Auf Kindesmissbrauch kann lebenslänglich stehen – für die Opfer
Ich bin ja ziemlich abgebrüht nach vielen Gesprächen mit vielen ehemaligen Heimkindern in den vergangenen Jahren. Was einige von ihnen erlebt haben, sprengt vielfach die Vorstellungskraft. Sie waren für mich oft auch der lebendige Beweis für die Langzeitfolgen der erlebten Heimerziehung. Untersuchungen im Bereich der Hirnphysiologie untermauern den Befund wissenschaftlich. Wie gesagt: Ich bin viel gewohnt.
Doch gestern erreichte mich ein Aufschrei, der mich zunächst einmal sprachlos machte. So etwas kannte ich nur aus Berichten über Kriegsheimkehrer, die nachts wild um sich schlagen und schreiend aufwachen.
Unsere Beschwichtigungsformeln, mit denen wir versuchen auf Distanz zu gehen, funktionieren in solchen Fällen nicht. Auch die Opfer können nicht auf Distanz gehen; zu voll sind sie mit der immer noch bedrängenden ängstigenden Vergangenheit, zu erfüllt sind sie mit Hass auf die Täter. Nein, sie wollen und können keinen ruhig-abschätzenden Blick auf ihre Erlebnisse und die dafür verantwortlichen Einrichtungen werfen, sie wollen und können auch nicht erkennen, dass diese Einrichtungen sich verändert haben. Es gibt ja auch eine nahtlose Fortsetzung nicht der Methoden, aber doch der Abwehr gegen die Ansprüche auf Ehrlichkeit in der Zerknirschung und Großzügigkeit in der Kompensation für erlittenes Leid.
Damit das eigentlich nicht Nachvollziehbare auch allen Lesern deutlich wird, habe ich diesen Aufschrei aus dem Kommentarbereich nach vorn geholt.
Es ging um eine Werbebroschüre der Diakonie.[1]
»Der Titel der Broschüre belegt die Dummheit der Diakonie. Sie wünscht sich die Erinnerung – und ist in ihrer Schafsblödheit nicht in der Lage zu erkennen, dass GENAU DIE ERINNERUNG die Opfer von Kirche und deren Tochtergesellschaften wie Diakonie fern hält!
In der Erinnerung von Kirchenopfer gibt es nur einen schenkenden Gott und der schenkte: Demütigung, Misshandlung, Zwangsarbeit und Prügel. Und ein Teil der Kinder wurde auch noch Missbrauchsopfer. Auf derlei „Geschenke“ hätten die Kinder nur zu gerne verzichtet.
Wer zu den Geknechteten und Vergewaltigten zählt pfeift auf Hoffnung, leidet unter furchtbaren Erinnerungen. Sie kommen nachts, sie reissen dich aus dem Schlaf, sie nehmen dir die Luft, du schreist deine Angst vor der geilen Drecksau mit Titel Diakon heraus – und wenn du Glück hattest, wachst du in den dich haltenden Armen deines Partners auf. Und irgendwann, wenn sie gross genug sind um zu verstehen, fragen auch deine Kinder nicht mehr, warum der Vater/die Mutter nachts manchmal so schreit. Du siehst es in ihren Augen, du siehst das Mitleid, die Zuneigung, die Liebe und auch die Verschrecktheit. Und erlebst, dass sie bei dem Wort Kirche nur Hass zeigen. Du leidest darunter wie ein Hund, weil du erkennst, dass die Täterschweine auch deine Kinder erreichten.
DIE VERBRECHERISCHEN SCHWEINE DER DIAKONIE MACHTEN AUCH MEINE KINDER ZU OPFERN!«
Fußnote
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/08/27/die-erinnerung-soll-ein-bruder-sein-doch-wohl-eher-eine-schwester/
Die Erinnerung soll ein Bruder sein? Doch wohl eher eine Schwester.
Aber vorweg: Ich habe nichts gegen die Katastrophenhilfe der Diakonie, spende darum auch hin und wieder.
Aber das Deckblatt dieser Werbebroschüre ist selber fast schon eine Katastrophe.
Aus zweierlei Gründen.
- Erinnerung ist rein sprachlich gesehen weiblichen Geschlechts. Nur ein sprachlich völlig unsensibler Mensch wird ihr eine Bruderrolle zusprechen wollen.
- Schlimmer noch ist allerdings die mangelnde Sensibilität für die Opfer Diakonischer Einrichtungen in der Vergangenheit. Ihre Erinnerung an die Erlebnisse in den Kinderheimen, an Demütigung, Zwangsarbeit, Misshandlung, Missbrauch und an eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten, diese Erinnerungen ließen einmal die Hoffnung aufkeimen, die Opfer würden angemessen entschädigt und ihnen bliebe im Alter ein weiterer Aufenthalt in einem Heim möglichst erspart. Doch diese Hoffnung wurde am Runden Tisch für ehemalige Heimkinder brutal abgewürgt.
Im Editorial der Broschüre wird Charles Dickens zitiert: „In der kleinen Welt, in der Kinder leben, wird nichts so genau wahrgenommen und gefühlt wie Ungerechtigkeiten.“ Man hätte seine Klassiker früher beherzigen soll. Nun fällt einem so ein Spruch auf die Füße.
Meine Frau sagte, was werden wohl die Heimkinder zu diesem Deckblatt sagen?
Ja, dieses Deckblatt ist ein Verdeckblatt. Sicher wird man der Diakonie u.ä. Einrichtungen nicht abverlangen können, bei jedem Auftritt vorweg ein Schuldgeständnis abzulegen. Doch die mangelnde Sensibilität lässt den Schluss zu, dass es mit dem Schuldbewusstsein nicht weit her ist und wohl eher ein Lippenbekenntnis hervorgebracht hat, um unbeschwert in die Zukunft gehen zu können. Doch diese Hoffnung trügt. Sie hat eine Schwester – und die heißt Erinnerung.
Dazu:
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/09/24/das-geheimnis-der-versoehnung-heisst/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/09/27/das-geheimnis-der-erloesung-heisst-erinnerung/
Demnächst auch hier im Blog: Erinnerung und Identität – Zur Bewältigung deutscher Vergangenheit in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext, von: Dierk Schäfer, Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 9/2018, http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=4563
Die Erinnerungen an das Grauen sind geblieben
»Höchstens elf Prozent der jüdischen Kinder in Europa entkamen der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Sie überlebten, aber die Erinnerungen an das Grauen sind geblieben«.
Was heißt und zu welchem Ende arbeitet man Geschichte auf?
„Wahrnehmungen und Erinnerungen sind datengestützte Erfindungen“, sagte der Hirnforscher Wolf Singer in seinem Eröffnungsvortrag auf dem 43. Deutschen Historikertag.[1] Die objektive Geschichte gibt es demnach nicht. Man konstruiert Erinnerungen anhand von Daten, die man gesucht und gefunden hat. Warum sucht man nach Daten, an die man sich allenfalls dunkel erinnert? Welches Interesse steckt dahinter?
Ein Beispiel: »Der lange Nazi-Schatten über der Kirche«, darüber berichtet die Schleswig-Holsteinischer Zeitung, shz, am 13. Januar 2014. Quelle ist die Untersuchung, die der Historiker Stephan Linck im Auftrag der Nordkirche vorgelegt hat. [2]
Da hat also ein Historiker einen Auftrag bekommen und man hat ihm Archive geöffnet. Warum?
Vor einem Monat habe ich beklagt, daß solche Untersuchungen erst dann gestartet werden, wenn sie niemandem mehr wehtun[3]. Was also soll’s? Mein Resümee war, die billigste Form der Vergangenheitserhellung solle das Image aufpolieren, – peinlich und blamabel!
Doch die Sache ist wohl komplexer.
Generell stellt sich die Frage, was die ganze verspätete Aufarbeitung soll, die wir ja nicht nur bei kirchlichen Einrichtungen beobachten. Auch staatliche Einrichtungen, Firmen und diverse Berufsgruppen ließen und lassen ihre nur noch ihr Image belastende Vergangenheit mehr oder weniger seriös aufarbeiten. Doch „wir sehen, was zu sehen nützlich ist“[4].
Darum noch einmal: Was also ist der Nutzen – und wird der angestrebte Nutzen erreicht? Vorbedingung mag sein, daß ein wichtiger Nutzen weggefallen ist, nämlich die Loyalität mit den Tätern und der eigene Vorteil. Darum wartet man mit der Aufarbeitung bis sie niemandem mehr schadet.[5]
Aber der Nutzen? Gut, die Historiker verdienen ihren Lebensunterhalt und wir erfahren mehr über die damaligen Verhältnisse. Die Geschichte wird vollständiger und damit „ehrlicher“. Es scheint so etwas wie ein Ethos zur wie auch immer begrenzten historischen Wahrheit zu geben, das Ethos des Geschichtsforschers. Ein merkwürdiges Ethos. Nun, da er nichts mehr zu befürchten hat, sondern Ansehen erwirbt, kümmert er sich um Fragen, die zuvor unbekannt waren oder unter dem Deckel gehalten wurden. Ist das Tabu erst gebrochen, stehen die betroffenen Institutionen unter (öffentlichem) Druck. Sie geben nach und geben eine Studie in Auftrag, die nicht den Anschein erwecken darf, sie sei parteilich. Und schließlich weiß man, daß Aufregung über längst Vergangenes schnell wieder abebbt. Die paar Medienartikel haben keine Auswirkungen – und man selber hat nun eine reine Weste.
Schwieriger ist es mit Verfehlungen von Kirchen und ihren Würdenträgern. Da ist die Öffentlichkeit nicht (mehr) so nachsichtig. Hier geht es um andere Dimensionen von Glaubhaftigkeit und Vertrauen. Aber auch die Nazi-Verstrickungen der Kirchen bewirken in historischer Distanz wenig. Nur die Kirchengegner sagen: Haben wir doch schon immer gewußt.
Geht es aber um Verfehlungen in jüngster Zeit, wird erst geleugnet und diffamiert, und dann gibt es ein Begräbnis zweiter Klasse. Wissenschaftliche Aufarbeitung? Ja, wenn’s sein muß. Betroffenheits- und Entschuldigungsbekundungen? Kommt man nicht drumrum. Entschädigung? Nein, aber freiwillige Unterstützungsleistungen, möglichst mit Bordmitteln und möglichst kostengünstig. Offenbarungen auf der Homepage? Allenfalls vorübergehend, dann wird die Geschichte aber wieder bereinigt – also ausgelöscht. Doch wenn darüber endlich Gras gewachsen ist, kommt sicherlich ein Esel, der es wieder runterfrißt. Das Gedächtnis des Internet hilft dabei.[6]
Was die Wurzeln der Nordkirche betrifft: es lohnt sich den Artikel der shz zu lesen. Es geht um den Täterschutz, wie er vielfach in Deutschland und wohl besonders in Schleswig-Holstein praktiziert wurde. Da eine Lokalzeitung über Lokales ausführlicher berichtet, erfahren wir auch mehr über die Rolle des damaligen Holsteiner Bischofs Wilhelm Halfmann. Wiki hat einige Aspekte in dessen Vita etwas unzureichend beleuchtet.[7] Insbesondere der Heyde-Sawade-Skandal spielt mit hinein und die Verbindung zum Synodenpräsidenten Adolf Voss.[8] Auch Wilhelm Kieckbusch, der Bischof der ehemaligen Landeskirche Eutin[9] wird unrühmlich erwähnt und man muß feststellen, daß Wiki auch in diesem Fall nicht gut recherchiert hat. Nun wissen wir mehr. Wiki hoffentlich auch demnächst.
[1] zitiert nach: FAZ 28. September 2000
[2] http://www.shz.de/schleswig-holstein/politik/der-lange-nazi-schatten-ueber-der-kirche-id5413301.html
[4] Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags: FAZ 28. September 2000
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/12/31/erst-jetzt-mit-groserer-zeit%C2%ADlicher-distanz-zu-ereignis%C2%ADsen-und-personen-kommt-die-forschung-in-gang/
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