurz hintereinander viermal „Peng“, und der Wagen erfüllte schon nicht mehr den Zweck eines Fortbewegungsmittels. Selbst die Luft der kräf­tigsten Flüche konnte die vier Platten Reifen nicht mehr aufpumpen. Diesen Kraftakt hätten sie sich also sparen können. Ich war ganz Unschuld, trotzdem kreidete man mir auch diese Untat an. Immer ich! Das ging mir langsam auf den Keks, dass ich für alles herhalten musste. Diese bösen gegen mich gerichteten Worte verengten meine Hasskappe nur noch. Nichts­desto­trotz funktionierte mein Gehirn noch vorzüglich. Es war zunächst für meinen eigent­lichen Rache­plan Zeit gewonnen. In einem Staat, wo selbst für Fahrradschläuche eine Dring­lichkeitsbe­schei­nigung vorgelegt werden musste, worauf man einen Bezugsschein erhielt, aber noch lange nicht einen neuen Fahrradschlauch, in solch einem Staat hatten selbst die Bullen Schwie­rigkeiten, Ersatzschläuche für vier Autoreifen heranzuschaffen.

Ich kam also zunächst einmal wieder in meiner Baracke unter. Allenthalben murrten auch schon wieder die Kinder. Hatte man doch nun erfahren was von den gestrigen Versprechun­gen zu halten war. Von wegen niemandem würde etwas passieren. Ein Versprechen gebro­chen, was würde aus den anderen? Die neuen Erzieher (?) machten kaum den Eindruck, als würden sie uns menschlicher, d.h. wie Kinder behandeln. Erst war es ja nur ein Gedanke gewesen, der mich beschäftigte, wie ich mich für das angetane Unrecht rächen könnte. Dann aber, als alle Jungen und Mädchen draußen saßen und ihre Schuhe, als Beschäftigungsthera­pie oder auch zur Strafe putzen mussten, ging mir ein Licht auf. So hell wie Osram! Wie man damals zu sagen pflegte. Das hornissengestochene Monster sah schon wieder ganz leidlich aus. Er hatte schon wieder menschliche Züge angenommen, dank der sich selbsthelfenden Natur. Der Junge hatte etwas mehr Anteilnahme von Seiten der Bullen erwartet, als er seine Version, wieso er mitgeprügelt habe, darlegte. Uns erstmal aus dem Wald gelockt wurden keine Gründe akzeptiert, die die Meuterei rechtfertigten. „Du siehst doch, dass deine Erzieher recht hatten als sie sagten, dass die Natur sich immer selbst zu helfen weiß,“ wurde er beschie­den. Auf so wenig Verständnis für seine erlittene Pein stoßend begann er zu schmol­len. Mürrisch ließ er seine angestaute Wut an der Schuhwichse und den zu putzenden Schu­hen aus. „Dass ihr mir ja auch die Absätze und Stege gut eincremt. Ihr wisst doch, dass Wasser der größte Feind des Leders ist, dem wollen wir doch, wenn möglich, keine Angriffs­fläche bieten, oder?“ beaufsichtigte einer der neuen Erzieher (?) das Schuheputzen draußen auf dem Hof. Diese fast kiloschweren Schuhwichsdosen, die jedes Kind erhielt, enthielten irgend so ein traniges, schleimiges Zeug, was man wirklich nur mit dem besten Willen mit der heutigen Schuhcreme vergleichen konnte. Alte Lappen damit getränkt, um einen Stock gewickelt, ergab das tranige Zeugs eine schöne Fackel. Gespielt hatten wir schon damit. „Wann kommt denn nun ein Arzt, um sich deinen Stich mal anzusehen?“ hänselte ich den leidgeplagten Bengel. Wütend schaute er mich an, „hier kannste verrecken und die holen keinen Arzt!“ schrie der Junge, warf seinen Schmiertopf und Cremebürste hin, rannte heulend davon. Irgendwie ging uns das allen an die Nieren. „Ich bin hier ja bald weg, Gott sei Dank! Es geht mich ja auch nichts weiter an, aber glaubt ihr etwa, dass sich hier viel ändern wird?“ Damit begann ich einen alten Lappen um einen Stock zu wickeln, nahm aus einem paar Schu­he die Schnürsenkel heraus, schnürte damit den Lappen am Stock fest, stocherte mit dem so umwickelten Stecken in einer Schuhwichsdose herum, und fragte die herumsitzenden Lei­dens­genossen, ob sie sich noch an unsere Spiele mit den selbstgebastelten Fackeln erin­nern könnten. „So was macht doch nur im Dunkeln Spaß“, hörte ich einen sagen. „So?“ Eine Dose in die Linke, die Cremebürste in der rechten Hand, trat ich an die am nächsten stehende Barackenwand und begann diese wie ein Maler anzustreichen. Noch war überhaupt kein Begreifen in den Augen der zuschauenden Kinder zu erkennen. Erst als ich den gesamten Inhalt der Dose an der Wand verschmiert hatte, meine kalte Fackel gegen die Wand hielt und fragte: „Was würde wohl geschehen, wenn ich jetzt ein brennendes Streichholz an die Fackel halte?“ begann es bei den meisten zu dämmern. Ja, ich sah regelrecht die Lichter bei ihnen aufgehen. Ich hatte den übrigen, bei meiner Ehre, wirklich nicht empfohlen mit ihrer Schuhwichse ebenfalls so rumzuaasen.

Selten habe ich Kinder meines Alters mit solch einem Eifer arbeiten sehen. Zuerst waren es meine Ex-Reisegefährten, die damit begannen, dann immer mehr, bis sie sich schließlich fast darum rauften eine freie Fläche an der Holzwand zu finden, wohin sie den Inhalt ihrer Dosen schmieren konnten. „He, he, es gibt doch eine ganze Menge Wände hier. Warum nur diese eine? Ihr wollt doch Nägel mit Köpfen machen, oder!?“ Ich wollte ja nur nicht, dass die Kin­der sich stritten und … alle Wände schön gleichmäßig aussahen.

Ich begab mich kackfrech ins Büro.

Meine Leidensgenossen sahen dies auch sogleich ein. Sie verteilten sich, ohne dass einer das Kommando übernahm. Das lief ja bestens. Ich begab mich kackfrech ins Büro, wo die erreg­ten Bullen nervös rauchend herumsaßen und mich bitterböse anschauten. Tja, wenn Blicke töten könnten. Zwar gab es in diesem Teil Deutschlands die Todesstrafe, aber doch nicht ohne Gerichtsurteil.[3] Und auch nicht gegen Kinder. „Was gibt’s – was willst du?“ „Ich wollte nur mal fragen, ob wir heute noch losfahren, oder ob ich meine Sachen für die Nacht wieder aus­packen kann?“ fragte ich ganz demütig. „Du hältst dich bereit. Du wirst hier keine einzige Nacht mehr verbringen!“ wurde ich angefaucht. Wie Recht sie doch hatten. Keiner würde hier mehr auch nur noch eine Nacht verbringen! Nie mehr! Besser konnte ich ja wohl kaum jeman­den von meiner Unschuld überzeugen. Als es nämlich an allen Ecken und Enden zu brennen begann, war ich ja nachweislich im Büro bei den Bullen. Das Feuer war noch gar nicht bis zum Büro vorgedrungen, da sprangen die Typen hoch als würde es unter ihren Bullenärschen schon brennen.

„Schschuuulllzzzz! Was ist denn das schon wieder für eine Sauerei?“ damit wurde ich am Genick gepackt und aus dem Büro geschleift. Immer ICH!

War das Schön! Die Bullen auch mal sprachlos zu sehen. Das Feuer an sich hatte ja noch einen ganz tollen Nebeneffekt.

„Schschuuulllzzzz! Was ist denn das schon wieder für eine Sauerei?“

Vor Wochen schon waren wir Heimkinder angehalten worden, in der Umgebung immer mit einem Sack unterwegs zu sein, um alle Kastanien und Eicheln im Wald aufzusammeln. Diese sollten dann an den Dresdner (?) Zoo abgeliefert werden. Für die Tiere dort. So lagerten zig Zentner trocknender Kastanien und Eicheln vor sich hin in einem Raum und warteten darauf abgeholt zu werden. Das Feuer nun ließ diese Waldfrüchte platzen. Das klang beinahe so, als befände sich eine kleine Armee im Gebäude und schoss aus allen Rohren. Bis die Bullen das gecheckt hatten verging eine geraume Zeit. Zunächst einmal suchten sie mit gezogenen Waf­fen Deckung. Das zweite Fahrzeug, welches diesmal einer der neuen Erzieher mitgebracht hatte, war unterwegs um einen Satz neuer Reifen für den Bullenwagen zu besorgen. Der konnte gleich wieder umdrehen, um die Feuerwehr zu holen. So dauerte es ziemlich lange bis die Feuerwehr endlich anrückte. So hatten die Gebäude genügend Zeit sich von dieser Bild­fläche zu verabschieden. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es ohnehin nicht gut gewesen wäre, dort die Jugend im Geiste des Kommunismus zu erziehen, wo eventuell noch der Geist der alten Hitlergefolgschaft drin wohnte. Wurden doch vor wenigen Jahren noch BDM-Mädchen dort zu Köchinnen ausgebildet.

In einem Punkt behielten die Bullen allerdings Recht. Ich kam tatsächlich in ein ganz anderes Heim als die übrigen Kinder.

Irgendwie war ich seit den Bombenangriffen auf Königsberg frühzeitig zum Erwachsensein gezwungen worden.

Vorläufig zumindest. Es musste den Behörden ganz schön Kopfzerbrechen bereitet haben, uns 70 Kinder irgendwo unterzubringen. Das schöne große Gelände in Dresden-Hellerau wurde ja zum Zeichen der Völkerverständigung und der Solidarität für die von den amerikanischen Aggressoren zu Waisen gemachten koreanischen Kriegskinder belegt. In einem Seitentrakt der Moritzburg (ja, Sie haben richtig gelesen, in DER Moritzburg[4] bei Dresden) wurden wir zunächst alle untergebracht. Ich natürlich abgesondert von den anderen gehalten. Vier Tage lang dauerten die Verhöre an. Ich habe nie erfahren können, ob mich jemand dahingehend belastet hat, dass ich als der Brand-Anstifter galt. Am fünften Tag wurden eigens für mich kleine Person zwei Erwachsene Männer abgestellt, um mich nach … ja, richtig, … nach Leip­zig zu bringen. Warum nicht gleich so? Warum hatte man mich eigentlich so weit weg ver­schickt, wenn es doch in Leipzig auch ein Heim gab? „Bilde dir nur nichts ein! Dort, wo du jetzt hinkommst, wirst du keine Gelegenheit zum Ausreißen bekommen!“ meinte der redse­ligere von den beiden Männern mir allen aufkommenden Mut nehmen zu müssen. „Dort ist noch keiner auch nur ein paar Hundert Meter weit bei einem Fluchtversuch gekommen!“ prophezeite er mir. Herrschaften, reizt mich bloß nicht! Schulz mochte das Wort „unmöglich“ überhaupt nicht. Aus dem Alter, wo ich noch glaubte, dass das Männchen im Radio doch mal rauskommen müsste, um Pipi zu machen, oder so, war ich längst raus. Irgendwie war ich seit den Bombenangriffen auf Königsberg frühzeitig zum Erwachsensein gezwungen worden. Nachdem ich unseren Volksempfänger auseinander genommen hatte und feststellen konnte, dass darin gar niemand war, begann ich wissensdurstig zu werden. Ich hatte gelernt, dass gerade das unmöglich Erscheinende am leichtesten zu bewältigen war. Wie sonst hätte ich den Einmarsch der Sowjettruppen und die vier darauf folgenden Jahre ohne Lebensmittel­karten oder anderweitiger Hilfe überleben können?

Fußnoten

[1] Bambule, krawallartiger Protest von Häftlingen, Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Berlin, New York, 199923 Der Titel dieses Kapitels ist dem Fernsehfilm über die Heimkampagne entlehnt https://de.wikipedia.org/wiki/Heimkampagne. Text: https://www.wagenbach.de/buecher/titel/194-bambule.html . Es handelte sich m.W. um das erste Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte, dass die Lage der Kinder und Jugendlichen in den Heimen in staatlicher, meist kirchlicher Verantwortung die Chance hatte, öffentlich wahrgenommen zu werden. Heimkinder ohne die Vitalität von Schulz hatten kaum Chancen, sich dem Heimalltag immer wieder und teilweise erfolgreich zu entziehen. Im Hintergrund der Kampagne stand der Versuch politischer Instrumen­talisierung der Heimkinder. Dennoch hätte der Film die erforderliche Diskussion um die Bedingungen der Heim­erziehung anregen können. Doch die Heimkinder hatten auch damit wieder einmal Pech: Die ARD wollte den Film am 24. Mai 1970 ausstrahlen. Intendant Helmut Hammerschmidt setzte ihn jedoch nach Meinhofs Teil­nahme an der Baader-Befreiung (14. Mai) trotz Protesten von 122 SWF-Mitarbeitern ab. Erst 1994 wurde er gesendet. https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrike_Meinhof#Heimkampagne . Die Behandlung des Themas im späteren Verlauf (Runder Tisch Heimkinder unter der Moderation von Dr. Antje Vollmer) erwies auch weiterhin den Unwillen von Politik und Gesellschaft, sich ernsthaft mit Kindern zu beschäftigen, die Opfer von staatlichen und kirch­lichen Anpassungsversuchen geworden waren. https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerschlacht_bei_Leipzig

[3] Das war anders: „Wir sind nicht davor gefeit, daß wir mal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüßte, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzen Prozeß. Weil ich Humanist bin. Deshalb hab’ ich solche Auffassung. /…/ Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“ Erich Mielke, zitiert in der Ausstellung im Stasi-Museum Runde Ecke, Leizig, http://www.runde-ecke-leipzig.de/ Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2554638522/in/album-72157605456895559/

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Moritzburg_(Sachsen)

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf

Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf

Kapitel 4,  17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/

04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2

Kapitel 5, von Heim zu Heim

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/

PDF: 05-von-heim-zu-heim

Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/

06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen

Kapitel 7, Lockender Westen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/

PDF 07-lockender-westen

Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/

PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser

Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/

PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin

Kapitel 10, Bambule

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/

PDF: 10-bambule

Wie geht es weiter?

Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude

 

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« IX

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 Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

 

Neuntes Kapitel

Aber nun wieder zurück nach Berlin

Knautschke, wohl das berühmteste Flusspferd des Berliner Zoos aller Zeiten. Es gibt bestimmt auch heute noch leichaltrige im Rentenalter, die sich an dieses unförmige Ungetüm erinnern können.[1]

Dem kleinen Jungen floss das Herz über, weil glück­lich

Ich konnte mich an Knautschke kaum sattsehen, war verliebt in dieses Tier. Wir hatten auch noch das Glück, dass gerade Fütterungszeit war. Ganze Brotlaibe wurden ihm in den weit aufgerissenen Rachen geworfen. Völlig unbeschwert genossen wir diesen Zoo­besuch. Bei solch einer Gelegenheit, wo einem kleinen Jungen das Herz überfloss, weil glück­lich, vergaß man ganz, dass man sich ja eigentlich auf der Flucht befand. Aber genau das waren ja unsere Beweggründe gewesen. Ein paar unbeschwerte Stunden zu erleben, außerhalb des militäri­schen Drills im Heim. Eigentlich waren wir schon recht bald wieder auf dem Boden der Tatsachen. Ohne festen Plan waren wir ratlos geworden, wie es nun weitergehen sollte. Wir durchstreiften Berlin in alle Richtungen. Wirkliche Grenzen innerhalb der Stadt gab es ja im Prinzip derzeit noch gar nicht. Wir sahen zum ersten Mal in unserem Leben schwarze Men­schen. An einem Flughafen – auch das war völlig neu für uns – marschierten sie in viel schmuckeren Uniformen als die Russen gemischt mit weißen Soldaten entlang. Die weißen Schnüre an ihren Schultern sowie die weißbehand-schuhten Hände, mit denen sie ihre Gewehre hielten, verliehen ihnen etwas von Vornehmheit. Erst viele Jahre später konnte ich in Moskau feststellen, dass auch die Russen so schöne Paradeuniformen anlässlich der Feier­lichkeiten auf dem Roten Platz trugen. In die Richtung unseren Weg fortsetzend, woher die schmucke Truppe gekommen war, standen wir auch bald vor dem Haupteingang des Flug­platzes. Ein schöner, großer, sauberer Platz. Wir staunten die herausgeputzten Pferde vor den Pferdedroschken an, die dort auf Fahrgäste warteten. Ich weiß bis heute nicht, wo wir uns damals eigentlich befanden. Ziel- und wahllos durchstreiften wir Berlin.

Diese Erinnerungen aufzufrischen wäre bestimmt sinnlos, bei dem Bauboom in und um Berlin. Manchmal trafen wir auf Schilder auf denen zu lesen war: „Sie verlassen den Westsektor Berlins“ oder aber auch: „Sie verlassen den Ostsektor…..“.[2]

Soviel wussten selbst wir schon, dass Berlin in vier Sektoren eingeteilt war.

In Deutsch und Russisch konnte ich es ja gut lesen. Bei den anderen beiden Sprachen konnten wir nur raten, dass dies das gleiche zu bedeuten hatte. Durch das ‚the’-Schriftbild einigten wir uns darauf, dass dies Englisch sein müsste. Blieb als letztes nur noch Französisch übrig. Soviel wussten selbst wir schon, dass Berlin in vier Sektoren eingeteilt war. Wir waren richtig stolz auf unsere Sprachkenntnisse. Eine richtig ausgelassene Stimmung aber wollte bei uns trotz der Freiheit, die wir genossen, nicht so recht aufkommen, nachdem wir durch vieles Rumfra­gen erfahren hatten, dass wir keine Chance hätten, von Westberlin direkt nach Westdeutsch­land zu kommen. Clever (?) wie ich war, rief ich sogar bei einer Behörde an, deren Telefon­nummer uns wiederum ein freundlicher Mensch gegeben hatte, erkundigte mich welche Aussichten bestanden, per Luftweg in den Westen zu meinem Vater zu gelangen. Als Minder­jähriger ohne den Beistand eines Elternteils gab man mir keine Chance. Hätte ich damals schon etwas mehr über die Kirche und deren Funktion gewusst, hätten wir es viel­leicht auf diesem Wege versuchen können, mit meinem Vater in Kontakt zu kommen. Bloß gut, dass ich damals noch nicht auf diese Idee gekommen bin. Ich hätte bei meinem Vater ein Fiasko aus­ge­löst, wie sich knapp zwei Jahre später herausstellen sollte. Seine spärlichen Briefe klangen ja immer sehr liebevoll und besorgt seinem Sohn gegenüber. ABER! …. Ich will nicht vorgreifen.

Hin und wieder leisteten wir uns eine Cola, sofern wir genügend weggeworfene Verschluss­kappen der besagten Marke fanden, die wir sammelten und für eine bestimmte Menge gegen eine Flasche eintauschten. War wohl eine Werbeaktion der Amis für ihr Produkt.

Noch zu jung für den Strich

Zweimal ging einer meiner Kumpels mit einem Typen mit, wichste dem einen für ein paar Mark ab. Ich hatte ja schließlich schon vorher für reichlich Geld gesorgt. Jetzt sollten die beiden anderen auch mal was für unsere Reisekasse beitragen. Ich erschien den Freiern anscheinend doch etwas zu jung; durch meine mickrige Körpergröße wäre ich glatt als Zehnjähriger durchgegangen. Es kam noch hinzu, dass die Freier, wie mir meine Reisege­fährten hinterher berichteten, gerne etwas Spritziges in die Hand oder in den Mund wollten. Dies traute man mir nicht zu, dass ich dazu fähig war. Dabei hatte ich doch genau an meinem 13ten die Bettdecke vollgesaut, und war deswegen bei meiner Mutter in Erklärungsnot gera­ten. Irgendwann kamen wir dann doch noch an eine einigermaßen erträgliche Geldquelle. Vor dem Funkturm war derzeit ein riesiger freier Platz, der als Parkplatz genutzt wurde. Dort sah ich dann auch (außer zu Kriegszeiten) zum ersten Mal Unmengen von Autos. Zum Teil zwar noch Vorkriegsmodelle, aber auch ganz andere, wie wir sie nur zu Messezeiten hin und wieder in Leipzig sehen konnten.

Wie alle interessierten Jungs in dem Alter stillten wir unsere Neugierde und erforschten in fast jedem Westauto das Innere (Pfui! nicht was Sie jetzt denken lieber Leser). Wir wurden von einem Mann angesprochen, ob wir uns nicht etwas Geld verdienen wollten. Nein, diesmal war es kein Schwuler. Natürlich waren wir sofort Feuer und Flamme. Wir sollten während seiner Abwesenheit auf sein Auto aufpassen und, wenn wir Lust auf eine extra Mark hätten, könnten wir ja in der Zeit seinen Wagen waschen. Sollte es zu seiner Zufriedenheit ausfallen, würde er uns zwei Mark geben. Aber Hallo! Das wären ja umgerechnet 11 Colas. Einen kleinen Eimer und Putzlappen hatte er sogar in seinem Kofferraum. Wasserhydranten gab es auch in der Nähe.

So verdienten wir uns ganz redlich unsere ersten zwei Westmark. Das brachte uns natürlich auf die Idee, auch anderen Autobesitzern unsere Dienste anzubieten. Es klappte vorzüglich. Soviel ich weiß, gab es für uns noch keine Konkurrenz von professionellen Waschanlagen.[3] [4] Bei uns klappte es vorzüglich. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir drei eine Lebens­stellung daraus gemacht. Hatten uns schon selbst mit den nötigen Putzutensilien ausgestattet.

Leider machten uns die Schupos einen Strich durch die Rechnung. Erstens kommt es anders, zweitens als du denkst, sagte schon meine Mutter oftmals. Wir liebäugelten ja schon mit dem Gedanken, uns in einen der auch hier geparkten Laster, die nach Westdeutschland fuhren, zu schmuggeln. So sah ich auf dem Parkplatz einen Schwerlaster mit dem Herkunftsschild Buxtehude. Buxtehude? Das gab es wirklich? Ich hatte immer geglaubt das sei ein Märchen, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen.[5] Diese Pläne konnten wir dann aber bald abhaken.

Alles Paletti! – Dachten wir.

Nicht dass wir Kinderarbeit leisteten, war der Bahnpolente vom Bahnhof Zoo aufgefallen. I wo! Gegen Abend hielten wir uns gerne vor dem Bahnhof auf. Tagsüber standen dort allenthalben Obst­stände herum, die an Reisende verkauften. Wir hatten schnell herausbekommen, wann diese Stände wieder abgebaut wurden. Dabei fiel dann eine ganze Menge angeschlagenes, unver­käufliches Obst ab. Kartons und Obstkisten, nebst Holzwolle wurden aufgeschichtet und (welch eine Verschwendung aus der Sicht von uns Ostdeutschen) verbrannt. Wir freuten uns über das angeschlagene Obst, die Stand-besitzer darüber, dass wir ihnen beim Verbrennen halfen und sie selbst somit früher nach Hause kamen. Brauchten sie nun doch nicht unnötig lange auf das Feuer zu achten. Das erledigten wir für sie. Dabei konnten wir uns auch noch an den kühlen Sommerabenden am „Lagerfeuer“, wie wir es romantisch verträumt nannten, wärmen. Dieser Platz, wenige Schritte vom Haupteingang entfernt, wo sich heute Busse und Taxis breit gemacht haben, gehörte anscheinend zum Bahnhofsbereich und in die Zuständig­keit der Bahnbullen. Jedenfalls kamen eines Abends zwei Bahnbullen direkt auf uns zu und fragten, was wir hier täten. Eine blöde Frage! Das sahen sie doch! Vor der Obrigkeit, dazu noch in Uniform, kuschten wir natürlich. Wieder einmal hatten wir unsere Schularbeiten nicht gründlich genug gemacht. Zu sorglos geworden, hatten wir nicht im Entferntesten daran gedacht, vor ein Problem dieser Art gestellt zu werden. Der Mensch, zumal mit 13 Jahren, lernt eben nie aus. Bei der Nennung der Namen hatten wir noch keine Schwierigkeiten. Wir hatten uns für den Fall solcher Fälle jeder einen anderen Namen eingeprägt und dies auch immer wieder geprobt, ob der Angesprochene darauf richtig reagierte. Alles Paletti! Dachten wir. So, hofften wir, würden sich die Bullen die Zähne daran ausbeißen müssen, um unsere wahre Herkunft heraus­zubekommen. Von daher drohte uns von der West­polizei das geringste Übel. Glaubten wir jedenfalls. Doch als die Frage nach dem Woher und dem Wohin kam, gerieten wir doch schon etwas ins Stottern. Zumindest meine beiden Kumpane, die ein wirklich einwandfreies sächsisch spra­chen und es zu verbergen versuchten. Das schon genügte den Bullen, miss­trauisch zu werden. „Na, dann kommt doch mal mit“, hörten wir den gefürchteten Satz aus berufenem Munde sagen. Ich konnte mir gar nicht denken, was die Uniformierten überhaupt von uns wollten. Mir war doch ganz fließend ein Straßenname aus dem Ostteil der Stadt über die Lippen gekommen, auch die Hausnummer. Ich kann nicht behaupten, dass die Bahnbullen irgendwie unfreundlich oder gar handgreiflich uns gegenüber wurden. Von direkter Freund­lichkeit konnte man allerdings auch nicht sprechen.

Ganz einfach routinemäßig lief das Ganze ab. In einen Nebenraum gesteckt, wo außer einer langen Bank nichts weiter vorhanden war, harrten wir gelassen der Dinge. Es dauerte gar nicht lange da kam ein grinsender Oberbulle und dazu noch zwei weitere in unsere Zelle. Ganz freundlich, eigentlich viel zu freundlich, erfragte er nochmals die Hausnummer, die ich ihm genannt hatte. Ich hatte ganz spontan die 22 genannt, weil dies wirklich die Hausnummer war, in der ich in Leipzig bei meiner Mutter wohnte. Verplappern konnte ich mich diesbezüg­lich nicht. Und die genannte Straße gab es ja auch in Ostberlin. „Na, dann kommt doch mal mit“, wurden wir immer noch freundlich und grinsend aufgefordert. Heute würde so ein Grinsen im Gesicht eines Bullen sofort sämtliche Alarmglocken läuten lassen. Man halte mir aber bitte zugute, dass ich in dem Alter immer noch das Gute in jedem Menschen sah, eben ein blutiger Anfänger, was den Umgang mit den Bullen anging. Am besten man pflegt überhaupt keinen Umgang mit solchen Typen. Ich will damit sagen, man geht ihnen am besten aus dem Wege und lässt sich erst gar nicht erwischen. Aber wer denkt schon, während er sich am Lagerfeuer wärmt, an etwas Böses? Die Hausnummer wurde uns zum Verhängnis! Die Straße gab es unbestritten. Auch die Hausnummer. Im Prinzip, laut Radio Eriwan[6]. Vor dem Krieg hatten darin sogar Menschen wohnen können. Inzwischen aber waren ein paar niedliche Bomben daraufgefallen und hatten nur einen Trümmerhaufen zurückgelassen. Dies wiesen mir/uns die Bullen voller Häme im Gesicht anhand einer Spezialkarte von Berlin nach. „Ihr seid doch faule Früchtchen!“ wurde uns auf den Kopf zugesagt. Schon wieder diese Bezeichnung. Früchtchen, ob die das überall auf der Polizeischule lernten? Ich glaube, in dem Heim, wo wir die folgende Nacht schlafen durften, hätte sogar ich heimisch werden können. Nach einer Fahrt mit einem neuwertigen Westauto von etwa einer halben Stunde erreichten wir ein schmuckes Haus, welches in etwa die Größe eines Zweifamilienhauses hatte. Drinnen war alles so adrett und sauber, zum Teil mit Glastüren versehene Zimmer. Eigentlich war ja schon längst Schlafenszeit für die Heimkinder, aber bei unserer Ankunft sprach es sich sehr schnell herum, dass noch Neuankömmlinge erwartet würden. So wurden wir natürlich von neugierigen Jungs und Mädchen in adretten Schlafanzügen, bzw. Nachthemden begrüßt. Wir durften Milch, Kakao oder Früchtetee zu dem reichlichen Brot und Aufschnitt wählen. Irgendwie mussten im Osten die Propagandafilme über den kapitalistischen Westen ver­tauscht worden sein. Darin jedenfalls wurde uns vorgeführt, wie Westkinder sich ihr Essen aus den Mülltonnen fischten. Fast die Verhältnisse, die man uns mit den Filmen untergejubelt hatte, herrschten schon am nächsten Tag in Rummelsburg. Wir hatten in wundervoll weichen Betten geschlafen, mit frischer Nachtwäsche ausgestattet, nachdem wir auch noch hatten duschen dürfen. Köstlich frische Brötchen (die bekamen alle, nicht nur wir, um uns etwas vorzutäuschen) zum Frühstück und …… Kakao satt! Es sollten danach Jahre vergehen, bis ich wieder solch einen Gaumengenus bekommen sollte.

Leider verbrachten wir dort nur etwa 12 Stunden, deshalb zähle ich dieses Heim auch nicht den anderen neun Heimen während der 26 Monate, die ich darin verbringen musste hinzu. Die Frau, die uns dann wieder mit einem schicken Westauto zu irgendeinem Berliner Bahnhof brachte, lieferte uns dort auf dem Bahnsteig an zwei finster dreinblickende Herren ab. Mit einem Blick, welcher soviel heißen sollte wie: „ihr armen Würstchen“, wurden wir noch von der Frau bedacht, bevor sie sich umdrehte und davonging. Ohne Kommentar wurden wir von den beiden Herren in die Mitte genommen und in den anfahrenden Zug verfrachtet.

In Rummelsburg[7] erwartete uns eine triste Kasernenhofatmosphäre. Das Gelände war unheim­lich groß. Von der Kleiderkammer, wo wir mit viel zu großen Klamotten ausgestattet wurden – Hosen ohne Gürtel, Schuhe ohnehin zu groß, auch noch ohne Schnürsenkel – hatten wir, bedingt durch das Festhalten der immerwährend rutschenden Hosen und den viel zu großen Botten an den Füßen, ein ganz schönes Stück Weg bis zu unserer eigentlichen Unterkunft zurückzulegen. Viele Erinnerungen von dort gibt es nicht mehr. Nur dass am Gelände ein Fluss (oder war es ein größerer See?) angrenzte, der so breit war, dass an ein Entkommen nicht zu denken war. Es lag in einiger Entfernung ein abgesoffenes Schiff (also doch ein Fluss?) halb aus dem Wasser ragend darin. Unmöglich es schwimmend zu erreichen. Von unserem Zim­mer­fenster aus lernte ich wieder etwas Neues von der Welt kennen. In einem fast kreisrunden Stadion fuhren Motorräder, die am hinteren Ende Stangen samt Querstange hatten und sich abstrampelnde Radfahrer bemühten, dran zu bleiben. Das laute Geknatter der stinkenden Motorräder und die schwitzenden Radfahrer dahinter zu beobachten war eigentlich die einzige Abwechslung, die wir in Rummelsburg während unseres Aufent­haltes dort hatten. Ich habe die Tage nicht gezählt, die wir dort verbringen mussten. Außer dem täglichen Hofgang gab es ja nichts. Und deshalb kam uns die Zeit wohl auch doppelt lang vor, die wir dort verbringen mussten. Nur immer am Abend war dann wieder das Motorgeknatter der Trainierenden im Stadion zu hören.

Dafür hatten wir dann mit einem Typen, der uns gleich furchtbare Prügel androhte, falls wir auch nur einen Fluchtversuch andeuten würden, ein ganzes Zugcoupé für uns. Er hatte eigens einen Schlüssel vom Schaffner bekommen, falls mal einer aufs Klo musste. Er hielt die Türe von innen verschlossen, solange wir fuhren. Mit ihm war wirklich nicht gut Kirschen essen. Er unterband sogar jedes Gespräch unter uns. So ging das bis Dresden. In Dresden blieben wir aber nicht. Das Heim war tatsächlich schon für die koreanischen Waisenkinder geräumt wor­den. So blieben wir nur wenige Stunden auf einem Polizeirevier, bis wir von einem fast geschlos­senem Kastenwagen in eine Gegend verfrachtet wurden, dessen Weg wir nicht nach­vollziehen konnten, weil wir ja nichts von der Landschaft erkennen konnten. Wie ich erst 1990 von meiner Schwester erfuhr, hatte sie viele Stunden gebraucht, um von Dresden aus dorthin zu kommen, nachdem ihr mein derzeitiger Aufenthaltsort bekannt wurde, um mich zu besuchen. Mir war es trotz aller Briefzensur gelungen, ihr eine Nachricht zukommen zu las­sen, dass ich mich in einem Heim in der Nähe von Königsbrück befand. Danach trieb ich mich jeden Tag auf der einzigen Landstraße herum und erwartete sehnsüchtig meine Schwester. Jeder Brief, der geschrieben wurde, wurde von der Heimleitung gelesen. Stand auch nur ein verdächtiges Wort darin, wurde er zu den Akten geheftet. Und man erfuhr noch nicht einmal, war der Brief nun abgeschickt oder nicht. Meine Mutter wusste meist längere Zeit nicht, wo ich mich gerade befand. Kein Wunder bei dem Tempo, mit dem ich die Heime wechselte. Das war nach jeder Flucht angesagt. In der Abgeschiedenheit von jeglicher Zivili­sation erfuhr ich dennoch, dass wir uns in der Nähe von Königsbrück, Kreis Kamenz, Bezirk Dresden befan­den.

Irgendwann hatten wir alle das Gammeldasein satt.

Mitten im tiefsten Wald gelegen hatte man ein ehemaliges BDM- Heim, welches zu Hitlers Zeiten dazu diente, junge Mädchen als Köchinnen auszubilden, wieder reaktiviert. Ein Gebäudekomplex in Hufeisenform, etwas bessere Baracken, ca. 40 Zentimeter hoher Stein­sockel, darauf Holzaufbau. 70 Kinder und 5 Erzieher, die uns rund um die Uhr zu betreuen, besser gesagt zu überwachen hatten. Selbst deren Kochkünste mussten wir über uns ergehen lassen. Ein eigenes Gefährt hatte das Heim nicht. Deshalb bekamen wir manchmal etwas Warmes zu essen, oftmals aber auch nicht. Wer für unsere Versorgung verantwortlich war, haben wir nie erfahren. Bei Nachfrage bei den Erziehern hieß es immer nur, dass sie selbst keinen Einfluss darauf hätten. Die Versorgung funktionierte genau so wie eine verrostete Türe. Etwas tiefer noch im Wald gelegen stand ein altes Pulverhäuschen. Das sollte für uns zur Schule umgebaut werden. Nur wann, das wurde uns nicht gesagt. Die reguläre Schulzeit nach den Sommerferien hatte längst begonnen. Da vertrieben wir unsere Zeit damit, Kräuter, Eicheln und Kastanien zu sammeln. Das Ganze, was eigentlich für einen Zoo bestimmt war, wurde niemals abgeholt. Ansonsten spielten wir in den alten Grotten des Elb­sandsteingebirges und im Wald „Russe und feindlicher Faschist.“ Alte, verrostete Knarren und Pistolen fanden wir in den Höhlen genügend vor. Blau- und Preiselbeeren sowie Pilze sammeln und erkennen lernten wir, und andere Dinge in der Natur zu lesen, was den Groß­städtern sonst verwehrt bleibt. Ich begriff gleich, dass es nicht ratsam war, eine gute Tat zu begehen, einem Bauern seine Kartoffelernte beschützen zu helfen, wenn sich eine Wild­schweinfamilie in den Kopf gesetzt hatte, auf einem Kartoffelacker ihre Mahlzeit einzu­nehmen. Mein Knüppel-schwingen und „Ksch-Ksch–Rufen“ verärgerte diese Biester aber ungemein. Zumindest erkannte ich sehr schnell, dass ein Eber seine Hauer nicht nur zur Zierde trug, als er auf mich losstürmte. Ich bekam gerade noch die Kurve, bevor er mich erreichte. Die Rehe waren da schon anderer Natur. Die liefen schon weg bevor man ihre braunen Augen genau erkennen konnte. Seitdem weiß ich auch, warum man im Biologie­unterricht zu ihrem Hinterteil Spiegel sagt. Diesen Spiegel sah man öfter als ihre braunen Augen. Mag sein, dass daher meine Vorliebe für Frauen mit braunen Augen herrührt. So etwas Sanftes und Treues im Blick. Junge, Junge, da wird es einem ganz schwummerig ums Herz. Bei beiden. Den Frauen sowohl als auch bei den Rehen. Ehrlich, ich lernte die Natur lieben. Aber zum einsamen Trapper war ich dennoch nicht geschaffen. Ich musste Trubel um mich haben. Und sei es nur in der Schule. Der Bau der Schule aber ließ auf sich warten. Immer nur Bio auf dem Stundenplan war nicht gerade gut für die Allgemeinbildung. Es mag vielleicht blöd, unwahr klingen, dass ein junger Bur­sche sich nach der Schule sehnt, aber irgendwann hatten wir alle das Gammeldasein satt. Wir kannten im weiten Umkreis jeden Busch und Baum, jede Höhle im Elbsandsteingebirge. Wir wussten, wo alte Waffen herum­lagen, wo ein Hasenlager oder ein Rehgehege war. Wir kannten die Wildwechsel und konnten die Spuren lesen, von welchem Tier sie stammten. Lernten schnell eine Ringelnatter von einer Kreuzotter zu unterscheiden. Selbst die Verteidi­gungstaktik von Hornissen blieb uns kein Geheimnis. Einer der Jungs trieb seine Neugierde soweit, dass er mal so eben in einem Hornissennest unter einem vorspringenden Dachsparren mit seinem Stock (keiner von uns trieb sich ohne einen solchen Stock in der Gegend herum) herumzustochern. In ihrer Ruhe gestört machten die erbosten Hornissen Jagd auf den Frevler. Ganz gezielt auf eben den Jungen, der ihren Frieden gestört hatte, obwohl wir mit mehreren dort herumstanden.

Seltsamerweise stach ihn nur eine der Hornissen. Anscheinend beließen die Tiere es mit die­sem Warnhinweis, weil er an ihrem Bau keinen größeren Schaden angerichtet hatte. Nur eine hatte ihn in die Wange gestochen. Ein paar Stunden später konnte man bei dem gesto­chenen Jungen gerade noch erahnen, wo sich mal seine Augen befunden haben mussten. Es gab nur noch verquollene wülstige Lippen eines Negers und eine kartoffeldicke Nase. Sein Anblick hätte ihn ohne weiteres dazu prädestiniert, in einem Horrorfilm mitzuwirken. Einen Arzt aufsuchen? Wie denn? Wo denn? Was denn? Wir hatten ja noch nicht einmal ein Fahrrad auf dem Heimgelände. Außer den Erziehern wusste hier sowieso niemand, in welcher Rich­tung so einer aufzutreiben gewesen wäre. Die wenigen Fremden, Lieferanten meist, die zu uns fanden, kamen alle von rechts. Dort irgendwo musste sich die Welt befinden, wo es noch anderes Leben gab als die Tiere. Unsere Hilfsbedürftigkeit, besonders die des Betroffenen, wurde dahingehend abgetan, dass man meinte, er hätte sich eben nicht mit den Hornissen anlegen sollen. Außerdem würde die Natur schon selbst für sich sorgen. Es wäre nur eine Frage der Zeit bis die Schwellungen weggehen würden. Basta!

Ohne genau zu wissen, wo wir uns eigentlich genau befanden, konnten einem aber auch jegliche Fluchtgedanken vergehen. Ende September! Immer noch keine Schule. Ja, man hatte noch nicht einmal damit begonnen, an dem ohnehin für 70 Schüler zu kleinem Pulver­häus­chen irgendwelche baulichen Maßnahmen vorzunehmen. Marx oder Lenin? Jemand hatte mal gesagt: „Wissen ist Macht!“[8] Diese Macht forderten wir schließlich vollkommen sauer ein. Es setzte Ohrfeigen und Stockhiebe. Mit Prügel hatte schon meine Mutter versucht mich zu erzie­hen, mir meine Rumtreiberei auszutreiben. Mit geringem – ja – fast Null Erfolg. Aber Prügel von Fremden, dazu noch unberechtigt, ließen mich die Hasskappe aufsetzen. Hass gegen die unkompetente Autorität. Hass gegen jede willkürliche Autorität und diese ganze Situation hier. Dass sich hier etwas ändern müsse, darüber sprachen alle. Aber nur Schulzi hatte die Idee wie das zu ändern sei. Einmal die Hasskappe aufgesetzt bekommen, ließ sich sein ostpreußischer Dickschädel nicht mehr beruhigen.

Fußnoten

[1] Knautschke ist tatsächlich legendär. https://de.wikipedia.org/wiki/Knautschke

[2] Zur politischen Geographie der Nachkriegszeit: https://de.wikipedia.org/wiki/Vierm%C3%A4chte-Status

[3] Späterer Zusatz von Schulze: Bei meinen jährlichen Reisen nach Königsberg (Pardon – Kaliningrad) werde ich jedes Mal an diese Zeit erinnert. Sehe ich doch jedes Mal russische Straßenkinder sich auf die gleiche Weise etwas Geld verdienen.

[4] Unter der Nummer DE 1187943 meldeten die beiden Augsburger Unternehmer Gebhard Weigele und Johann Sulzberger am 8. August 1962 die erste selbsttätige Kraftfahrzeug-Waschanlage für Autos an. https://www.welt.de/regionales/muenchen/gallery108510460/Vor-50-Jahren-eroeffnete-die-erste-Autowaschanlage.html

[5] Hier irrt Schulz. In der Redensart sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=~~wo%20sich%20Fuchs%20und%20Hase%20gute%20Nacht%20sagen&suchspalte%5B%5D=rart_ou , Hase und Igel liefen in Buxtehude um die Wette https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Hase_und_der_Igel, dort bellen auch die Hunde mit dem Schwanz http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/schauplatz-nordwest/buxtehude-dackel104.html

[6] Auch heute noch ein großer Spaß https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Jerewan

[7] „Das zwischen 1854 und 1859 errichtete Friedrichs-Waisenhaus Rummelsburg in der Hauptstraße diente zur Unterbringung elternloser Jungen und Mädchen, die in Berlin und der Umgebung aufgegriffen worden waren. In der Zeit der DDR war auf dem Gelände das Grenzregiment untergebracht, das für die Bewachung der Berliner Mauer zwischen Eberswalder Straße und der Mündung des Landwehrkanals in die Spree verantwortlich war.“ Zum Verständnis der Lage am Wasser lohnt ein Blick auf die Karte: https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Rummelsburg

[8] Wissen ist Macht https://de.wikipedia.org/wiki/Wissen_ist_Macht

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf

 Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf

 Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/

04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2

Kapitel 5, von Heim zu Heim

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/

PDF: 05-von-heim-zu-heim

 Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/

06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen

 Kapitel 7, Lockender Westen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/

PDF 07-lockender-westen

Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/

PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser

Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin

https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/

PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin

 Wie geht es weiter?

Kapitel 10, Bambule

 

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« VI

Posted in DDR, Deutschland, Geschichte, Gesellschaft, heimkinder, Kinder, Kinderheime, Kriminologie, Leben, Soziologie by dierkschaefer on 9. Dezember 2016

moabit

Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

      Eine Kindheit,

                  die keine Kindheit war.

 

 

 

Sechstes Kapitel

 

 

Wieder gut im Geschäft mit den Russen

 

Trotzdem dass ich sofort wieder bei den Russen ins Geschäft kam, hielt es mich nur vier Tage in der Freiheit. Ich wäre sonst vor Hunger gestorben. Seitdem weiß ich auch wie sich ein einsamer Wüstenwanderer fühlen muss. Die Taschen voller Gold, aber nichts zu trinken! Ich hatte zwar gleich wieder reichlich Bargeld, konnte aber mit meiner dick geschwollenen Lippe nichts essen.

Ich war dann direkt froh, als mich mein Freund und Helfer aufgriff und wieder ins Heim brachte. Dort bekam ich zwar auch keine ärztliche Behandlung, weil angeblich daran ohnehin nichts mehr zusammenzunähen ging, aber man schob mir einen dünnen Schlauch in den linken Mundwinkel und ließ mich so gut es eben ging dünne Puddingsuppen schlürfen.

Dauernd kamen und gingen Kinder und Jugendliche. Nur ich blieb und blieb in der Herberge. Diesmal in einem Zimmer mit vergittertem Fenster. Ende Juli dann wurde ich mit noch zwei anderen Jungen in ein Auto gesteckt und los ging es, Richtung Dresden. Welch eine unver­gessliche Fahrt. Bald kamen wir an die Elbe, wie uns gesagt wurde. Rechterhand konnte ich die Meißner Burg auf einem Berg aufragen sehen, wo ein gewisser Böttcher das Weiße Gold [1] erfunden hatte. Ohne den wahren Wert zu kennen aßen wir zuhause täglich von dem edlen Geschirr mit dem Blauen Zwiebelmuster. Auch Riesa[2] passierten wir, welches ich einige Monate später noch etwas näher kennenlernen sollte. Einen längeren Riesa-Aufenthalt verschaffte uns die Wasserschutzpolizei von der Elbe.

Das Elbsandsteingebirge auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe – auf dieser Fahrt begann ich Deutschland kennen zu lernen.

Ein Holzvergaser

Vor allem erfuhr ich so auch, dass Deutschland nicht nur aus Flachland besteht. Ostpreußen, meine eigentliche Heimat, war ebenso flach wie das Leipziger Umland. Was anderes kannte ich bis dato ja auch noch nicht. Und, sehr oft war ich ja auch noch nicht mit einem Auto gefahren worden. Schon garnicht mit einem so nostalgischen wie dem, womit wir nach Dresden gebracht wurden.

Es war nämlich ein Holzauto. Nein, nicht das Auto bestand aus Holz, wie Sie jetzt vielleicht annehmen. Das Auto wurde mit Holz angetrieben. Hinten, wo normalerweise der Kofferraum bei einem Auto ist, hing ein riesiger Kessel der mit Holz beheizt wurde[3]. Diese Heizung trieb wiederum den Motor an. Da wir ziemlich oft anhalten mussten, um den Heizkessel zu befeu­ern, und die Geschwindigkeit auch nicht gerade berauschend war, hatten wir genügend Muße uns die Landschaft einzuprägen. Wie viele lebende Menschen mag es wohl noch geben, die das Vergnügen hatten, mit solch einem Auto gefahren zu sein?

Dresden, Dresden-Hellerau, genauer gesagt. Ein riesiges Kasernengelände nehme ich an, welches die Russen nicht für sich in Anspruch genommen hatten. Ansonsten wimmelte Hellerau ja von russischen Soldaten. Hitler hatte ihnen ja, als er sie nicht mehr benötigte, die Kasernen großzügigerweise überlassen. Dort wurden auch, wie ich gerüchtehalber hörte, russische Soldaten erschossen, die sich geweigert hatten dem Schießbefehl am 17. Juni nachzukommen. Ich glaube zwar, dass sich einige unserer sowjetischen Freunde geweigert hatten zu schießen, aber dass welche deswegen erschossen wurden? Väterchen Stalin war doch schon längst hinter der Kremlmauer verscharrt worden. Ich will nicht erst noch lange in Geschichtsbüchern irgendetwas nachlesen.

Spakonje notsch, Josef Dschugaschwilli!

Ich möchte es so niederschreiben wie es mir das Gedächtnis eingibt. Von daher weiß ich, dass ich doch schon wenige Tage nach seinem Tode sein Denkmal vor dem ehemaligen Opernhaus auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig von seinem Sockel gestürzt sah. Was hatten wir bis dahin nicht alles gutes von Väterchen Stalin in der Schule eingebläut bekommen. Armer kleiner Großer Stalin, immer diese undankbaren Menschen. Da reißt du dir während der Revolution den Arsch auf, befreist das russische Volk von der Diktatur des Zaren, stutzt die Deutschen auf ihre richtige Größe zurecht, befreist ganze Völker vom Hitlerjoch, hast dir einen großen Brocken von Deutschland einverleibt, gibst den Polen und anderen Verbündeten auch noch was ab, und kaum hast du das Zeitliche gesegnet, mögen sie dich nicht mehr. Dabei waren unsere Schulbücher voll von deinen guten Taten, ich hatte gelernt, dass du, Stalin, eigentlich Dschugaschwilli heißt, und ein ganz normaler Georgischer Bauernjunge warst.[4] Jetzt sollte auf einmal das meiste nicht mehr stimmen? Gar nicht so einfach für einen jungen Menschen, das Gelernte einfach zu verwerfen. Spakonje notsch[5], Josef Wiserianiwitsch Dschugaschwilli!

In dem Heim in Dresden-Hellerau lernte ich auch einen deiner Zweitweltkriegshelden kennen. Oleg Koschewoi![6] Er lebte damals allerdings schon längst nicht mehr. Denn lebende Helden sind selten. Helden sind meistens tot.

Lebende Helden? Man sieht ja was aus dir geworden ist, weil du, Stalin, schon zu Lebzeiten den Orden eines Helden der Sowjetunion getragen hast, wurdest du posthum zum Antihelden erklärt. Warst ja auch nicht viel besser als Hitler. Ich hoffe ihr beiden habt euch in der Hölle, wo ihr beiden euch bestimmt wiedergetroffen habt, viel zu erzählen. Ach ja, Oleg Koschewoi, nach dem die Gruppe benannt wurde, in die ich nun zum erstenmal in ein richtiges Heim gekommen war, sollte uns allen als Vorbild dienen. Sollte uns Vorbild sein, was unter Kame­radschaft zu verstehen war. Schließlich hatte sich Held Oleg über eine böse deutsche Hand­granate geworfen, um seine Kameraden vor den sicheren Tod zu bewahren. Dafür war er dann alleine ein bisschen tot, aber als Held gestorben. Seine heldenhafte Tat war groß an die Wand unseres Tagesraumes gemalt. Damit wir auch ja immer daran erinnert wurden, was es hieß, sich immer und überall für den anderen einzusetzen. Die Erzieher waren davon natürlich ausgenommen. Als ich nämlich mal einen Einsatz für mich in Anspruch nahm, bekam ich nur eine schallende Ohrfeige. Es war ja aber auch nur eine Lappalie, weswegen ich den Erzieher anging. Er hatte soviel um die Ohren, dass er meinte, dass wir uns selbst gegenseitig erziehen müssten und nicht wegen jedem Dreck zu ihm gelaufen kämen. Ich wollte ihm doch nur klar machen, das ich einfach keine Lust hatte, einem der größeren, stärkeren Jungs (fast alle in der Gruppe waren größer und stärker als ich!) jeden Abend einen runterzuholen.

Was ist mir von Hellerau noch in Erinnerung? Meinen ersten Walnussbaum in meinem Leben sah ich dort. Ich lernte dabei, dass die milchige Masse in der Fruchtschale um diese Jahreszeit keineswegs essen durfte. Da aber wäre es beinahe schon zu spät gewesen. Woher sollte ich auch wissen das die Nuss in diesem Stadium besonders viel Zyankali enthielt? Weil die Frucht mir so gar nicht schmeckte, warf ich sie weg und entkam ich dem Schicksal Goebbels. Auch diesmal bekam ich wieder eine Ohrfeige, nachdem ich dem herbeigerufenen Arzt meine Übelkeit erklärt hatte. Nicht aus Sorge bekam ich die Ohrfeige, wie ich sie schon mal von meiner Mutter erhielt, sondern weil ich mich an einem volkseigenen Nussbaum vergriffen hatte. So erkannte ich, dass die Erzieher doch manchmal Zeit für uns Kinder übrig hatten.

Ansonsten aber gefiel mir Dresden überhaupt nicht

Die großen Ferien bewahrten uns davor in die Schule gehen zu müssen. Dafür lernte ich den Dresdner Zwinger und einen angeblich 100 Jahre alten Karpfen im Zwingergraben kennen. Das Innere des Zwingers und die darin enthaltenen Kunstschätze bekamen wir nicht zusehen. Der Eintrittspreis war bei unserem Kulturausflug nicht inbegriffen. 1990, als ich wieder in Dresden war, hatte ich zwar das Geld für den Eintritt, dafür aber waren die Kunstschätze über die ganze Stadt verteilt. Überall nur Gerüste und Steinmetze im Zuge der Renovierung. Nur das Prähistorische Museum war geöffnet. Aber von dem, was ich dort zu sehen bekam, hatte ich schon bessere Sachen gesehen. Ich fand, dass es das Geld nicht wert war, was einem dort geboten wurde. Ebenso waren die Preise im Restaurant der Semper-Oper bei weitem nicht gerechtfertigt. Na ja, die blöden Wessis, die endlich auch diese Stadt wieder besuchen durften, hatten es ja. Man versuchte jetzt mit aller Macht an die gute DM zu kommen, um die marode EX-DDR Wirtschaft wieder aufzupäppeln.

Von Hellerau kommend überquerte ich schon acht Jahre nach Kriegsende das Blaue Wunder von Dresden. Wie wir erfuhren, hatten die bösen Engländer die kulturhistorische Stadt Dres­den mit ihren Bomben in Schutt und Asche gelegt.

Ergriffen hörten wir zu als man uns erzählte, dass es dabei so viele Tote gegeben hätte, dass man die Menschen gar nicht mehr begraben konnte. Sie wurden zu Haufen aufgeschichtet, mit Benzin übergossen und angezündet, um einer Pest vorzubeugen. Bei der Erzählung unseres Stadtführers schien es mir als würde ich in das Jahr 1944 zurück versetzt, als auch bei uns in Königsberg die britischen Bomber ihre todbringenden Lasten abwarfen. Fast spürte ich den Geruch wieder in der Nase. Staubig und beißend wie damals. Ich glaube, dass der gute alte Stinkbombenraucher den Russen diese schöne alte kulturträchtige Stadt nicht im heilen Zustand gegönnt hatte, und deshalb die Stadt schnell noch ein paar Tage vor Kriegsende in Trümmer gelegt hat. Die Kriegsgewinnler, die Industriebarone, werden sich sicherlich über jede Bombenbestellung gefreut haben. Welchen anderen Grund sollte er sonst gehabt haben. Der Ausgang des Krieges war doch schon längst entschieden. In Dresden gab es keine nennenswerte Kriegsindustrie mehr, und die Zivilbevölkerung war nicht, wie in Königsberg, zum letzten bereit. Es waren haupt­sächlich Flüchtlinge. Vertriebene aus längst besetzten Ostgebieten in der Stadt. Wie gesagt; die Rüstungsindustrie in England hatte anscheinend noch ein paar Bomben zuviel auf Lager, die unbedingt weg mussten.

Während der Ferien in Dresden bekam ich auch meinen letzten Schliff was das Schwimmen betraf. Bis dahin konnte ich mich gerade mal mehr recht als schlecht über Wasser halten. Alles das hatte ich mir selbst beigebracht. Schulschwimmen? Das war ein Satz mit großem X. Das war wohl NIX! Um meine körperliche Mickrigkeit mit Mut zu überbrücken ließ ich mich dazu hinreißen einen Köpper vom Zehnmeterturm zu machen. Wenn es Zwei aus der 30 köp­figen Gruppe wagten; konnte ich das schon lange. Lange hatte ich dann auch etwas davon. Nicht nur die Hochachtung der übrigen. Aber bevor ich zugegeben hätte das ich beim Auf­kom­men auf dem Wasser mir beinahe die Rippen gebrochen hätte, hätte ich lieber noch einmal den gleichen Sprung gewagt. Ich war seitlich rechts so flach auf das Wasser geknallt das ich glaubte über Beton zu surfen. Tausende Nadelstiche auf meiner Haut, knallrot meine rechte Seite. Der Erzieher lobte mich zwar vor der ganzen Gruppe, was mich den Schmerz leichter ertragen ließ, grinste mich aber schadenfroh an, während er bedeutungsvoll meine rechte Seite streichelte. Dafür wiederum hätte ich ihn ohrfeigen können. Das brannte nämlich wie Feuer.

Ansonsten aber gefiel mir Dresden überhaupt nicht. Ich wollte nach Hause zu Mutter und meiner Schwester. So ein zusammengewürfelter Kinderhaufen, na ja, und erst die Erzieher, dass war nun wirklich kein richtiges Zuhause.

Gleich beim ersten Ausreißversuch aus Hellerau ging auch gleich alles schief. Mir nützte selbst mein gutes Russisch nichts. Eher glaubte man in mir einen Spion aus dem Westen zu sehen. Mit den guten Sprachkenntnissen machte ich mich eher verdächtig als beliebt. Wo gab es denn so was, ein deutscher Junge wollte das sein, der ihre Sprache so beherrschte das es fast schon nicht mehr zu glauben war, was er da erzählte. Die Posten, die uns an der Elbe aufgegriffen hatten, konnten oder wollten es nicht glauben, dass wir aus einem Heim ausge­rissen waren und nur zu unseren Eltern wollten. Dabei hätten doch gerade die Russen solche Regungen am besten verstehen müssen, pflegten sie doch ihre Familienbande sehr. Der Respekt ihren Eltern gegenüber ging soweit, wie ich es selbst gesehen hatte, dass die Soldaten in ihren Briefen ihre Eltern mit Sie anredeten. Unser Pech war gewesen, dass die Russen ihren ehemaligen Verbündeten, den Amerikanern so gar nicht mehr trauten. Zumal diese sich bei ihren kommunistischen Brüdern in Korea eingemischt hatten. Deshalb standen sie ja jetzt auch gleich mit einer ganzen Flakbatterie an der Elbe, um einer eventuellen Eskalation der Amis begegnen zu können. Der Kalte Krieg war in vollem Gange.

Wie dem auch sei; wir liefen eben solchen Verteidigern des friedliebenden Ostens in die Hände, und wurden prompt wieder im Heim abgeliefert. Früchtchen war anscheinend ein anderer Ausdruck für Fallobst. So nannten und behandelten mich dann auch nach der unfrei­willigen Rückkehr die Erzieher. Der Gruppe Oleg Koschewoi war ich damit nicht zum Vor­bild geworden. So sagte man es mir jedenfalls. Da man mich hier sowieso nicht leiden mochte hatte ich mir fest vorgenommen, auch recht bald wieder aus ihrem Blickfeld zu verschwinden, um ihnen das Ärgernis, was ich offensichtlich darstellte, aus den Augen zu schaffen. Nur, das nächste Mal wollte ich besser vorbereitet sein. Aus dem Schulatlas lernte ich zunächst einmal Deutschland kennen. Ich kannte ja kaum etwas von meiner Heimat.

Warum den Russen nicht eine Frau besorgen?

Dann musste es doch irgendwie möglich sein an Reisegeld zu kommen. Deshalb begann ich wieder, mich in der Nähe der russischen Kasernen rumzutreiben. Inzwischen war es noch niemandem aufgefallen, dass mein konfiszierter und später wieder ausgehändigter Taschen­spiegel ein Geheimnis verbarg. Für einen Zehner verscherbelte ich diesen an jemanden, der mehr davon hielt als ich selbst. Der junge russische Soldat freute sich über den Erwerb, ich mich über mein erstes Geld. Das reichte natürlich bei weitem nicht. Zumal ich nie gerne alleine reiste. Mit weiteren Spiegeln, nachdem sich das rumgesprochen hatte bei unseren Befreiern vom faschistischen Joch, konnte ich nicht dienen. Dafür aber besorgte ich den Sandlatschern – gemeint sind hier die gemeinen Fußtruppen der Sowjetarmee – ihren geliebten Wodka. Der billige Fusel-Korn wurde von denen als Wodka akzeptiert. Natürlich tranken sie auch ihren Samagonka[7], aber wurden sie mit ihrer Destillieranlage erwischt gab es reichlich Bunker dafür. So wurde mein Kundenkreis immer größer. Wer verdächtigte auch schon einen Dreikäsehoch, Wodka in Kasernennähe zu schmuggeln? Dabei sammelte sich durch die Provisionen ganz schön was an Bargeld in meinen Taschen an.

Durch Zufall (?) trieb sich auch des Öfteren eine junge Frau in der Einöde des Kasernen­geländes von Dresden Hellerau herum. In einem gewissen Umkreis des Kasernengeländes durften sich auch die Soldaten ziemlich frei bewegen. Unser Heim war nur durch einen breiten Gürtel verwilderten Gestrüpps und ein paar mickrigen Bäumchen von den eigentlichen Kasernen getrennt. Bis zum Kriegsende gehörte ja das Heimareal samt den Häusern ebenfalls zum Wehrmachtsgelände. Die russischen Soldaten versuchten immer wieder mit der jungen Frau Kontakt aufzunehmen, was aber anscheinend an den Sprachschwierigkeiten scheiterte. Sie hatte ihre Schulzeit schon beendet noch bevor die russische Sprache als Pflichtfach eingeführt wurde.

Das was die Soldaten von der Frau wollten war eigentlich international bekannt. Aber die Frau stellte sich, oder war doof. Schnell erkannte ich, dass hier meine Dolmetscherdienste gefragt waren und bot sie auch zu diesem Zwecke an. Erfahrungen auch auf diesem Gebiet hatte ich ja schon reichlich in Leipzig gesammelt. Na also, warum nicht gleich so. Eigentlich, so schien mir wollten beide Seiten das gleiche. Ich machte natürlich daraus gleich ein Geschäft. Die Frau wollte mir gegenüber erst die beleidigte herauskehren. Nicht weil gleich drei Kerle von ihr das gleiche wollten, sondern weil ich ihr sagte das sie dafür auf die schnelle 30 Märker verdienen könne. Sie wünschte sich so sehr ein paar Perlonstrümpfe aus dem deka­denten Westen. Nur deswegen erklärte sie sich bereit das Geld anzunehmen. Sie gab mir, zum Zeichen und weil die misstrauischen Soldaten darauf bestanden, ihren Ausweis als Pfand. Die Soldaten sammelten 50 Mark, die ich so verstaute, dass die Frau die genaue Summe nicht erkennen konnte.

Schon verkrochen sich alle vier ins tiefe Gebüsch hinein. Ich legte immer großen Wert darauf zufriedene Kunden zu haben, deshalb wollte ich mich auch vergewissern, ob die Frau sich ihr Geld auch redlich verdiente. Ich hätte vorher wohl besser einige Karl May Bücher lesen sollen. Schließlich war ganz in der Nähe Radebeul, das Karl May Museum. Aus den Büchern hätte ich vielleicht lernen können, wie man sich in solch einem Gelände heranschleicht, ohne sich gleich einen Dorn aus dem Brombeerstrauch in die Fußsohle zu treten. Wir liefen ja überwiegend barfuß durch die Gegend, um das wenige Schuhzeug zu schonen. Dafür musste ich mir dann im Heim von einem Arzt den Fuß aufschneiden lassen. Ekelhaft, schmerzhaft das Ganze. Von örtlicher Betäubung hatte der Arzt anscheinend noch nie etwas gehört. Dafür aber ließ er die eigentliche Spitze des Dorns in meiner Fußsohle, der dann Wochen später wieder zu Eitern begann. Erst einmal verkniff ich mir einen Schmerzensschrei.

Was für die gestiefelten Soldaten ein Kinderspiel war, sich einen Weg durchs Gebüsch zu brechen, war für mich zur Tortur geworden. Ich biss also die Zähne zusammen und gelangte auch ans Ziel.

Doch, ich muss schon sagen, ich hatte meine Mutter einige Male auf der Baustelle besucht und gesehen wie sie unser Brot verdiente. Als ausgezeichnete Heldin der Arbeit mit Aktivi­stenorden, verdiente sie in ihrer 54 Stundenwoche ihr Geld wirklich viel mühsamer als die Frau unter den Soldaten. Wenn ich die Zeit meines Anschleichens mitrechnete hatte sie alles in allem ihre 50, pardon 30 Mark, der Rest gehörte ja mir, in etwa 20 Minuten verdient. Wogegen meine Mutter für die 54 Stunden gerade mal 65 Mark bekam.

Blitzschnell, diesmal ohne mir einen weiteren Dorn einzutreten, war ich wieder zu meinem Platz zurückgekehrt. Die Frau machte ein sehr zufriedenes Gesicht, als ich ihr ihren Ausweis mit 30 Mark darin zurückgab. Rührte das zufriedene Gesicht etwa von der Vorfreude her, sich nun endlich die ersehnten Perlonstrümpfe kaufen zu können? Ich konnte das schlecht beur­teilen, ich war noch niemals Frau. Obwohl die Soldaten einen Großteil ihre dürftigen Kröten Monatssold losgeworden waren, machten auch sie zufriedene Gesichter. Ich auch! Zwanzig Mark verdiente man hier in Dresden nicht alle Tage auf einen Schlag. In Leipzig, ja da war das noch ganz anders gewesen. Aber darauf komme ich noch. Anscheinend hielten bei der Frau die Perlonstrümpfe – dass wusste sie vorher schon – nicht sehr lange. Sie erklärte sich bereit in zwei Tagen schon wiederzukommen. Na fein! Es tat mir ja selbst leid, dass ich dann nicht mehr den Vermittler spielen und die Vermittlungsgebühr beanspruchen konnte. Ich machte mir deswegen aber keine Gewissensbisse. Die würden in Zukunft auch ohne mich zurechtkommen.

Fußnoten

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_B%C3%B6ttger

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Riesa

[3] Holzvergaser, https://de.wikipedia.org/wiki/Holzgas

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Stalin

[5] Gute Nacht http://www.speedlearningservice.de/Wissensfabrik/PublicLessons.aspx?lId=24957

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Alexandrowitsch_Fadejew

[7] Schwarz gebrannter Schnaps, Wodka-ähnlich https://en.wiktionary.org/wiki/samogon

 

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1

Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser:

Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

Kapitel 2

In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf

 Kapitel 3

Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf

 Kapitel 4

  1. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/

04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2

Kapitel 5

von Heim zu Heim

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/

PDF: 05-von-heim-zu-heim

Kapitel 6

Wieder gut im Geschäft mit den Russen

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/

06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen

Wie geht es weiter?

Kapitel 7

Lockender Westen

 

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« II

Posted in Biographie, Kriminalität, Kriminologie, Uncategorized by dierkschaefer on 25. August 2016

moabit k1

Dieter Schulz

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit,

die keine Kindheit war

 

Zweites Kapitel

 

 

In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

 

In Dönschten[1], diesem am Arsch der Welt liegenden Nest im Ost-Erzgebirge, musste ich fest­stellen, dass sich das Herz auch noch aus anderen Gründen als der Angst bemerkbar machen konnte. Es war ein wundervoll schmerzhaftes Ziehen, was sich in meiner Brust vollzog. Schuld daran war eine gewisse Monika Braun. – Ich grüße dich Monika, falls du diese Zeilen jemals lesen solltest. Dieses schillergelockte, blonde Mädchen, (es gab nicht viele Mädchen meiner Altersklasse in Dönschten) war bei weitem das Schönste und hatte etwas in mir bewirkt, was ich bis dahin noch nie verspürt.

Nie gekannte Gefühle

Na ja, ich war knapp 14 und Monika meine heimliche Liebe. Ich weiß bis heute noch nicht, ob sie etwas Ähnliches für mich empfand. Noch nach fünfunddreißig Jahren hatte ich die gleiche Sehnsucht im Herzen. Um einen Blick auf sie erhaschen zu können, habe ich stunden­lang am Fenster unseres Gemeinschaftsschlaf­saales ausgeharrt, um sie an ihrem Schlafzim­mer­fenster zu sehen. Ich bildete mir ein, dass Monika sich wegen mir vor dem Schlafengehen fast jeden Abend eine Weile am Fenster zeigte.

Fünfunddreißig Jahre später im Juli 1990, saß ich fast am gleichen Platz. Nur: inzwischen war aus dem Heim für schwererziehbare Jungs ein Restaurant für Gewerkschaftsangehörige gewor­den, die im Erzgebirge ihren Urlaub verbrachten.

Genau dort, wo früher, 1954 – 55, mein Bett, eins von 17, gestanden hatte, saß ich nun mit meiner Lebensabschnittsgefährtin und mit meiner Schwester an einem weißgedeckten Tisch bei einem Bier. Ganz bewusst saß ich so, dass ich genau den gleichen Blickwinkel wie damals hatte. Ich schaute wie früher zum Fenster hinauf, wo Monika sich manchmal mit offenem Haar und Nachthemd hatte sehen lassen. Mehr als ein scheues Lächeln hatten wir eigentlich nie ausgetauscht.

Dieses Lächeln, ihr langes Haar, diese Bilder hatten mich all die Jahre nicht verlassen. Sie ist meine allererste, allergrößte, einzige Liebe in meinem Leben geblieben. Diese Erinnerungen aufzufrischen war ich gleich nach dem Mauerfall den weiten Weg von Hannover dorthin gefahren. Ein Lichtblick aus meiner Kindheit. Ich habe diese kurze Zeit des Glücks wie eine Kostbarkeit in meinem Herzen aufbewahrt. Es gab nicht all zuviele davon in meinem Leben. Im gleichen Dorf wohnend gingen wir noch nicht einmal in die gleiche Schule. Die aus­nahms­los bösen Buben aus dem Heim marschierten jeden Morgen brav im Gleichschritt, ein Lied, drei, vier, auf den Lippen, in die eigene Heimschule, während du, Monika, in den nächsten Ort zur Schule musstest. Ich habe 1990 in dem Ort, dessen Name mir entfallen ist, übernachtet, weil Dönschten, dieses kleine Kaff, keine Unterkunft bieten konnte. Ich habe nur wenige Stunden in Dönschten verbracht, als ich 1990 dort war.

Ich habe mich nach dir erkundigt. Du lebtest immer noch dort, warst wahrscheinlich nie aus dem Nest weiter herausgekommen als bis Dipps[2] oder gar Dresden? Ich habe wahrscheinlich die Betten, die Orte öfter gewechselt als du deine Bettwäsche. Ich wollte das Andenken an dich so bewahren, wie ich es in Erinnerung hatte, wollte keine Aufmerksamkeit erregen, indem ich mich zu eingehend für dich interessierte. Vielleicht, hätte ich dich gesehen, wäre ich bereit gewesen, meine Illusionen zu zerstören. Ich habe zu wenige davon in meinem Herzen, als dass ich auch diese noch aufgeben wollte. Du verstehst: Wir werden alle nicht jünger! Man liest allenthalben von Menschen, die sich nach solch langen Zeiträumen ihre Jugendliebe erfüllen. Ob ich der Typ dazu wäre? So wirst du wohl nie erfahren, dass ich deinethalben schon mit 13 zum Dichter wurde. Noch nach 39 Jahren erinnere ich mich an einzelne Zeilen der Schmachtfetzen, die ich in Richtung deines (Schlafzimmer?-)fensters gemurmelt habe:

 

„Geheimnisvoll, wie der Sommer,

steigt dein Bild vor mir auf,

Schwebend im Dunkel der Nacht –

Und im Lichte des Tages.

Noch nie hast du geweint,

weil du weißt,

dass auch meine Tränen zu Boden fallen ….“

Wenige Augenblicke in meiner Kindheit,

wo ich ein Kind Gottes war!

Hast du jemals bemerkt, dass du der Gegenstand meiner Sehnsucht warst? Weißt du eigent­lich, dass ich ein unvergängliches Zeichen meiner Liebe zu dir mit mir herumtrage, bis ins Grab? Nein, sicherlich nicht. Ich habe den Schmerz tapfer verschwiegen, als ich mir die Wunde zufügte. Es war aber nicht so prosaisch, wie du jetzt vielleicht denken magst. Ich war damals so glücklich. Ich war damals so glücklich. Ich durfte für deine Oma, damit auch für dich, Holz hacken. Durch diese Tätigkeit kam ich deinem Fenster, dir, um ein ganzes Stück näher. Ich wusste, dass du nach der Schule im Haus sein musstest. Meine Aufmerksamkeit musste ich nun zwischen den zu spaltenden Holzscheiten und deinem Fenster teilen. Dich einmal am Tag wenigstens zu sehen, war für mich der Himmel. Einmal, als ich glaubte an deinem Fenster eine Bewegung wahr zu nehmen, drehte ich meinen Kopf. Meine Augen fanden dich nicht. Dafür fand aber das Beil, das ich schon hochgeschwungen hatte, mei­nen Daumen der linken Hand. Nun, der Daumen ist noch dran. Er hing zwar nur noch an einer Ecke fest, wurde aber mit einer Ecke meines Hemdes wieder angepresst. Seitdem wächst mein Daumennagel nur noch wellenförmig nach. Dafür ist aber auch jeder Fingerabdruck bei der Polizei immer sehr ausgeprägt. Daumenkuppe und auch der Mittelfinger zeigen eine unver­wechselbare Narbe. Nicht ums Verrecken mochte ich jemanden sagen, dass ich mir beim Holzhacken beinahe den Daumen abgehauen hätte. Für das Holzhacken bekam ich von deiner Oma, ich hatte leider nie eine, ein paar Märker. Das heißt, das Heim bekam das Geld, das wie alles, was wir Jungs nebenher verdienten, in die Gemeinschaftskasse floss. Statt der drei Mark Taschengeld, die wir offiziell erhalten sollten, wurde alles abgenommen. Nur, was aus der Gemeinschaftskasse eigentlich bezahlt wurde, ist mir in dem Jahr, wo ich zu „Gast“ in eurer Einöde war, nie ganz klar geworden. Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, in dem ganzen Jahr ins Kino oder dergleichen gekommen zu sein. Schmiedeberg war die nächste größere Ortschaft. Dort gab es einen Fußballplatz, ein Kino, eine Station der Bimmelbahn und eine Bushaltestelle. Ich habe 1990 in dem Nest kaum etwas wiedererkannt. Dabei hatte ich mich so sehr auf die herrliche Natur gefreut, die ich in so guter Erinnerung hatte. Der reißende Bach war zu einem modrigen Rinnsal geworden, der Bach, der direkt bei uns am Heim vor­bei­gerauscht war, wo wir Jungs ein Steinwehr gebaut hatten, um an der tiefsten Stelle im eiskalten Wasser in der heißen Jahreszeit uns zu erfrischen, wo sich die Forellen tummelten, die wir, wenn wir nur geschickt und schnell genug waren, mit der Hand fangen konnten. Wo, um Himmels willen, war dieser Bach geblieben?

Dem Paradies ganz nahe gewesen

Was ist aus dem schönen Osterbrauch geworden? Eine der schönen Erinnerungen meines Lebens wurde wieder wach. Ostersonntag, weißt du noch? Wer daran glaubte und das kom­mende Jahr über gesund bleiben wollte, musste in aller Herrgottsfrüh aufstehen, durfte kein Wort sprechen. Man machte sich auf den Weg, weiter in die Berge hinauf. Wir suchten und fanden eine Quelle, deren Wasser gegen Sonnenaufgang abfloß. Erst wenn man davon getrun­ken, Gesicht und Hände darin gewaschen hatte, durfte man reden und sich ein geseg­netes Osterfest wünschen. An dieses eine Mal zurückdenkend betrachte ich mich einmal dem Para­dies ganz nahe gewesen zu sein. Danach gingen wir „Leute ärgern“: Alle die noch nicht so früh aus den Federn gekrochen waren und den Weg noch vor sich hatten, gaben lieber eine Kleinigkeit, als dass sie sich so lange beschimpfen ließen, bis ihnen letztendlich der Kragen platzen musste und böse Widerworte über ihre Lippen kamen. Die Störenfriede wurden dann doch lieber beschenkt. Bei dieser Gelegenheit kam ich sogar bis an d e i n e Wohnungstüre!

Wenige Augenblicke in meiner Kindheit, wo ich ein Kind Gottes war!

Du, Monika Braun, die du wohlbehütet bei deiner Mutter und Oma aufwuchst, hast anschei­nend nicht viel mitbekommen von dem, was sich manchmal in eurem Nest abgespielt hat. Mit den etwa 120 Heimkindern und den dazu gehörigen Erziehern, hatte euer Kaff ganze vierhun­dert Einwohner. Ich glaube deine Mutter arbeitete auch für das Heim, – in der Nähstube?

Der einzige Trecker im Dorf wurde dem Bauern weggenommen, weil er sich nicht der LPG[3] anschließen wollte. Man erzählte sich damals auch, dass er dann Selbstmord begangen hätte. Vielleicht aber ist er auch nur in den Westen abgehauen. Erinnerst du dich an den Fotografen, der einzige Fotograf weit und breit? Die Frau unseres damaligen Heimleiters gab mir ein Foto von mir, das er damals gemacht hatte. Diese Frau hatte doch tatsächlich noch ein kleines Notizbüchlein mit eingeklebten Bildern ehemaliger Heiminsassen vor der Stasi[4] gerettet. In diesem Notizbüchlein stand auch vermerkt, an welchem Tag und zu welcher Stunde Dieter Schulz für immer dem Heimleben Adieu gesagt hatte, es war die erste große Pause an einem Tag im August 1955.

Hast du mich eigentlich nicht manchmal des Abends am Fenster vermisst? Du hast ja auch jeden Abend vor dem Schlafengehen zu mir(?) heruntergeschaut. Ihr normalen Dorfkinder durftet ja keinen Kontakt mit uns pflegen. Mehr als ein süßes Lächeln habe ich von dir nie­mals bekommen. Wie habe ich dein Grübchenlächeln geliebt! Deine blonden Schiller­locken, deine Stimme. Auch das eine Mal, wo wir in der Naturbadeanstalt zusammentrafen, hättest du eigentlich mein Herz klopfen hören müssen, wären deine Freundinnen nur nicht so albern und laut gewesen. Ach, Monika inzwischen habe ich ähnlich verliebte Eskapaden meines Sohnes miterlebt. Hast du eigentlich Kinder?

Ich werde schwermütig, wenn ich daran denke, wir hätten welche zusammen haben können. Ich wäre in eurem Kuhkaff geblieben, hätte mir viele Unannehmlichkeiten im Leben ersparen können. Aber, wäre ich zu dem Zeitpunkt überhaupt noch dazu fähig gewesen mein Leben derart zu ändern? Bei der Eintönigkeit des Lebens dort? Habe ich nicht ein ganz anderes Wesen, ein ganz anderes Temperament durch meine frühen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse eingebrockt bekommen als du?

Heim ja, aber nicht ins Heim!

Zwar hatten gewisse Leute vom Jugendamt und der Polizei geglaubt, dass ich in Dönschten weit genug aus der Welt wäre und mir das Weglaufen sehr schwer fallen würde. Aber mein Freiheitsdrang, meine Sehnsucht nach meiner Mutter waren schon immer stärker gewesen. Dabei hatte man es uns Heimkindern wirklich sehr schwer gemacht auszureißen. Ein paar Kilometer nur Richtung Osten stieß man an die Tschechische Grenze. Dort lagen immer diese Flugblätter in russischer Sprache herum, wo die Sowjetsoldaten zur Fahnenflucht aufge­fordert wurden. Man versprach ihnen, einen Neuanfang mit Viehzeug und Land zu ermög­lichen. Es war unter Strafe verboten, diese Blätter auch nur aufzuheben. Ich habe sie immer den anderen Jungs vorgelesen, bzw. übersetzt[5]. In diese Richtung war uns eine „natürliche“ Grenze gesetzt. Wer wollte schon in die Tschechei? Ich nicht und meine Mitläufer ebenso wenig. Wir wollten nicht des Ausreißens willens ausreißen. Wir hatten alle ein Ziel! Heim ja, aber nicht ins Heim! Ich, wir wussten, wohin wir wollten. Die Heimleitung auch! Uns blieb nur eine Richtung offen. Über Schmiedeberg-Dippoldiswalde-Dresden nach Leipzig. Dresden war immer das erste, erklärte Ziel. Von da aus, einmal in der Anonymität einer Groß­stadt untergetaucht, war es nur noch ein Kinderspiel an den Zielort zu gelangen. Aber erst mal raus aus Dönschten; na ja, die drei Kilometer durch den Wald, das ging noch. Jedoch dann durch Schmiedeberg, ohne als Heimkind erkannt zu werden. Da musste man sich schon was einfallen lassen. Weiter nach Dipps. Mit der Bimmelbahn etwa? Dann wäre man gleich zu Fuß schneller weggekommen. Der selten verkehrende Bus? Auch diese Fahrer waren ange­wiesen, die leicht an ihren „Uniformen“ zu erkennenden Heimkinder erst gar nicht mitzuneh­men oder sofort der Polizei zu melden. Viele waren danach so deprimiert gewesen, weil man sie schon wenige Stunden später wieder im Heim abgeliefert hatte, dass sie kaum noch einen erneuten Versuch wagten. Ein Mitfahrversuch im Bus war so gut wie immer zum Scheitern verurteilt. Blieb als einziger Weg wegzukommen nur die Straße, d.h. immer im Wald entlang, die Straße im Auge behal­tend. Einmal, im Herbst 1954, ist uns so die Flucht gelungen.

 zu viert kackfrech

Das nächste Mal, besser darauf vorbereitet, haben wir den Busfahrer ausgetrickst. Wir hatten uns komplette Fußballtrikots besorgt. So, als Fußballer verkleidet, die Botten an den Schnür­sen­keln zusammengebunden über der Schulter bestiegen wir zu viert kackfrech den Bus in Schmiedeberg und lösten bei dem misstrauischen Fahrer Fahrkarten bis Dippoldis­walde. Er nahm uns die Geschichte ab, dass wir in Schmiedeberg ein Fußballfreundschafts­spiel bestritten hätten, wir aber nicht alle im Mannschaftsbus Platz gefunden hätten und so mit dem Bus fahren müssten. Es war ein Sonntag. Keine Schule vermisste uns, bei der Heim­leitung hatten wir uns zum Fußballspielen abgemeldet. Die einzige ebene Fläche zum Spielen lag gute 800 Meter in der Höhe. Ziemlich weit vom Heim entfernt. So schnell wurden wir also nicht vermisst. D.h. wir hatten einen guten Vorsprung, waren schon in Dresden als unser Fehlen bemerkt wurde. Allerdings endete diese Flucht bereits in Riesa. Wir hatten uns an der Stadtperipherie von Dresden einen ziemlich schweren Elbkahn „ausgeliehen“, und waren damit auch recht gut stromabwärts gekommen. Nur, in der Nacht waren wir das Opfer der vorangegangenen Strapazen geworden. Keiner konnte mehr die Augen offen halten.

 Da hatte uns die Wasserschutzpolizei am Haken

Nach und nach schliefen wir alle vier ein. Der Strom, war mein letzter Gedanke, würde uns schon von alleine weitertragen. Es war ja die ganze Zeit sehr gut gegangen. Durch lautes Scheppern und Rumpeln wurden wir aus tiefem Schlaf gerissen. Wir waren am Ziel unserer Reise. Allerdings nicht dort wo wir eigentlich hin wollten. Uns hatte die Wasserschutzpolizei am Haken. Bis wir alle so recht begriffen, was der Krach zu bedeuten hatte, hatte man uns schon mit langen Staken, die Enterhaken glichen, längsseits gezogen. Auch in Riesa gab es ein Kinderheim, so brauchten wir die Nacht wenigstens nicht in einem Polizeikeller zu ver­bringen. Dieses Heim, eines von vielen, die ich in meiner Laufbahn kennen lernte, war ein schmuckes Häuschen. Die ganze Atmosphäre dort hatte mehr familiären Charakter. Wovon wir „schweren Jungs“ natür­lich ausgeschlossen wurden. In den paar Tagen, die wir dort bis zu unserem Rücktransport festgehalten wurden, wurden die anderen Kinder vor uns auf Distanz gehalten. Viele Jahre später, als Kellner, habe ich mich mit Kollegen rumgestritten, weil ich behauptete, dass in der Gegend dort auch Wein angebaut würde. Erst durch Fachbücher konnte ich ihnen beweisen, dass so hoch im Norden Deutschlands auch trinkbarer Wein wuchs. 1990 habe ich in Meißen in einer Burgschänke gesessen, an die vergangene Zeit zurückgedacht und den einheimischen Wein getrunken.

Neben der Erkenntnis, dass unsere Flucht bereits hier gescheitert, und dass hier Wein wuchs, nahm ich von dieser Reise noch mit, dass wir wieder einige Fehler gemacht hatten. Und das musste mir „altem“ Hasen passieren. Ich war schon ein toller Hecht, was? Lasse mich, vor der Polizei auf der Flucht, aus der Elbe fischen.

Tja, Monika, bald danach konnte ich wieder an meinem Fenster sitzen und dir schmachtende Blicke hoch werfen.

Im Januar 1955 dann, welch ein blödsinniges Unterfangen!, machten wir uns zu viert wieder davon.

PDF-Fassung 02 ach Monika

Fußnoten

 [1] Dönschten liegt etwa drei Kilometer südöstlich von Schmiedeberg im Osterzgebirge. Westlich des Ortes an der Bundesstraße 173 befinden sich die Rote Weißeritz, die in ihrem oberen Verlauf bei Dippoldiswalde zur Talsperre Malter aufgestaut wird und die Trasse der Weißeritztalbahn, die nach dem Jahrhunderthochwasser 2002 nur bis Dippoldiswalde wiederaufgebaut ist. 163 Einwohner, (23. Jan. 2009)

http://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%B6nschten abgerufen: Montag, 21. Februar 2011

[2] Dippoldiswalde

[3] Als Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, LPG, wurde der zu Anfang 1952 noch teilweise freiwillige und später durch die Zwangskollektivierung unfreiwillige Zusammenschluss von Bauern und Bäuerinnen und deren Produktionsmitteln sowie anderer Beschäftigten zur gemeinschaftlichen agrarischen Produktion in der DDR bezeichnet. https://de.wikipedia.org/wiki/Landwirtschaftliche_Produktionsgenossenschaft

[4] Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), auch Staatssicherheitsdienst, bekannter unter dem Kurzwort Stasi war in der DDR das innenpolitische Unterdrückungs– und Überwachungsinstrument der SED zum Zweck des eigenen Machterhalts. https://de.wikipedia.org/wiki/Ministerium_f%C3%BCr_Staatssicherheit

[5] Zum besseren Verständnis: Schulz hatte seine Kindheit im ab 1945 russisch besetzten Königsberg zugebracht und dabei gut Russisch gelernt, was ihm auch später von Nutzen war.

 

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

Kapitel 1

Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder

Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.

https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/

https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf

 

Kapitel 2: In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

Klicke, um auf 02-ach-monika.pdf zuzugreifen

 

Wie geht es weiter?

Kapitel 3:

Weiter im Kreislauf: Heim,   versaut werden,   weglaufen,   Lage verschlimmern

 

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»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« I

Posted in Geschichte, Gesellschaft, Uncategorized by dierkschaefer on 29. Juli 2016

 

Der Ausreis(ß)ende

oder

Eine Kindheit, die keine Kindheit war

 

 Erstes Kapitel

 

moabit k1

Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen

oder

Du sollst wissen, lieber Leser:

Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell

und überheblich.

 

 

 

Mein Leben sollte nicht unbedingt als Beispiel dienen,

deswegen ist mein Leben lesenswert!

Dieter Schulz

 Euch ist in mir ein Mensch erschienen, der maßlos hat vor Zeiten aufbegehrt.

Zerschlagen hörte ich die Leute immer wieder sagen:

„Den Hoffnungslosen laßt verloren gehen!“ [1]

Vielleicht wird euch dann und wann ein Bild vor Augen kommen, aus meiner Zeit,

und kann euch sein ein mahnend Zeichen.

 

Meiner Mutter zum Gedenken

Indem in deinen Tränen auch die meinen sich weinten aus,

und all das Böse wär

wie schmelzend aufgetaut in unserem Weinen,

bis alles wäre gut .und wie vorher –

Ich kann nicht mehr deine Tränen sehen,

dein Tränenbild kann mich nicht mehr erlösen.

Es war die Zeit zu ungeheuerlich in ihrer Größe, ihrem Graun – wie keine.

Uns einend, trennend, und: – ich liebe dich!

 

Zittern meine Hände beim Schreiben, weil sie altersschwach sind? Bin ich senil geworden, weil Tränen mir beim Schreiben dieser Seiten den Blick verschleiern? – Oder, sind es die Gedanken an die bitteren Jahre, die meine Hände zittern, meine Augen tränen lassen?

Zittern meine Hände um das, was ich verlor. Meine Kindheit! – oder was am bitteren Ende mir noch steht bevor?

Jetzt, mit 65 habe ich die Zeit, die Gedanken gefunden rückblickend das unbegreifliche für mich begreiflich zu machen.

Mutter, du hast das Rätsel, welches ich war, erraten. Du bist das Einzige, welches ich nicht verlier.

Nichts als der Name und dazu Daten.

Wie heißt dein Name, Zeit?

Er heißt: Vergessen!

Möchte ich denn vergessen? Kann ich vergessen? Lassen mich nicht meine Träume des Nachts hochschrecken. Laut redend meine Mitschläfer aus ihren Träumen reißen?

Was alles soll ich schreiben?

Nichts läßt meine Hände mehr zittern.

Es halten sich MEINE Hände aneinander fest. Wie immer, weil kaum eine andere Hand da war, meine Angst von mir zu nehmen. Oft, wenn ich erbittert, verbittert, vergebens mich mühte des Lebens Sinn zu deuten, Verzweiflung mich krank machte, gingen andere an mir vorbei. Gleichgültig, mit eigenen Sorgen belastet. Nirgendwo fand ich einen Halt. All mein Wissen, was half es? Wenn die anderen nichts wussten. Nichts wissen wollten. Ich erlag, zerrissen niedergeschlagen dem Nichts.

Niemand hat mich das Leben neu gelehrt

Ich blieb, was ich war, beschwert von der Vergangenheit, die ich mir noch nicht einmal hatte selbst aussuchen können. Ungelenkte Emotionen wiesen mir den Weg durchs Leben. Es hat mich gelehrt vor nichts zu erbleichen, und ohne Tränen habe ich geweint.

Die Zeit, – sie entlässt mich dennoch nicht tränenlos. Reue? Wut? Auf diese Welt, in die ich hineingeboren wurde? die mich, die ich nicht wollte!

Meine Tränen kommen jetzt zu spärlich, zu spät!

Das wenig Schöne, das Wunderbare, ist längst vergangen, verweht, überweht von Vorhal­tungen, die bei jedem Gerichtstermin von den Menschenrichtern aus den alles überdeckenden Akten vorgelesen werden.

Meine Hände. Ich schaue sie an. Ich frage sie um Rat. Was alles soll ich schreiben? Was interessiert? Gibt es noch (Mit) -Gefühl unter den Menschen? Zählen die wenigen Freuden oder die Qualen? Zählt dieser oder jener Schritt?

Ein Lesestück – ein Menschenleben.

Hatte ich mir etwa selbst ausgesucht in welche Zeit, unter welchen Umständen ich hinein­geboren wurde? Ich suchte nach dem Sinn des Lebens. Sucht nach dem Leben überhaupt! Das was ich fand, fand ich, konnte doch nicht alles sein. Die wenigen Momente die ich in meinem Leben als glücklich bezeichnen kann, wiegen diese das auf, was meine Mutter an Schmerzen auf sich genommen hat, um mich in diese Welt zu setzen, mich durch die Kriegswirren zu schleppen? Wo blieb meine Daseinsberechtigung in diesem Weltgefüge? Nebulös; schemenhaft sah, erkannte ich das Weltgefüge, die Menschen darin.

„Pech gehabt, lieber Freund. Hast dich zu spät aus den Kriegs-Nachkriegswirren entwirrt. Anschluss verpasst. Heimat, Geborgenheit der Familie verloren? Schicksal! Dein, nicht mein Problem. Jeder Mensch wird mit der gleichen Gehirnmasse geboren. Mach was draus. Hier auf der Sonnenseite des Lebens, unserem Lichthof, gibt es keinen Platz mehr für dich. Wir müssten uns zu sehr einschränken, würden wir dich auch noch aufnehmen.

Nein, nein, bleib du mal schön auf der anderen, der Schattenseite des Lebens. Uns geht es gerade gut genug. Wir brauchen auch mal unseren Nervenkitzel. Woher sollen denn unsere Actionschreiber ihren Stoff hernehmen, um uns so schöne gruselige Schauergeschichten via Fernsehen ins Haus liefern zu können. Bei diesen spannenden Krimis kann ich mich viel besser entspannen, wird mir meine weiße Weste erst so richtig bewusst.

Ihr Bösen, dort hinter der Nebelwand, müsst schon dafür Sorge tragen, dass meine Kinder ihr Jurastudium nicht umsonst machen. Die müssen doch später auch mal einen Job haben. Und denk mal an die vielen Planstellen bei der Polizei, der Justiz überhaupt. Willst du unser ganzes Gefüge durcheinander bringen? Wie viel Arbeitslose wir dann mehr hätten. Nicht auszudenken, dass die vielen Beamten dann auch noch arbeiten gehen müssten.“ Mein Vater hat meines Wissens den Krieg auch nie gewollt. Verstrickung unglücklicher Umstände. Gott wird es dir später schon vergelten, jetzt lebe dein Leben auf der Seite, für die du durch deine Geburt und durch die Umstände bestimmt bist. Die ganze Welt ist voll davon, von den niederen Kasten, von denen wir leben. Es wäre ja noch schöner, würden wir daran etwas ändern wollen. Wo sollen wir dann bloß mit unseren vielen schönen Gefängnissen hin? Die wären dann ja nutzlos. Nein, nein. Die müssen immer schön gefüllt bleiben. Da hängen viel zu viele Arbeitsplätze dran. Wie? Wir können doch das Geld nicht einfach anders einsetzen und ein anderes soziales Netz aufbauen. Mein Freund, du machst dir vielleicht Vorstellungen! Die Gefangenen in den Gefängnissen arbeiten doch, bringen auch was rein. Die vielen Firmen, die dort billig arbeiten lassen, die müssten dann ja auf dem freien Arbeitsmarkt teure Arbeitskräfte suchen.

Nein, nein. So geht das nicht. Was soll das Gejammere um die paar Jährchen. Das Leben ist doch so lang. Lass es dir eben gleich beim ersten Mal ein Lehre sein, dann gehst nie wieder dort rein, ins Loch. Du musst ja nicht das Schlechte, was du dort lernst, annehmen. Werd ein anständiger Mensch. Verdien dir deine Brötchen so redlich wie ich.

Was? Ich soll einen Vorbestraften bei mir einstellen? Bist du von Sinnen? Was sollen meine Kunden von mir denken, wenn das rauskommt? Was? Der Staat stellt noch nicht einmal Straßenfeger ein, die vorbestraft sind? Da siehst du mal, wie Recht ich habe, dich auch bei mir nicht einzustellen.

Ich liieebe die deutsche Justiz!!!

Leicht gesagt, wenn man als Vorbestrafter noch nicht einmal als Straßenkehrer eingestellt wirst. Denn bei dieser Tätigkeit wärst du ja Stadt-Angestellter. Vorbestrafte Stadt-Ange­stellte? Unmöglich!

Seltsam diese Einstellung. Haben doch selbst Politiker dazu aufgerufen, auch Vorbestraften eine neue Chance zu geben. Die Doppelzüngigkeit der Politiker, darüber zu diskutieren wäre schon wieder ein neues Buch.

Gut gebrüllt Löwe. Du, Beamter, studierter Sesselpupser hast ja auch keine Defizite in deiner Kindheit gehabt. Hattest die Möglichkeit eine gute Schulbildung zu erfahren.

Wie soll jemand Re…..sozialisiert werden, der niemals eine Chance hatte

in das soziale Gefüge eines Staates integriert zu werden?

 Der überwiegende Teil des „Abschaums“ der Menschheit, zum Teil Legastheniker, Hilfsschüler oder wie ich, mit gerade mal knapp 6 Volksschuljahren, taugt gerade mal zu Schwerstarbeit beim Bauern für Unterkunft und Verpflegung und 20 Mark Monatslohn. 1957 wirst du auch noch von der Polizei angehalten, weil du ein Ur-Alt Fahrrad fährst. Mit defekter Handbremse und defektem Rücklicht. Dafür bekommst du dann 1 Stunde Verkehrsunterricht, 10 DM Geldstrafe und 1 Wochenendarrest aufgebrummt.

Heutzutage verursachst du im besoffenen Zustand einen Verkehrsunfall mit 1, 2 oder mehr Toten, und bekommst dafür ein paar Monate .Und diese auch noch zur Bewährung ausgesetzt. Ich liieebe die deutsche Justiz!!! Darüber, lieber Leser wirst du noch mehr lesen können.

Man liest doch fast täglich in der Presse das ihr da drin re-sozialisiert werdet, das Arbeitsamt euch mit Arbeitsplätzen nach eurer Entlassung versorgt.

Entschuldigung! Wie soll jemand Re…..sozialisiert werden, der niemals eine Chance hatte in das soziale Gefüge eines Staates integriert zu werden?

Mein lieber Freund, komm mir bloß nicht damit, dass deine Familie dem Staat unnötig zur Last fällt während du eine „geringfügige“ Strafe absitzt. Außerdem ist es eher unwahr­scheinlich, dass du nach deiner Entlassung überhaupt noch eine Familie hast. Oder glaubst du etwa deine junge Frau wartet jahrelang auf deine Rückkehr, trägt solange einen Keusch­heitsgürtel?

DU hast in der Welt des Lichts nichts verloren.

 Im Staatshaushalt sind solche Nebenkosten mit eingeplant. Überhaupt ist das ganze Justiz­wesen in den Steuerabgaben längst eingeplant. Pech für dich, dass du nur ein KLEINER Überlebensgauner bist, kein Format hast. Du konntest dir leider nicht den richtigen Rechts­anwalt, Sachverständigen leisten. Du weißt doch am besten, dass der Recht bekommt, der die besten Argumente vorbringen kann. Mit der richtigen Intelligenz kannst du das Recht zu deinen Gunsten zurechtbiegen. Du weißt doch, eine Hure lässt sich auch nur solange verbiegen, wie du sie mit deinen Mitteln dazu bewegen kannst. Nein, nein; DU hast in der Welt des Lichts nichts verloren. Im Licht liegt die Kraft des Lebens. DU darfst vegetieren. Auch Sumpfpflanzen sind manchmal zu etwas nütze. Und sei es um unsere Gefängnisse zu füllen. Wer sagt denn, dass nur im Dunkeln die Spiegel blind sind? Lasst uns dem Licht vertrauen.

Ich war in eine Zeit, den Umständen entsprechend in die Dunkelheit hineingeboren worden. Ich hatte einmal – als Kind schon – zuviel Feuer gemacht, um der Dunkelheit zu entrinnen, sie zu durchdringen. Das wurde mir für immer und ewig verübelt. Keiner wies mir den Weg da heraus. Jeder machte mich verantwortlich für das, was die Generation Erwachsener vor mir eingebrockt hatte. Hatte man mir schon die Kindheit gestohlen, so verbaute man mir die Jugend, begrub mich als Erwachsener hinter Mauern. Ein sehr bequemer Weg eigene Unzu­länglichkeiten und Fehler zu kaschieren. Die, die den Schlamassel heraufbeschworen hatten, wollten für die Folgen nicht mehr aufkommen. Oder waren es all die armen Schweine, die in den Schützengräben, unter Trümmern verreckt waren, die die Schuld schon abgetragen hatten? Hört bloß auf, immer auf die Kriegsgewinnler zu zeigen. Die sind vollauf damit beschäftigt unser Land wieder an die Weltspitze zu bringen. Der Rubel muss wieder rollen. Wo kämen wir da hin, würden wir in ihnen die Schuldigen an der Misere einiger Millionen Menschen zu suchen. Scheiße! Das will ich doch auch! Ihnen helfen ihre neuen Millionen zu vermehren. Aber ihr lasst mich ja gar nicht!

Danke! Danke, mein Führer.

Ich erlag dem schlimmen Wahn, es aus eigener Kraft zu schaffen, aus der Dunkelheit heraus­zukommen. Immer waren es die Schwarzberobten, die das bisschen Helligkeit, welches ich mir geschaffen hatte, wieder verdunkelten. Schwarz und drohend standen sie vor mir, sprachen: „Im Namen des Volkes!“

Danke! Danke, mein Führer. Der du unter dem Zeichen der Sonne vom deutschen Volk gewählt wurdest, um aus uns Herrenmenschen zu machen. Die, die es vorher schon waren, sind geblieben. Was geschah mit dem Rest? Die Mitverzapfer deines Wahnsinnsgedanken behielten das alte Rechtssystem aufrecht. Scherten sich einen Dreck um die Schicksale der vielen Menschen die eure Unsinnssuppe unserer Generation eingebrockt hatte. Du feige Sau, hast deinem Magenleiden selbst ein Ende gesetzt. Hast nicht darauf gewartet bis du an dem Brocken draufgehst, an dem du dich selbst verschluckt hast. Von dir spricht die ganze Welt noch heute. Hast ja auch nur ein paar Millionen Menschen totgemacht. Weitere Millionen ins Elend gestürzt. Ich löffle immer noch an deiner widerwärtigen Kriegssuppe. Schon einund­fünfzig lange Jahre!

Man klagte mich nach dem Recht des Volkes an – hatte mir nie Rechte eingeräumt.

Das Recht auf eine Kindheit. Ich durfte lediglich davon träumen. Nachdem ich die ersten Kinderbücher gelesen hatte und erfuhr, was eigentlich Kindheit bedeutet. Nur, da war ich schon längst kein Kind mehr. Einige dieser Träume erfüllte ich mir, in meinem Wahn glaubend, dass dies möglich sei. Teils gut, – mehr schlecht!

Ich hatte Pech.

 Die schon im Licht standen, hatten die Kurve rechtzeitig bekommen. Ich fand es toll, was die alles aus ihren vierzig Mark gemacht hatten.[2]

Ich hatte Pech. Zu spät, am verkehrten Ort geboren lernte ich nur noch die Erwachsenen kennen, die mit dem ganzen Mist nichts mehr zu tun haben wollten. Die meisten hatten ihre Schäfchen und Posten längst ins Trockene gebracht. Um ihre Posten krisensicher zu machen, dafür kam ich gerade noch zurecht. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich noch einen Vater hatte. Der hatte sich gleich nach Kriegsende in den Westen abgesetzt. Mein Bruder war uns abhanden gekommen; ich suche ihn bis zum heutigen Tage. Meine Mutter durfte in Leipzig die Trümmer wegräumen, die andere verursacht hatten. Das Leben ging weiter. Es musste ja auch Schlachtvieh geben. Wir Trottel aus dem Osten einer deutschen Provinz kamen gerade recht, um für die bereits etablierten den Wohlstand zu mehren. Die weißen Westen waren schon alle vergeben, die Träger waren saniert, und sind heute noch über jeden Verdacht erhaben. Einen kleinen Ganoven kann man bei der Verhaftung leicht mit „Du Strolch“ anreden. Es ist bedeutend schwieriger, einem bedeutenden Herrn einen Haftbefehl vorzulesen, ihn mit auf dem Rücken gefesselten Händen ins Polizeiauto zu stoßen, wie allgemein üblich. Ein Graf zum Beispiel kann an der Spitze eines Vereins viel mehr Unheil anrichten, als ein stinknormaler Knacki; der kann schlecht seinen Kopf in den Betonfußboden einer Gefängnis­zelle verstecken. Überhaupt – seit wann hackt eine Krähe der anderen ein Auge aus? Man kann doch einen Industrieboß, Waffenhändler etc. nicht hinter Gitter sperren. Wie viele Arbeitsplätze gingen da verloren? Meine Güte, so ein paar Millionen an Schmiergeldern. Da wird sich doch eine der niedrigen Chargen finden lassen, der seinen Kopf dafür hinhält. Wegen der Wiedervereinigung können wir doch keine wichtigen Köpfe rollen lassen, waren doch früher gute Geschäftspartner. Na ja, und die Krähe…….Wir kriegen unsere Gefängnisse auch ohne solche Prominenz voll. Wir schaffen einfach ein Drogenproblem und haben somit immer genügend Proletennachwuchs. Krankhafte Sittiche (Sittlichkeitsverbrecher) sterben auch nie aus. Es wird auch immer welche geben, die viel weniger als andere haben und deshalb zu Langfingern werden. Einbrüche und Banküberfälle könnte man leicht unterbinden. Ist aber eine Kostenfrage. Die Versicherungen zahlen lieber den Schaden als für die vorbeugenden Maßnahmen.

„Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ – Brecht

 Die Prostituierten? Mensch, die brauchen wir doch, um etwas Abwechslung von unseren faden Ehefrauen zu haben. Was können wir denn dafür, wenn der Stoff so teuer ist, mit dem sie den Ekel vergessen machen wollen, den wir ihnen mit unserem Sinnesrausch verursachen. Die dürfen doch deshalb nicht gleich einen Beischlafdiebstahl begehen. Ab in den Knast mit ihnen. Nachwuchs wird doch genug in den Ghettos gezüchtet. Frischfleisch für alle, die es sich leisten können. Wer nicht, der vergewaltigt! Ab in die Kiste mit solchen Strolchen. Nur wer die nötigen Mittel dazu hat, darf sich uneingeschränkt des Lebens erfreuen. Die anderen müssen eben ihre Gefühle im Zaum behalten. Oder aber sich mit Frau Faust und ihren fünf Töchtern begnügen. Wo kämen wir denn hin wenn jeder Prolet seine Fleischeslust auslebt. Pfui. Was haben wir im Krieg alles entbehren müssen? Vergewaltigt wurde nur im sexuellen Notstand. War ja auch Krieg, damals. Ist doch längst verjährt. Erinnert mich bloß nicht an die Plünderungen, ich war ja noch so jung, hatte Hunger. Wie ich so schnell an so einen dicken Wagen gekommen bin? Warum ich überhaupt so einen großen Schlitten fahre? Nein, nicht um bei anderen Neid zu erwecken. Ich brauche ihn aus Prestigegründen. Soll bloß kein Geschäfts­partner glauben meine Firma floriere nicht, soll keiner sagen, ich könnte mir so etwas nicht leisten. Repräsentieren ist alles, mein Lieber. Der Papst ruft doch auch die wohl­habenden Länder auf für die Armen zu spenden, präsentiert sich mit einer Gold-Juwelen-geschmückten Tiara, die ihm fast sein Genick bricht, hat an jedem Finger ein Kleinod, womit er die Armen segnet. Nein, nein. Macht mich bloß nicht verantwortlich für das Elend der Minderheiten.

Stimmt schon, dass die Penner in den Bahnhöfen, Parks und unter den Brücken das Stadtbild verschandeln. Aber muss man gleich meinen Bungalow mit scheelen Blicken betrachten? Womit habe ich das verdient, als guter Steuerzahler?

Ich Prolet, wenn ich mal Arbeit hatte, finanzierte damit die Rüstung, die Diäten der Abgeord­neten etc.

Ich spende den Parteien, damit sie an der Macht bleibe und alles so lassen, wie es ist. Nein, also diese neidischen Proleten sind aber mit gar nichts zufrieden zu stellen. Besetzen die doch einfach ein Haus von mir, wo ich es gerade so günstig abstoßen könnte. An einen Supermarkt, der dem gegenüber gerne Konkurrenz machen möchte. Nein mein Lieber, nicht der Minder­heit müssen wir Opfer bringen. Die Wirtschaft muss hochgehalten werden. Die Proleten verrecken so oder so, aber wir müssen etwas Bleibendes schaffen. Koste es was es wolle.

Die Nebelwolken, diese hauchdünne Schicht, lässt Welten zwischen den Menschen entstehen. Und sei es der Nebel, den die Granaten im Krieg verursachten. Wer weit genug davon entfernt war, oder sich rechtzeitig davonmachen konnte, hatte das bessere Ende vom Faden gezogen.

Schreibt in euer Poesiealbum! Sofern ihr euch noch soviel Romantik bewahrt habt: Nichts wird je vergessen sein. Weder der Krieg mit all seinen Grausamkeiten, noch was danach noch blieb.

Ich war niemals richtig Kind.- Wurde mir nicht ermöglicht.

 Ich war niemals richtig Kind, niemals richtig jung. Bin nicht alt. War ewiglich jugendlich. Konnte mich nach keiner Seite hin entscheiden. Wurde mir nicht ermöglicht. Wurde immer fremdbestimmt! Einige leben noch, die wissen, wie es dazu kam, nur wenige wissen, dass es SO nicht kommen musste. Viele, gute Menschen sind verloren gegangen. Viele für alle Zeit verflucht. Wessen Herz brennt vor Scham? Wessen Mund schweigt deswegen beklommen? Wer weiß denn noch, was es heißt den Weg zu gehen, den schweren – am Wegesrand die vielen Toten, die Trümmer zu durchwühlen nach Überlebenden; hohlwangigen Kindern das Grauen aus den Augen abzulesen, das sie gesehen? Wer kennt das schon, außer von den alten Bildern?

Wer jemals jene Zeit vergisst, wird selbst vergessen sein!

Nicht das Dunkel macht viel ungeschehen. Im Dunkeln sucht man!

Den Zenit meines Lebens längst überschritten mache ich mich noch einmal auf den Weg, das Dunkel meiner Vergangenheit aufzuhellen.

Ich bin immer noch auf der Suche nach meiner Kindheit. Hab’ nie damit aufgehört! Neugierig? Will jemand erfahren was mich dieser Gesellschaft so frustriert entgegentreten lässt?

Ich fühle mich schon längst nicht mehr, wenn überhaupt jemals, dazugehörig, weil……….. [3]

PDF-Fassung 01 erstes kapitel

 §§§

Nächstes Kapitel: In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!

Was gab’s bisher?

Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf

§§§

Fußnoten

[1] Hier zitiert Schulz Johannes R. Becher.

»Mein Leben kann euch als ein Beispiel dienen,

Und darum ist mein Leben lesenswert.

Euch ist in mir ein solcher Mensch erschienen,

Der maßlos hat vor Zeiten aufbegehrt.

Und Höllen waren, und er fand in ihnen

Einlaß und ist in allen eingekehrt,

Und hat vernichtet und sich selbst verheert

Und riß sein Leben nieder zu Ruinen.

Ein Schlachtfeld lag ihm mitten in der Brust.

Danieder lag er. Welche Niederlagen!

Zerschlagen hörte er die Leute sagen:

„Den Hoffnungslosen laßt verlorengehn!“

Und aus Verlorensein und aus Verlust

Ergab sich Wandlung und ein Auferstehn.«

nach http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41123815.html

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%A4hrungsreform_1948_(Westdeutschland)

[3] Meine ursprüngliche Notiz zu diesem Kapitel: „Dieser Teil sollte radikal gekürzt werden zu einer Art reflektierendem Vorspiel für das Buch. Maximal drei Seiten.“ Ich hab’s aber gelassen.

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« …

moabit k1… sagte der Gefängniswärter. Dieter Schulz tippt auf einer alten Justizschreib­maschine einen Teil seiner Biographie. 112 Seiten auf dünnem Durchschlagpapier, mit hüpfenden Buchstaben von Rand zu Rand eng beschrieben. Die Recht­schrei­bung ist abenteuerlich wie sein Leben. Schule kam nur am Rande vor. Wie denn auch? 1941 in Königsberg geboren, erst 1949 von dort in der DDR gelandet macht der 10jährige dank seiner Russischkenntnisse Schwarzmarkt­geschäfte mit den russischen Soldaten und beginnt eine spektakuläre Heimkarriere durch 9 Heime, 28mal ausgerissen. Er schreibt vom Kreislauf »Heim/versaut-werden/weglaufen­/Lage verschlimmern«. Endstation: Knast.

Wie hat er unter diesen Umständen so gekonnt schreiben gelernt? Auch ein span­nendes Leben erzählt sich nicht von selbst. Er ist ein Erzähltalent und breitet vor dem Leser kunstvoll ver­wickelt mit Rückblenden und Vorgriffen seinen Lebensweg aus, den er im Anschluß an die 112 Seiten später, im „Ruhestand“ fortschreibt: Kriegsende und Rote Armee, Vergewaltigun­gen, Kohlenklau, Hamsterfahrten, als 13jähriger eine ménage à trois mit einem Polizisten­pärchen, Fluchtversuch in den Westen samt Beschuß durch den Bundes­grenzschutz, Ausbil­dung zum Fallschirmspringer, als Stewart auf den Weltmeeren, und dann die kriminelle Karri­ere: sorgfältig geplanter Automatenbetrug und die „Dienstreisen“ nach England, Gewaltde­likte, Drogenhandel, Falschgelddruck und Bankraub. Dazu sein ewiges Pech mit den Frauen und das Bestreben, seine Kinder nicht einem Heim zu überlassen. Und die Sehnsucht nach der fernen angebeteten und nie erreichten Monika. All das ist mehr, als eigentlich in ein Leben paßt. Doch keine Larmoyance. Er hat früh gelernt, Kräfteverhältnisse und Bedingungen hinzunehmen, auch wenn sie ihm nicht passen.

Wir hängten uns große Beutel um und gingen Ähren lesen. Jedes Feld wurde streng bewacht. Einmal, ich war mit meiner Mutter alleine zur Ernte gegangen, tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, drei Soldaten auf. Wegrennen war nicht mehr drin. Diese Soldaten behaupteten ganz dreist, dass sie gesehen hätten, wie wir die Ähren von einem noch nicht abgeernteten Feld abgerissen hätten. Auf solch frevelhaftes Tun, Schädigung der Sowjetmacht, stand Bunker. Jeder wusste das. Auch meine Mutter. Die Soldaten ließen aber mit sich reden, wie sie sagten. Meine Mutter durfte sich sogar auf einen ausgebreiteten Militärmantel legen. Mit mir unterhielt sich ganz freundlich einer der Soldaten und versuchte mich abzulenken und aufzuheitern. Ich fand es aber gar nicht belustigend, als ich dann auch noch den Mantel später mit dem Schlüpfer meiner Mutter reinigen musste.

So lakonisch sind seine Beschreibungen nicht immer. Doch die Haltung ist typisch: Wer klein, also machtlos ist, muß die Dinge eben hinnehmen, wie sie sind. Doch wenn klein sich wehren kann, tut er es mit seinen Mitteln und besorgt sich ein optimales Alibi, während andere von ihm angestiftet das Kinderheim abfackeln. Dennoch wurde er als Rädelsführer erkannt und kam in ein Heim für ganz schwere Jungs.

Aus kriminologischer Sicht stellt sich die Frage, ob diese Lebensgeschichte von Beginn an so angelegt war, daß sie mit vorhersehbar hoher Wahrscheinlichkeit in erhebliche Kriminalität münden und hinter Gitter führen würde. In der traditionellen kriminalistisch-kriminologischen Theorie, Praxis und Kriminalpolitik war die Meinung verbreitet, der „typische Kriminelle“ sei jemand mit entsprechenden Anlagen, die ihn für eine solche Karriere unausweichlich bestim­men. Auch die Gegenansicht, der „Kriminelle“ gedeihe nur bei einem entsprechenden krimi­no­genen Nährboden, war letzten Endes deterministisch ausgerichtet. Aus vielfältigen quali­tativen Analysen von Lebensgeschichten und ihren Windungen sowie aus quantitativen Ver­laufsforschungen wissen wir heute, daß stets aleatorische Momente auftauchen, die das Leben in die eine oder andere Richtung lenken. Damit sind immer wieder Chancen und Versuchun­gen verbunden, deren Verwirklichung wiederum von den Lebensumständen beeinflußt wird.

Am Anfang der „Geschichten“ sind vielleicht die unmittelbaren Konsequenzen bestimmter Entscheidungen, nicht aber die langfristigen Folgen ohne weiteres erkennbar. Dies gilt dem Grunde nach für alle Lebensläufe gleichermaßen, für unauffällige, für besonders vorbildliche und für negativ abweichende. Bei jungen Menschen, die – in der Sprache der jüngeren Krimi­nologie – sich früh in Richtung Delinquenz und dann in die Kriminalität entwickeln, wäre es falsch, von einer früh festgelegten kriminellen Energie auszugehen. Vielmehr zeigt sich oft eine Lebens- oder bei schwierigsten Umständen auch buchstäbliche Überlebensenergie, die sich bei Bedarf auch „übergesetzlich“ manifestiert. Das, was im häufigen Kontakt mit ver­gleichbaren Notwendigkeiten in entsprechenden Lernumfeldern am Ende als kriminelle Karriere dasteht, ist eine dynamische, also keineswegs deterministische, aber doch quasi „naturwüchsige“ Entwicklung zu einem Leben als „gelernter Verbrecher“.

In solchen Biographien verläuft die Entwicklung von kindlichen Auffälligkeiten über jugend­typische Kriminalität und schließlich „Knast-Lehre“ zu immer professioneller werdenden gesetzwidrigen Methoden.

Dieter Schulz brauchte keine Lehrmeister. Er ist durch und durch Autodidakt, geschult an seinen speziellen Lebensverhältnissen. Über weite Strecken hin war er ein Straßenkind, das erfolgreich auf der Straße gelebt und dabei auch gelernt hat: Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.[1] Was hätte aus dem so pfiffigen und willensstarken Dieter Schulz unter glücklicheren Umständen werden können?! Wahrscheinlich wäre Schulz ein braver Arbeitnehmer und Familienvater geworden. Größere Chancen hat sein Jahrgang seinerzeit kaum bekommen, es sei denn, das Elternhaus gab die Grundlage. Und eins ist gewiß: Ein normal-bürgerlicher Dieter Schulz hätte uns wenig zu erzählen gehabt. Ich glaube, er weiß das und sieht deshalb nicht mit Groll auf sein Leben zurück. Er belästigt weder sich noch den Leser mit Larmoyance.

»Bitte denken Sie immer daran, dass ich kein Schriftsteller im klassischen Sinne bin. Dafür reichen meine sechs Volksschuljahre bei weitem nicht aus. Zum Dichter nicht geboren, nicht ausgebildet. Das mögen Sie bestimmt an meiner eigenwilligen Schreibweise schon längst erkannt haben. Ich habe auch nicht vor, mit diesem Manuskript ein großes Werk zu präsen­tieren. Mit meinen begrenzten Mitteln will ich Ihnen lediglich das nackte, wahre Leben schil­dern, in das ich in einer Zeit hineingeboren wurde, die ich keiner zukünftigen Generation noch einmal zu erleben wünsche«.

In diese Grundeinstellung fügt sich, daß er an keiner Stelle seine im Erwachsenenleben hefti­ger werdenden Straftaten schönt, sondern seine kriminellen Unternehmungen mit nüchternem bis gelegentlich sarkastischen Blick schildert: So sein groß angelegter Münzbetrug oder ein umfang­reiches Drogengeschäft, das er mit selbst gedruckten Blüten finanzieren wollte, und ein Bankraub. Das Mißlingen dieser und anderer Geschäfte schreibt er zwar nicht den Umstän­den, wohl aber regelmäßig seinen Kumpanen zu.

Dem Leser tritt ein prall gefülltes, keineswegs nur kriminelles Leben vor Augen, für das Schulz sich zurecht viele Leser wünscht, damit ihnen ein solches erspart bleibt.

Von außen betrachtet haben wir es mit einem Schicksal zu tun, das uns ausgehend von der Kriegs- und Nachkriegssituation in Ostpreußen über die Verhältnisse in der DDR in die bundesrepublikanische Gegenwart führt. Seine Biographie ist damit zugleich ein höchst anregendes und unterhaltendes Stück Zeitgeschichte mit Wiedererkennungseffekten. Die allerdings aus ungewohnter Perspektive.

 

§ § § § § § § § § § § § § § §

 

Als ich Dieter Schulz kennenlernte, war er ein unauffälliger Mann unterdurchschnittlicher Körpergröße. Inzwischen ging er, nach mehreren Schlaganfällen zunächst am Rollator und hatte Mühe, seinen PC zu bedienen, nunmehr ist er auf einen Rollstuhl angewiesen und kommt ohne Hilfe nicht mehr aus dem Haus. All das ist unauffällig für sein Alter.

Das Leben des Dieter Schulz ist filmreif. Ich gab seine auf der Knast-Schreib­maschine getippte Biographie einem bundesweit renommierten Kriminologen. „Publikationsf­ähig?“, fragte ich bei der Rückgabe. „Publikationsbedürftig!“, war seine Antwort. Sein Institut transskribierte den Text zu einer authentischen digitalen Version, also bearbeitbar. Wir formulierten den oben abgedruckten „Trailer“ und suchten nach Verlegern und potentiellen Drehbuchautoren. Bis heute: Fehlanzeige.

Nun also die „moderne“ Publikationsform im Blog. Ein Pseudonym will er nicht, will auch den Originaltitel behalten:

Der Ausreis(ß)ende oder: Eine Kindheit, die keine Kindheit war

Er mailte mir: nein, ich möchte auf keinen fall, dass irgend etwas verfälscht wird. ich möchte keine namensänderung, und auch keine andere überschrift. in diesem sinne hoffe das sie das recht daraus machen.

ich verbleibe mit freundlichen grüßen ihr dieter schulz

 

Nun denn: Ich werde nach Kapiteln geordnet den Lesern meines Blogs diese Biographie vorlegen, die mehr ist als eine bloße Kriegs- und Heimkind-Biographie. Geplant ist eine Folge pro Monat. Diese „Fortsetzungsgeschichte“ ist erkennbar am einleitenden Logo, das auf einem Photo von mir und meiner Bearbeitung beruht https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/9648956075/ .

Überschriften, Zwischenüberschriften und vielleicht auch Fußnoten stammen von mir. Ansonsten werde ich den Text ohne Verfremdungen, leicht angepaßt, wiedergeben. Die Kopie der Biographie samt Ergänzungen durch Dieter Schulz liegt bei mir und kann bei Interesse eingesehen werden.

Damit bin ich mitten in der editorischen Vorbemerkung. Die Quellenlage ist verwickelt, hier aber nur von philologisch-wissenschaftlichem Interesse.[2] Ich gebe den Eigenbericht von Dieter Schulz originalgetreu wieder, wobei ich mich um leichtere Lesbar­keit bemüht habe. Sinnverändernde oder interpretative Eingriffe habe ich vermieden.

Nun wünsche ich den Lesern und Leserinnen, dass sie aus dieser Biographie etwas für sich und ihr Weltverständnis mitnehmen können.

Dierk Schäfer

PDF-Fassung 00 editorische Vorbemerkung

 

Fußnoten

[1] Bertold Brecht

[2] Stand der Beschreibung der Quellenlage vom 1.4.2011. Seitdem hat sich die Lage nicht verändert, wenn man davon absieht, dass es zu einer Print-Publikation und auch zu einer filmischen Dokumentation nicht gekommen ist.

I Schriftliche Eigenberichte von Dieter Schulz

  1. Die „Urschrift“ ist die 111 Seiten umfassende Teilbiographie, geschrieben von Dieter Schulz während seiner ca. 10-jährigen Haft in Cottbus. Der Text wurde auf einer alten Justizschreibmaschine und auf dünnem Durch­schlagpapier weitgehend von Rand zu Rand geschrieben. Vorhanden ist noch die Fotokopie dieser Urschrift. Das Original hat Herr Schulz nach Erstellung einer Überarbeitung und Fortführung der Biographie, die er seiner Nichte diktierte, vernichtet.
  2. Diese zweite Version liegt als scanfähige Druckvorlage vor, digitalisiert im Kriminologischen Institut.
  3. Herr Schulz hatte vor Erstellung der zweiten Version bereits an der Fortführung seiner Biographie gearbeitet, weil er mit Aussicht auf ein Dokumentations-Filmprojekt dazu ermuntert wurde. Diese Zwischenschritte sind als eMails noch vorhanden. Ein Abgleich mit den Passagen aus Version zwei hat bisher nicht stattgefunden.

Zum Stand der Bearbeitung der Quellen 1 und 2:

Ein erster Abgleich hat ergeben, daß Herr Schulz bei seiner Überarbeitung von Quelle 1 stilistische Glättungen und Ergänzungen vorgenommen hat, einige davon regelrechte up-dates, die dem Leser helfen sollen, die dama­ligen Verhältnisse zu verstehen. Er verändert damit aber auch den zeitlichen Blickwinkel. Ist Quelle 1 ein Rück­blick aus dem Jahr 1990/91, so dürfte Quelle 2 etwa ab 2007 entstanden sein. Dieser neue Blickwinkel wird auch in den ersten Teil der Biographie hineingetragen. Mit einem Lektor wäre zu besprechen, wie man damit umgehen sollte. Jedenfalls ist die Urschrift (Quelle 1) ist etwas holpriger und damit auch authentischer.

Beide Quellen beginnen mit einer Art Vorwort oder Einleitung, die Einblick in die „Philosophie“ dessen gibt, der sich als Opfer der Gesellschaft und der Verhältnisse im Knast wiederfindet. Erst auf Seite sieben (in der Zählung von Quelle 1) beginnt die eigentliche Biographie.

Mein (Dierk Schäfer) Vorgehen bei der bisherigen Texterstellung (Abgleich der beiden ersten Quellen): Da ich Quelle 1 für authentischer halte, habe ich in einem ersten Schritt, und soweit ich bisher gekommen bin, den „Urzustand“ weitgehend wiederhergestellt und die Rechtschreibung weitgehend korrigiert. In einem zweiten Schritt habe ich einige „Kapitel“ herausgegriffen, ihnen eine Überschrift gegeben und den Text ganz leicht gestrafft. Dies ist problemlos rückgängig zu machen. Allerdings kann ich mir vorstellen, daß man noch mehr straffen sollte.

II Dieter Schulz übersandte auch noch Zeitungsausschnitte, Gerichtsakten und andere Belegstücke. Hier wäre zu überlegen, ob und wie man diese in das Buch einbezieht. Denkbar wäre die Auswertung dieser Belegstücke inform einer kriminologischen Fallbeurteilung.

III Ein Gespräch mit Dieter Schulz, das bei dem Dokumentarfilmer Dr. Robert Krieg in Köln stattgefunden hat. Anwesend zusätzlich dessen Ehefrau, Monika Nolte und Dierk Schäfer. Schulz berichtete hier auch von seinem weiteren Lebenslauf nach der 10jährigen Haftstrafe. Ergebnis dieses Gesprächs waren seine schriftliche Fortschreibung des Lebenslaufs (s. o. Punkt 3), die Erstellung einer Kurzfassung der Lebensgeschichte durch Dr. Krieg und eine filmische Kurz-Dokumentation einer Fahrt von Dr. Krieg mit Dieter Schulz an Orte aus der Biographie von Dieter Schulz. Eine filmische Dokumentation ist bisher nicht erfolgt.

 

»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« …

Posted in Biographie, BRD, DDR, Geschichte, heimkinder, Kinderheime, Kriminalität, Kriminologie, Psychologie, Täter by dierkschaefer on 24. März 2015

… sagte der Gefängniswärter. Kurt Krause tippt auf einer alten Justizschreibmaschine einen Teil seiner Biographie. 112 Seiten auf dünnem Durchschlagpapier, mit hüpfenden Buchstaben von Rand zu Rand eng beschrieben. Die Rechtschreibung ist abenteuerlich wie sein Leben. Schule kam nur am Rande vor. Wie denn auch? 1941 in Königsberg geboren, erst 1949 von dort in der DDR gelandet macht der 10jährige dank seiner Russischkenntnisse Schwarzmarktgeschäfte mit den russischen Soldaten und beginnt eine spektakuläre Heimkarriere durch 9 Heime, 28mal ausgerissen. Er schreibt vom Kreislauf »Heim/versaut-werden/weglaufen/Lage verschlimmern«. Endstation: Knast.

Wie hat er unter diesen Umständen so gekonnt schreiben gelernt? Auch ein spannendes Leben erzählt sich nicht von selbst. Er ist ein Erzähltalent und breitet vor dem Leser kunstvoll verwickelt mit Rückblenden und Vorgriffen seinen Lebensweg aus, den er im Anschluß an die 112 Seiten später, im „Ruhestand“ fortschreibt: Kriegsende und Rote Armee, Vergewaltigungen, Kohlenklau, Hamsterfahrten, als 13jähriger eine ménage à trois mit einem Polizistenpärchen, Fluchtversuch in den Westen samt Beschuß durch den Bundesgrenzschutz, Ausbildung zum Fallschirmspringer, als Stewart auf den Weltmeeren, und dann die kriminelle Karriere: sorgfältig geplanter Automatenbetrug und die „Dienstreisen“ nach England, Gewaltdelikte, Drogenhandel, Falschgelddruck und Bankraub. Dazu sein ewiges Pech mit den Frauen und das Bestreben, seine Kinder nicht einem Heim zu überlassen. Und die Sehnsucht nach der fernen angebeteten und nie erreichten Monika. All das ist mehr, als eigentlich in ein Leben paßt. Doch keine Larmoyance. Er hat früh gelernt, Kräfteverhältnisse und Bedingungen hinzunehmen, auch wenn sie ihm nicht passen.

Wir hängten uns große Beutel um und gingen Ähren lesen. Jedes Feld wurde streng bewacht. Einmal, ich war mit meiner Mutter alleine zur Ernte gegangen, tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, drei Soldaten auf. Wegrennen war nicht mehr drin. Diese Soldaten behaupteten ganz dreist, dass sie gesehen hätten, wie wir die Ähren von einem noch nicht abgeernteten Feld abgerissen hätten. Auf solch frevelhaftes Tun, Schädigung der Sowjetmacht, stand Bunker. Jeder wusste das. Auch meine Mutter. Die Soldaten ließen aber mit sich reden, wie sie sagten. Meine Mutter durfte sich sogar auf einen ausgebreiteten Militärmantel legen. Mit mir unterhielt sich ganz freundlich einer der Soldaten und versuchte mich abzulenken und aufzuheitern. Ich fand es aber gar nicht belustigend, als ich dann auch noch den Mantel später mit dem Schlüpfer meiner Mutter reinigen musste.

So lakonisch sind seine Beschreibungen nicht immer. Doch die Haltung ist typisch: Wer klein, also machtlos ist, muß die Dinge eben hinnehmen, wie sie sind. Doch wenn klein sich wehren kann, tut er es mit seinen Mitteln und besorgt sich ein optimales Alibi, während andere von ihm angestiftet das Kinderheim abfackeln. Dennoch wurde er als Rädelsführer erkannt und kam in ein Heim für ganz schwere Jungs.

Aus kriminologischer Sicht stellt sich die Frage, ob diese Lebensgeschichte von Beginn an so angelegt war, daß sie mit vorhersehbar hoher Wahrscheinlichkeit in erhebliche Kriminalität münden und hinter Gitter führen würde. In der traditionellen kriminalistisch-kriminologischen Theorie, Praxis und Kriminalpolitik war die Meinung verbreitet, der „typische Kriminelle“ sei jemand mit entsprechenden Anlagen, die ihn für eine solche Karriere unausweichlich bestimmen. Auch die Gegenansicht, der „Kriminelle“ gedeihe nur bei einem entsprechenden kriminogenen Nährboden, war letzten Endes deterministisch ausgerichtet. Aus vielfältigen qualitativen Analysen von Lebensgeschichten und ihren Windungen sowie aus quantitativen Verlaufsforschungen wissen wir heute, daß stets aleatorische Momente auftauchen, die das Leben in die eine oder andere Richtung lenken. Damit sind immer wieder Chancen und Versuchungen verbunden, deren Verwirklichung wiederum von den Lebensumständen beeinflußt wird.

Am Anfang der „Geschichten“ sind vielleicht die unmittelbaren Konsequenzen bestimmter Entscheidungen, nicht aber die langfristigen Folgen ohne weiteres erkennbar. Dies gilt dem Grunde nach für alle Lebensläufe gleichermaßen, für unauffällige, für besonders vorbildliche und für negativ abweichende. Bei jungen Menschen, die – in der Sprache der jüngeren Kriminologie – sich früh in Richtung Delinquenz und dann in die Kriminalität entwickeln, wäre es falsch, von einer früh festgelegten kriminellen Energie auszugehen. Vielmehr zeigt sich oft eine Lebens- oder bei schwierigsten Umständen auch buchstäbliche Überlebensenergie, die sich bei Bedarf auch „übergesetzlich“ manifestiert. Das, was im häufigen Kontakt mit vergleichbaren Notwendigkeiten in entsprechenden Lernumfeldern am Ende als kriminelle Karriere dasteht, ist eine dynamische, also keineswegs deterministische, aber doch quasi „naturwüchsige“ Entwicklung zu einem Leben als „gelernter Verbrecher“.

In solchen Biographien verläuft die Entwicklung von kindlichen Auffälligkeiten über jugendtypische Kriminalität und schließlich „Knast-Lehre“ zu immer professioneller werdenden gesetzwidrigen Methoden.

Kurt Krause brauchte keine Lehrmeister. Er ist durch und durch Autodidakt, geschult an seinen speziellen Lebensverhältnissen. Über weite Strecken hin war er ein Straßenkind, das erfolgreich auf der Straße gelebt und dabei auch gelernt hat: Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so. [Bertold Brecht] Was hätte aus dem so pfiffigen und willensstarken Kurt Krause unter glücklicheren Umständen werden können?! Wahrscheinlich wäre Krause ein braver Arbeitnehmer und Familienvater geworden. Größere Chancen hat sein Jahrgang seinerzeit kaum bekommen, es sei denn, das Elternhaus gab die Grundlage. Und eins ist gewiß: Ein normal-bürgerlicher Kurt Krause hätte uns wenig zu erzählen gehabt. Ich glaube, er weiß das und sieht deshalb nicht mit Groll auf sein Leben zurück. Er belästigt weder sich noch den Leser mit Larmoyance.

»Bitte denken Sie immer daran, dass ich kein Schriftsteller im klassischen Sinne bin. Dafür reichen meine sechs Volksschuljahre bei weitem nicht aus. Zum Dichter nicht geboren, nicht ausgebildet. Das mögen Sie bestimmt an meiner eigenwilligen Schreibweise schon längst erkannt haben. Ich habe auch nicht vor, mit diesem Manuskript ein großes Werk zu präsentieren. Mit meinen begrenzten Mitteln will ich Ihnen lediglich das nackte, wahre Leben schildern, in das ich in einer Zeit hineingeboren wurde, die ich keiner zukünftigen Generation noch einmal zu erleben wünsche«.

In diese Grundeinstellung fügt sich, daß er an keiner Stelle seine im Erwachsenenleben heftiger werdenden Straftaten schönt, sondern seine kriminellen Unternehmungen mit nüchternem bis gelegentlich sarkastischen Blick schildert: So sein groß angelegter Münzbetrug, ein umfangreiches Drogengeschäft, das er mit selbst gedruckten Blüten finanzieren wollte, und ein Bankraub. Das Mißlingen dieser und anderer Geschäfte schreibt er zwar nicht den Umständen, wohl aber regelmäßig seinen Kumpanen zu.

Dem Leser tritt ein prall gefülltes, keineswegs nur kriminelles Leben vor Augen, für das Krause sich zurecht viele Leser wünscht, damit ihnen ein solches erspart bleibt.

Von außen betrachtet haben wir es mit einem Schicksal zu tun, das uns ausgehend von der Kriegs- und Nachkriegssituation in Ostpreußen über die Verhältnisse in der DDR in die bundesrepublikanische Gegenwart führt. Seine Biographie ist damit zugleich ein höchst anregendes und unterhaltendes Stück Zeitgeschichte mit Wiedererkennungseffekten. Die allerdings aus ungewohnter Perspektive.

  • § § § § § § § § § § § § § § §

eine … Überlebensenergie, die sich bei Bedarf auch „übergesetzlich“ manifestiert

Der Name Kurt Krause ist fiktiv. Als ich Kurt Krause kennenlernte, war er ein unauffälliger Mann unterdurchschnittlicher Körpergröße. Inzwischen geht er, nach mehreren Schlaganfällen am Rollator und hat Mühe, seinen PC zu bedienen. Auch das ist unauffällig für sein Alter.

Das Leben des unauffälligen Kurt Krause ist filmreif. Ich gab seine auf der Knast-Schreibmaschine getippte Biographie einem bundesweit renommierten Kriminologen. „Publikationsfähig?“, fragte ich bei der Rückgabe. „Publikationsbedürftig!“, war seine Antwort. Sein Institut transskribierte den Text zu einer authentischen digitalen Version, also bearbeitbar. Wir formulierten den oben abgedruckten „Trailer“ und suchten nach Verlegern und potentiellen Drehbuchautoren. Bis heute: Fehlanzeige.

Die Biographie samt Ergänzungen durch Kurt Krause liegt bei mir – unerledigt.