»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« …
… sagte der Gefängniswärter. Dieter Schulz tippt auf einer alten Justizschreibmaschine einen Teil seiner Biographie. 112 Seiten auf dünnem Durchschlagpapier, mit hüpfenden Buchstaben von Rand zu Rand eng beschrieben. Die Rechtschreibung ist abenteuerlich wie sein Leben. Schule kam nur am Rande vor. Wie denn auch? 1941 in Königsberg geboren, erst 1949 von dort in der DDR gelandet macht der 10jährige dank seiner Russischkenntnisse Schwarzmarktgeschäfte mit den russischen Soldaten und beginnt eine spektakuläre Heimkarriere durch 9 Heime, 28mal ausgerissen. Er schreibt vom Kreislauf »Heim/versaut-werden/weglaufen/Lage verschlimmern«. Endstation: Knast.
Wie hat er unter diesen Umständen so gekonnt schreiben gelernt? Auch ein spannendes Leben erzählt sich nicht von selbst. Er ist ein Erzähltalent und breitet vor dem Leser kunstvoll verwickelt mit Rückblenden und Vorgriffen seinen Lebensweg aus, den er im Anschluß an die 112 Seiten später, im „Ruhestand“ fortschreibt: Kriegsende und Rote Armee, Vergewaltigungen, Kohlenklau, Hamsterfahrten, als 13jähriger eine ménage à trois mit einem Polizistenpärchen, Fluchtversuch in den Westen samt Beschuß durch den Bundesgrenzschutz, Ausbildung zum Fallschirmspringer, als Stewart auf den Weltmeeren, und dann die kriminelle Karriere: sorgfältig geplanter Automatenbetrug und die „Dienstreisen“ nach England, Gewaltdelikte, Drogenhandel, Falschgelddruck und Bankraub. Dazu sein ewiges Pech mit den Frauen und das Bestreben, seine Kinder nicht einem Heim zu überlassen. Und die Sehnsucht nach der fernen angebeteten und nie erreichten Monika. All das ist mehr, als eigentlich in ein Leben paßt. Doch keine Larmoyance. Er hat früh gelernt, Kräfteverhältnisse und Bedingungen hinzunehmen, auch wenn sie ihm nicht passen.
Wir hängten uns große Beutel um und gingen Ähren lesen. Jedes Feld wurde streng bewacht. Einmal, ich war mit meiner Mutter alleine zur Ernte gegangen, tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, drei Soldaten auf. Wegrennen war nicht mehr drin. Diese Soldaten behaupteten ganz dreist, dass sie gesehen hätten, wie wir die Ähren von einem noch nicht abgeernteten Feld abgerissen hätten. Auf solch frevelhaftes Tun, Schädigung der Sowjetmacht, stand Bunker. Jeder wusste das. Auch meine Mutter. Die Soldaten ließen aber mit sich reden, wie sie sagten. Meine Mutter durfte sich sogar auf einen ausgebreiteten Militärmantel legen. Mit mir unterhielt sich ganz freundlich einer der Soldaten und versuchte mich abzulenken und aufzuheitern. Ich fand es aber gar nicht belustigend, als ich dann auch noch den Mantel später mit dem Schlüpfer meiner Mutter reinigen musste.
So lakonisch sind seine Beschreibungen nicht immer. Doch die Haltung ist typisch: Wer klein, also machtlos ist, muß die Dinge eben hinnehmen, wie sie sind. Doch wenn klein sich wehren kann, tut er es mit seinen Mitteln und besorgt sich ein optimales Alibi, während andere von ihm angestiftet das Kinderheim abfackeln. Dennoch wurde er als Rädelsführer erkannt und kam in ein Heim für ganz schwere Jungs.
Aus kriminologischer Sicht stellt sich die Frage, ob diese Lebensgeschichte von Beginn an so angelegt war, daß sie mit vorhersehbar hoher Wahrscheinlichkeit in erhebliche Kriminalität münden und hinter Gitter führen würde. In der traditionellen kriminalistisch-kriminologischen Theorie, Praxis und Kriminalpolitik war die Meinung verbreitet, der „typische Kriminelle“ sei jemand mit entsprechenden Anlagen, die ihn für eine solche Karriere unausweichlich bestimmen. Auch die Gegenansicht, der „Kriminelle“ gedeihe nur bei einem entsprechenden kriminogenen Nährboden, war letzten Endes deterministisch ausgerichtet. Aus vielfältigen qualitativen Analysen von Lebensgeschichten und ihren Windungen sowie aus quantitativen Verlaufsforschungen wissen wir heute, daß stets aleatorische Momente auftauchen, die das Leben in die eine oder andere Richtung lenken. Damit sind immer wieder Chancen und Versuchungen verbunden, deren Verwirklichung wiederum von den Lebensumständen beeinflußt wird.
Am Anfang der „Geschichten“ sind vielleicht die unmittelbaren Konsequenzen bestimmter Entscheidungen, nicht aber die langfristigen Folgen ohne weiteres erkennbar. Dies gilt dem Grunde nach für alle Lebensläufe gleichermaßen, für unauffällige, für besonders vorbildliche und für negativ abweichende. Bei jungen Menschen, die – in der Sprache der jüngeren Kriminologie – sich früh in Richtung Delinquenz und dann in die Kriminalität entwickeln, wäre es falsch, von einer früh festgelegten kriminellen Energie auszugehen. Vielmehr zeigt sich oft eine Lebens- oder bei schwierigsten Umständen auch buchstäbliche Überlebensenergie, die sich bei Bedarf auch „übergesetzlich“ manifestiert. Das, was im häufigen Kontakt mit vergleichbaren Notwendigkeiten in entsprechenden Lernumfeldern am Ende als kriminelle Karriere dasteht, ist eine dynamische, also keineswegs deterministische, aber doch quasi „naturwüchsige“ Entwicklung zu einem Leben als „gelernter Verbrecher“.
In solchen Biographien verläuft die Entwicklung von kindlichen Auffälligkeiten über jugendtypische Kriminalität und schließlich „Knast-Lehre“ zu immer professioneller werdenden gesetzwidrigen Methoden.
Dieter Schulz brauchte keine Lehrmeister. Er ist durch und durch Autodidakt, geschult an seinen speziellen Lebensverhältnissen. Über weite Strecken hin war er ein Straßenkind, das erfolgreich auf der Straße gelebt und dabei auch gelernt hat: Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.[1] Was hätte aus dem so pfiffigen und willensstarken Dieter Schulz unter glücklicheren Umständen werden können?! Wahrscheinlich wäre Schulz ein braver Arbeitnehmer und Familienvater geworden. Größere Chancen hat sein Jahrgang seinerzeit kaum bekommen, es sei denn, das Elternhaus gab die Grundlage. Und eins ist gewiß: Ein normal-bürgerlicher Dieter Schulz hätte uns wenig zu erzählen gehabt. Ich glaube, er weiß das und sieht deshalb nicht mit Groll auf sein Leben zurück. Er belästigt weder sich noch den Leser mit Larmoyance.
»Bitte denken Sie immer daran, dass ich kein Schriftsteller im klassischen Sinne bin. Dafür reichen meine sechs Volksschuljahre bei weitem nicht aus. Zum Dichter nicht geboren, nicht ausgebildet. Das mögen Sie bestimmt an meiner eigenwilligen Schreibweise schon längst erkannt haben. Ich habe auch nicht vor, mit diesem Manuskript ein großes Werk zu präsentieren. Mit meinen begrenzten Mitteln will ich Ihnen lediglich das nackte, wahre Leben schildern, in das ich in einer Zeit hineingeboren wurde, die ich keiner zukünftigen Generation noch einmal zu erleben wünsche«.
In diese Grundeinstellung fügt sich, daß er an keiner Stelle seine im Erwachsenenleben heftiger werdenden Straftaten schönt, sondern seine kriminellen Unternehmungen mit nüchternem bis gelegentlich sarkastischen Blick schildert: So sein groß angelegter Münzbetrug oder ein umfangreiches Drogengeschäft, das er mit selbst gedruckten Blüten finanzieren wollte, und ein Bankraub. Das Mißlingen dieser und anderer Geschäfte schreibt er zwar nicht den Umständen, wohl aber regelmäßig seinen Kumpanen zu.
Dem Leser tritt ein prall gefülltes, keineswegs nur kriminelles Leben vor Augen, für das Schulz sich zurecht viele Leser wünscht, damit ihnen ein solches erspart bleibt.
Von außen betrachtet haben wir es mit einem Schicksal zu tun, das uns ausgehend von der Kriegs- und Nachkriegssituation in Ostpreußen über die Verhältnisse in der DDR in die bundesrepublikanische Gegenwart führt. Seine Biographie ist damit zugleich ein höchst anregendes und unterhaltendes Stück Zeitgeschichte mit Wiedererkennungseffekten. Die allerdings aus ungewohnter Perspektive.
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Als ich Dieter Schulz kennenlernte, war er ein unauffälliger Mann unterdurchschnittlicher Körpergröße. Inzwischen ging er, nach mehreren Schlaganfällen zunächst am Rollator und hatte Mühe, seinen PC zu bedienen, nunmehr ist er auf einen Rollstuhl angewiesen und kommt ohne Hilfe nicht mehr aus dem Haus. All das ist unauffällig für sein Alter.
Das Leben des Dieter Schulz ist filmreif. Ich gab seine auf der Knast-Schreibmaschine getippte Biographie einem bundesweit renommierten Kriminologen. „Publikationsfähig?“, fragte ich bei der Rückgabe. „Publikationsbedürftig!“, war seine Antwort. Sein Institut transskribierte den Text zu einer authentischen digitalen Version, also bearbeitbar. Wir formulierten den oben abgedruckten „Trailer“ und suchten nach Verlegern und potentiellen Drehbuchautoren. Bis heute: Fehlanzeige.
Nun also die „moderne“ Publikationsform im Blog. Ein Pseudonym will er nicht, will auch den Originaltitel behalten:
Der Ausreis(ß)ende oder: Eine Kindheit, die keine Kindheit war
Er mailte mir: nein, ich möchte auf keinen fall, dass irgend etwas verfälscht wird. ich möchte keine namensänderung, und auch keine andere überschrift. in diesem sinne hoffe das sie das recht daraus machen.
ich verbleibe mit freundlichen grüßen ihr dieter schulz
Nun denn: Ich werde nach Kapiteln geordnet den Lesern meines Blogs diese Biographie vorlegen, die mehr ist als eine bloße Kriegs- und Heimkind-Biographie. Geplant ist eine Folge pro Monat. Diese „Fortsetzungsgeschichte“ ist erkennbar am einleitenden Logo, das auf einem Photo von mir und meiner Bearbeitung beruht https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/9648956075/ .
Überschriften, Zwischenüberschriften und vielleicht auch Fußnoten stammen von mir. Ansonsten werde ich den Text ohne Verfremdungen, leicht angepaßt, wiedergeben. Die Kopie der Biographie samt Ergänzungen durch Dieter Schulz liegt bei mir und kann bei Interesse eingesehen werden.
Damit bin ich mitten in der editorischen Vorbemerkung. Die Quellenlage ist verwickelt, hier aber nur von philologisch-wissenschaftlichem Interesse.[2] Ich gebe den Eigenbericht von Dieter Schulz originalgetreu wieder, wobei ich mich um leichtere Lesbarkeit bemüht habe. Sinnverändernde oder interpretative Eingriffe habe ich vermieden.
Nun wünsche ich den Lesern und Leserinnen, dass sie aus dieser Biographie etwas für sich und ihr Weltverständnis mitnehmen können.
Dierk Schäfer
PDF-Fassung 00 editorische Vorbemerkung
Fußnoten
[1] Bertold Brecht
[2] Stand der Beschreibung der Quellenlage vom 1.4.2011. Seitdem hat sich die Lage nicht verändert, wenn man davon absieht, dass es zu einer Print-Publikation und auch zu einer filmischen Dokumentation nicht gekommen ist.
I Schriftliche Eigenberichte von Dieter Schulz
- Die „Urschrift“ ist die 111 Seiten umfassende Teilbiographie, geschrieben von Dieter Schulz während seiner ca. 10-jährigen Haft in Cottbus. Der Text wurde auf einer alten Justizschreibmaschine und auf dünnem Durchschlagpapier weitgehend von Rand zu Rand geschrieben. Vorhanden ist noch die Fotokopie dieser Urschrift. Das Original hat Herr Schulz nach Erstellung einer Überarbeitung und Fortführung der Biographie, die er seiner Nichte diktierte, vernichtet.
- Diese zweite Version liegt als scanfähige Druckvorlage vor, digitalisiert im Kriminologischen Institut.
- Herr Schulz hatte vor Erstellung der zweiten Version bereits an der Fortführung seiner Biographie gearbeitet, weil er mit Aussicht auf ein Dokumentations-Filmprojekt dazu ermuntert wurde. Diese Zwischenschritte sind als eMails noch vorhanden. Ein Abgleich mit den Passagen aus Version zwei hat bisher nicht stattgefunden.
Zum Stand der Bearbeitung der Quellen 1 und 2:
Ein erster Abgleich hat ergeben, daß Herr Schulz bei seiner Überarbeitung von Quelle 1 stilistische Glättungen und Ergänzungen vorgenommen hat, einige davon regelrechte up-dates, die dem Leser helfen sollen, die damaligen Verhältnisse zu verstehen. Er verändert damit aber auch den zeitlichen Blickwinkel. Ist Quelle 1 ein Rückblick aus dem Jahr 1990/91, so dürfte Quelle 2 etwa ab 2007 entstanden sein. Dieser neue Blickwinkel wird auch in den ersten Teil der Biographie hineingetragen. Mit einem Lektor wäre zu besprechen, wie man damit umgehen sollte. Jedenfalls ist die Urschrift (Quelle 1) ist etwas holpriger und damit auch authentischer.
Beide Quellen beginnen mit einer Art Vorwort oder Einleitung, die Einblick in die „Philosophie“ dessen gibt, der sich als Opfer der Gesellschaft und der Verhältnisse im Knast wiederfindet. Erst auf Seite sieben (in der Zählung von Quelle 1) beginnt die eigentliche Biographie.
Mein (Dierk Schäfer) Vorgehen bei der bisherigen Texterstellung (Abgleich der beiden ersten Quellen): Da ich Quelle 1 für authentischer halte, habe ich in einem ersten Schritt, und soweit ich bisher gekommen bin, den „Urzustand“ weitgehend wiederhergestellt und die Rechtschreibung weitgehend korrigiert. In einem zweiten Schritt habe ich einige „Kapitel“ herausgegriffen, ihnen eine Überschrift gegeben und den Text ganz leicht gestrafft. Dies ist problemlos rückgängig zu machen. Allerdings kann ich mir vorstellen, daß man noch mehr straffen sollte.
II Dieter Schulz übersandte auch noch Zeitungsausschnitte, Gerichtsakten und andere Belegstücke. Hier wäre zu überlegen, ob und wie man diese in das Buch einbezieht. Denkbar wäre die Auswertung dieser Belegstücke inform einer kriminologischen Fallbeurteilung.
III Ein Gespräch mit Dieter Schulz, das bei dem Dokumentarfilmer Dr. Robert Krieg in Köln stattgefunden hat. Anwesend zusätzlich dessen Ehefrau, Monika Nolte und Dierk Schäfer. Schulz berichtete hier auch von seinem weiteren Lebenslauf nach der 10jährigen Haftstrafe. Ergebnis dieses Gesprächs waren seine schriftliche Fortschreibung des Lebenslaufs (s. o. Punkt 3), die Erstellung einer Kurzfassung der Lebensgeschichte durch Dr. Krieg und eine filmische Kurz-Dokumentation einer Fahrt von Dr. Krieg mit Dieter Schulz an Orte aus der Biographie von Dieter Schulz. Eine filmische Dokumentation ist bisher nicht erfolgt.
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