Die Kirchen bluten aus, stellt DIE WELT fest.
Die Kirchen bluten aus, stellt DIE WELT fest.
So unrecht hat sie ja nicht und widmet mit besorgtem Unterton dem Phänomen gleich zwei Beiträge, die sich allerdings weitgehend überlappen[1].
Doch die Situation ist offenbar nicht dramatisch genug, um sich nicht zu zuzuschärfen. »Schon seit geraumer Zeit bluten die Kirchen aus. Gerade mal 30,3 Prozent der Deutschen sind noch römisch-katholisch. Von Volkskirche kann keine Rede mehr sein: Die Zahl der Konfessionslosen liegt bei 36,6 Prozent«. »1950 war die Hälfte der Bundesbürger evangelisch«.
Da sollte man doch denken, daß es einen Erdrutsch in der Mitgliedschaft gegeben hat. Das aber nun doch nicht. Die größte Veränderung in der Konfessionsstatistik gab es mit der Wiedervereinigung. Da schnellte die Zahl der Konfessionslosen auf rund ein Drittel hoch und das hatte nichts mit Austritten zu tun.
Ein weiterer Faktor sind der erhöhte Anteil von Personen mit andersreligiösem Bekenntnis und die zunehmende Überalterung unserer bisherigen Bevölkerung.
Das alles ist kein Grund, die Situation der Kirchen schönzureden. Doch erst eine nüchterne Betrachtung ermöglicht Überlegungen zu dem, was die beiden Artikel zurecht fragen:
»Wann nehmen die Kirchen die Warnschüsse ernst?«
Darauf kann ich nur antworten: Sie nehmen sie ernst und befragen ihre Mitglieder. Auch darüber haben die Medien berichtet, wohl auch DIE WELT. – Schon vergessen?
DIE WELT fragt weiter: »Wann endlich finden die Oberen die richtigen Worte?«
Da muß ich einmal ganz gegen meine Erfahrungen die Oberen in Schutz nehmen. Das Thema ist komplexer, als die Ratschläge der WELT.
»Wenn die großen Konfessionen nicht wollen, dass es endgültig den Bach mit ihnen runtergeht, dann müssen sie richtig nachfragen. Dann müssen sie aufhören, nur zu jammern, dass sie keiner will. Dann dürfen sie nicht mehr die Augen vor dem verschließen, was die Menschen wollen und brauchen.«
Hier werden zum einen die beiden Großkirchen in einem Topf verrührt. Doch sogar die katholische Kirche, nicht sonderlich basisfundiert, fragt und gerät damit in ein größeres Dilemma als die Evangelische mit ihrer Mitgliederbefragung[2]. Beide Kirchen sollten natürlich „nicht mehr [wieso nicht mehr?] die Augen vor dem verschließen, was die Menschen wollen und brauchen“. Aber prostituieren sollten sie sich wohl auch nicht.
Zuspruch von „Hunderttausenden“ finden die »Kirchentage, auf denen Themen wie Bildung, wirtschaftliche Verantwortung oder Sterbehilfe diskutiert werden«.
Der Event-Charakter von Kirchentagen wurde schon oft diskutiert und viele meiner Kollegen in den Gemeinden wären froh, wenn ihre gleichgearteten Angebote einen vergleichbaren Zuspruch finden würden. Kirchentage sind wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten zusammen. Da fällt der Sonntagsgottesdienst ab – und auch die normalen Angebote unter der Woche, von denen – wie kürzlich erhellend diskutiert – auch meine Kollegen selber nicht begeistert sind.
»Und wenn zu Ostern und Weihnachten die Tradition der Kantaten und Oratorien gepflegt wird, dann stehen auch Atheisten vor den Kirchen Schlange. Es gibt sie noch, die Kernkompetenzen der Kirchen«. Das stimmt auch nur punktuell. Aber es ist schön, die Kernkompoetenzen erklärt zu bekommen.
»Zulauf hatten immer schon kirchliche Ambitionen, wenn sie unmittelbar auf die Bedürfnisse der Menschen reagierten. Die Innere Mission des Hamburger Pfarrers Johann Hinrich Wichern, der sich zur Zeit der Industrialisierung den verwahrlosten Kindern in den Armenvierteln widmete, … « Ausgerechnet Wichern! Falsches Beispiel. Auch DIE WELT hat nicht mitbekommen, daß Wichern in erster Linie Seelen retten wollte, nicht Menschen. Hier wäre die Frage nach den Kernkompetenzen angebracht. Doch dazu fehlt der WELT die Kompetenz.
Die Kirchen sollen sich um das kümmern, was die Menschen bewegt. Die Botschaft hör ich wohl, allein …
Die Rolle der Kirchen in der späten DDR ist ein gutes Beispiel.
Reiner Kunze schrieb ein Gedicht mit dem Titel Pfarrhaus. Darin heißt es: „wer da bedrängt ist findet ein Dach und Mauern. Und muss nicht beten“ [3] Nicht nur die Bedrängten fanden in der Kirche Platz. Die Kirche bot Raum für Widerstand. Sie wurde endlich glaubwürdig und hatte auch keine Hintergedanken an Mitgliederwerbung. Da waren die Versicherungsvertreter, die nach der Wende die neuen Bundesländer überfielen, erfolgreicher. – Soviel zur Bedarfsorientierung.
Den Rest sieht man, wenn man ins Forum zum WELT-Artikel schaut. Die rhetorische Abschlußfrage wird dort mit einem „einfachen ja“ beantwortet: »Wollen wir wirklich ein Land, in dem irgendwann vielleicht gar keine Glocken mehr läuten? Skylines, in denen sich zwischen Bürogebäuden keine Kirchtürme mehr abzeichnen? Eine Allgemeinbildung, zu deren Kanon die biblischen Geschichten nicht mehr gehören? Das Ende der Kultur der Rituale wie Taufe oder Konfirmation?«
Die Deutungshohheit über den Internetstammtischen ist oft nicht sachlich fundiert, aber ein Indikator.
Übrigens: Ich hielte es für eine kulturelle Bereicherung, wenn Moscheen Minarette bekämen und von dort, wenn wohl auch nur über Lautsprecher, der Muezzin zm Gebet riefe.
[1] Zitate aus beiden Artikel: http://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article130882255/Die-Kirchen-bluten-aus.html http://www.welt.de/debatte/kommentare/article130872747/Die-Kirchen-in-Deutschland-bluten-aus.html
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/12/eine-zeitdiagnose-die-mitgliedschaftsumfrage-der-ekd/
[3] Das Internet half meiner Gedächtnisschwäche auf: http://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&search=Reiner%20kunze
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