Einer Kollegin zur Verabschiedung aus dem Pfarramt
Emeritierung ist eine Form der altersbedingten Befreiung (Entpflichtung) eines Pastors, Bischofs, Papstes, Hochschullehrers oder Professors von der Pflicht zur Wahrnehmung der Alltagsgeschäfte. Hat ursprünglich aber auch die Bedeutung von „ausdienen, alt/unbrauchbar werden“[1]. Doch das hat wohl noch Zeit.
Was könnte also eine emeritierte Pfarrerin noch tun?
Manche übernehmen Predigten – doch dieses Sonntagsgeschäft ist eher das Alltagsgeschäft von Pfarrern, so auch die „Kasualien“.
Genieße die Freiheit eines Christenmenschen – und wir wissen dank Luther, dass wir sie zuweilen auch ertragen müssen, wenn wir gefordert werden, denn ein Christ ist immer im Dienst[2].
Wenn Du magst, wartet so manches andere auf Dich, was unter der Fülle der Alltagsaufgaben gelitten hat, aber einer Pfarrerin angemessen ist.
Apropos Luther: Wir haben Dir zwei Vorschläge mitgebracht, der erste heißt Luther.
Es ist die Biographie eines Profanhistorikers über Luther[3]. Er geht anders heran, als die Kirchenhistoriker. Das ist erfrischend. Er zeigt die Relativität unserer historischen Rekonstruktionen, die immer auch Konstruktionen sind.[4] Er schreibt, wie in den Luther-Gedenk-Jubiläen sich jede Epoche ihren eigenen Luther zurechtgeschnitzt hat.[5] Am drastischsten die Indienstnahme von Luther durch die Nazis.[6] (Der Judenhasser Luther blieb in unserem Studium ja meist außen vor – und jetzt wird er uns von den Kirchenfeinden um die Ohren gehauen.[7] + [8])
Und wie feiern wir Luther heute?
Das hätten sich andere Epochen nicht vorstellen können. Die Luther-Decade: ein ganzes, gefeiertes Lutherjahrzehnt führt von 1517 zum Jahr 2017[9]. Mit einer Ex-Landesbischöfin als Lutherbotschafterin, eine Frau also; Katharina von Bora hätte wohl ungläubig den Kopf geschüttelt. Doch ich erinnere mich noch an die Rührung einer emeritierten Vikarin, mit der sie eine leibhaftige Dekanin begrüßte. Sie hatte zu ihrer Zeit noch nicht Pfarrerin werden können. Erinnerst Du Dich, liebe Sabine[10]: in der Zeit Deines Vikariats gab es noch Gemeinden, die keinesfalls eine Frau als Pfarrer akzeptiert hätten. Die ecclesia semper reformanda! – und Luther wird, wie das Luther-Gedenken mitreformiert.
Das sei hier symbolhaft gezeigt: Auf dieser Lutherbiographie sitzt als Kind unserer Zeit Luther als Playmobilfigur.
Nun zum zweiten: Dieses Buch haben wir nicht in Geschenkpapier gewickelt.
Warum? Es ist gebraucht, ich habe es schon gelesen. So etwas kann man doch nicht mehr verschenken, werden manche denken. Macht man normalerweise auch nicht.
Zuerst zum Buch: Es hat den merkwürdigen Titel: gehen – ging – gegangen.[11] Das passt zum Anlass: Vom Präsenz – zum Imperfekt – zum Perfekt: Heute predige ich – neulich predigte ich noch – früher habe ich gepredigt. Das ist ein Weg in den Ruhestand. So ein Weg kann schwierig sein, doch in der Normalität von Lebenswegen ist das banal.
Das Buch handelt von Richard. Er lebt in Berlin. In der DDR forschte und lehrte er als Professor für alte Sprachen. Doch mit seiner Emeritierung ist sein Leben noch nicht abgeschlossen, ist nicht perfekt.
Eher zufällig kommt er in Kontakt mit schwarzafrikanischen Flüchtlingen und – ganz Professor, der es nicht lassen kann, – forscht er nach. So erfährt er – und wir mit ihm – vieles über die Lebens- und Fluchtbedingungen der Menschen aus Afrika, die sich auf den mörderischen Weg über das Mittelmeer machen. Nicht nur das: Richard lernt auch vieles – und wir mit ihm – über die Lebensbedingungen dieser Menschen in Deutschland, und über das, was sie hier am Leben und Bleiben hindert. Und noch mehr: Richard verändert sich – wir vielleicht auch mit ihm?
Aber warum ein gebrauchtes Buch?
Ich hätte es für unangemessen gehalten, ja, für eine Sünde, es einfach ohne weiteren Nutzen in mein Bücherregal zurückzustellen. Es ist zum sofort-Lesen und zum gezielt-Weitergeben, weil es vom Leben handelt, davon, was das Leben behindert – oder auch ermöglicht – und welchen Anteil wir daran haben – können.
gehen – ging – gegangen / lesen – las – gelesen.
Wenn ausgelesen, gib es weiter, damit der oder die nächste es liest. Wenn er es mit dem Herzen las, wird sie, soll er es, wenn ausgelesen, weitergeben.
Mit den besten Segenswünschen für Deinen Ruhestand.
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Ein Nachtrag: Die Verabschiedung war nicht nur feierlich, sondern beeindruckend. Im Festgottesdienst sprach nach der Predigt auch der Bürgermeister und nannte detailliert die erfolgreiche Zusammenarbeit mit meiner Kollegin. Er sagte: Sie waren ein Segen für unsere Stadt.
Trotz der mafiösen Kumpanei von Staat und Kirche am Runden Tisch Heimkinder: Es gibt sie also noch, die gute Kooperation von Staat und Kirche zugunsten der Bürger. An der Basis kann das funktionieren. So sollte es noch möglichst lange bleiben, auch wenn nicht jeder Kollege und nicht jeder Politiker dafür geeignet ist.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Emeritierung
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Dibelius . Also mach es nicht wie jener Bischof, der sich bei einer begründeten Anfrage darüber empörte, dass man ihn im Ruhestand behelligt.
[3] Heinz Schilling, Martin Luther, Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, https://www.perlentaucher.de/buch/heinz-schilling/martin-luther.html
[4] Er nimmt damit neuere Ergebnisse der Hirnforschung auf: Professor Dr. Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags http://www.brain.mpg.de/fileadmin/user_upload/images/Research/Emeriti/Singer/Historikertag.pdf
[5] s. auch: Reinhard Bingener, Luther und die Deutschen, FAZ Donnerstag, 28. März 2013, S. 1, http://www.faz.net/aktuell/politik/reformation-luther-und-die-deutschen-12130531.html
[6] http://www.theology.de/themen/martin-luthers-judenfeindschaft–offener-appell.php
[7] http://hpd.de/node/13504 Montag, 15. April 2013
[8] Sehr drastisch wird Luthers Theologie in Zusammenhang mit der Mordsache Geyer in Verbindung gebracht. http://www.theologe.de/luther_geyer.htm Donnerstag, 25. Februar 2010. Aber der Autor hat keine Ahnung von Theologie, auch wenn er sich Theologe nennt.
[9] http://www.zeit.de/2013/01/Martin-Luther-Biografie/komplettansicht
[10] Name geändert
[11] Jenny Erpenbeck: „Gehen, ging, gegangen“, Roman, München 2015
Wer Augen hat zu lesen, der lese …
… und ihm werden die Augen aufgehen. Ein emeritierter Professor[1] für alte Sprachen (Richard) gerät eher zufällig, dann aber recherchierend in Kontakt mit schwarzafrikanischen Flüchtlingen. Er entdeckt dabei nicht nur sie, ihre Länder und die dortigen Lebens- und Fluchtbedingungen, entdeckt nicht nur die hiesigen Lebensbedingungen für schwarzafrikanische Flüchtlinge, sondern er entdeckt auch seine Lebensbedingungen in diesem immer merk- und fragwürdiger erscheinenden Deutschland.
Von Jenny Erpenbeck sachkundig und faszinierend geschrieben. Sollte man unbedingt lesen, denn dabei gehen einem die Augen auf – Zyniker und andere Menschenverächter ausgenommen.
[1] (mit DDR-Hintergrund)
Hier ein Auszug:
Jenny Erpenbeck
GEHEN, GING, GEGANGEN
Roman
Die Afrikaner müssen ihre Probleme in Afrika lösen, hat Richard in letzter Zeit häufig Leute sagen hören. Hat Leute sagen hören: Dass Deutschland überhaupt so viele Kriegsflüchtlinge aufnehme, sei sehr großzügig. Im gleichen Atemzug sagen sie: Aber wir können nicht ganz Afrika von hier aus ernähren. Und sagen außerdem: Die Armutsflüchtlinge und Asylbetrüger nehmen den wirklichen Kriegsflüchtlingen, das heißt also den Kriegsflüchtlingen, die auf direktem Wege nach Deutschland kommen, die Plätze in den Asylbewerberheimen weg.
Die Probleme lieber in Afrika lösen. Richard stellt sich einen Moment lang vor, wie ein Erledigungszettel für die Männer, die er in den letzten Monaten hier kennengelernt hat, dann aussehen müsste.
Während auf seinem eigenen Zettel zum Beispiel stünde:
- Monteur für Reparatur Geschirrspüler bestellen
- Termin beim Urologen ausmachen
- Zähler ablesen
würde auf der Erledigungsliste für Karon stattdessen stehen:
- Korruption, Vetternwirtschaft und Kinderarbeit in Ghana abschaffen
Oder bei Apoll:
- Klage gegen den Konzern Areva (Frankreich) einreichen
- neue Regierung in Niger einsetzen, die sich durch ausländische Investoren nicht bestechen oder erpressen lässt
- unabhängigen Tuareg-Staat Azawad gründen (mit Yussuf besprechen)
Und bei Raschid stünde da:
- Christen und Muslime in Nigeria miteinander versöhnen
- Boko Haram davon überzeugen, die Waffen niederzulegen
Zuletzt sollten Hermes, der Analphabet mit den goldenen Schuhen, und Ali, der zukünftige Krankenpfleger, sich gemeinsam um diese beiden Aufgaben kümmern:
- Verbot von Waffenlieferungen an Tschad (USA und China)
- Verbot, im Tschad Erdöl zu fördern und außer Landes zu bringen (USA und China)
Sag einmal, fragt Richard Karon, wie groß müsste ein Grundstück in Ghana sein, von dem sich deine Familie dort selbständig ernähren könnte?
Karon überlegt einen Moment und sagt dann: Ein Drittel vom Oranienplatz etwa.
Und wieviel würde das kosten?
Karon überlegt wieder und sagt: Ich denke, zwischen 2000 und 3000 Euro.
Noch im Sommer vor anderthalb Jahren hätte Richard sich beinahe ein Surfbrett gekauft (1495,- Euro), aber bevor er sich hatte entscheiden können, war schon der Herbst dagewesen, und im letzten Sommer, nachdem der Mann im See ertrunken und nicht mehr aufgetaucht war, hatte ihm natürlich nichts ferner gelegen als der Kauf eines Surfbretts. Dagegen wäre der Kauf eines staubsaugenden Roboters (799,- Euro) sicher auf jeden Fall eine gute Idee, auch einen …
S. 252f
Knaus-Verlag, München, 2015
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