Leserbrief an die FAZ
Es ist sicherlich verdienstvoll, daß sich Susanne Kusicke auch der Probleme der Heimerzieher zuwendet, die sich – wie die ehemaligen Heimkinder – ausgestoßen sahen (FAZ 21.4.09). Wenn die Erzieher auf ihre Lebenszeit zurückschauen, dürften viele von Selbstzweifeln geplagt sein. Ich lernte den im Artikel erwähnten Erzieher auf der Bahnfahrt zum Runden Tisch kennen und wir hatten ein gutes Gespräch.
Doch es ist zu fragen, ob hier die Schwerpunkte richtig gesetzt sind. Wer den ersten der Beiträge von ehemaligen Heimkindern auf dem 3. Karlshöher Diakonietag gehört hat, konnte trotz oder gerade wegen des humoristisch gehaltenen Vortrags der unguten Erinnerungen eine Gänsehaut bekommen. Die Dokumentation der dortigen Heimkinderprojektgruppe zeigt, wie der Heimalltag erinnert wird. Vom morgendlichen diskreten Wegwischen der Pfützen unter den Betten der Bettnässer durch die Erzieher habe ich zum ersten Mal im Artikel von Susanne Kusicke gelesen. Die Realität scheint – in vermutlich allen Heimen – eher brutal gewesen zu sein. Doch das ist ja nur ein Punkt unter vielen.
Zu fragen ist, warum die Karlshöhe – wie auch andere Heime – von den Vorstellungen Wicherns abgewichen ist. Wichern wollte kleine, familienähnliche Gruppenstrukturen. Doch auf der Karlshöhe wurde an allem gespart. Man organisierte Großgruppen mit zu wenig und regelmäßig wechselndem Personal und zog ein strammes Arbeitsprogramm für die Kinder durch; so auch in der Dokumentation zu lesen.
Zu fragen ist weiterhin, warum die im Staatsauftrag handelnden pädagogischen Einrichtungen nicht die reformpädagogischen Gedanken aufgegriffen haben, sondern vielfach die Schwarze Pädagogik der Nazi-Zeit fortführten.
Zu fragen ist, warum gerade kirchliche Heime dermaßen rücksichtslos den Kindern vermittelten, nichts wert zu sein. Man kann es auf die Formel bringen: Wichern sprach vom Geist der Liebe, doch statt dessen gab es Hiebe.
Wenn der auf zwei Jahre geplante Runde Tisch vielleicht doch zu Ergebnissen kommt, nämlich Fonds vorschlägt für entgangene Rentenansprüche, für nötige Therapien, für Schmerzensgelder – und auch für die Finanzierung sorgt, wenn das alles erreicht ist, dann kann man sich auch um die Nöte der ehemaligen Erzieher kümmern. Das meine ich nicht sarkastisch, denn eine solche Vergangenheit muß belasten. Aber: First things first!
Dierk Schäfer
68er-bashing
Florentine Fritzen beteiligt sich heute (14.4.09) in der Frankfurter Allgemeinen am zur Zeit beliebten Mobbing gegen die 68er Generation. Sie beklagt, wohl zu recht, daß die Dreißigjährigen ohne Visionen seien, so der Titel ihres Kommentars auf der ersten Seite. Insbesondere für Soziales seien die jungen Leute von heute nicht mehr aufgeschlossen, gar nicht im Blick sei es. Was haben die 68er damit zu tun? Ganz einfach: Sie haben sie erzogen. Und wie? „Die Visionen der Schüler in den neunziger Jahren waren Kopien der Visionen der Achtundsechziger-Generation. Wenn im Unterricht wieder einmal diskutiert wurde, wußten die Lernenden ganz genau, was die Lehrer zum Beispiel über Rechtsextremismus hören wollten. Die Schüler der neunziger hatten begriffen, daß ihre Erzieher unter Selberdenken das Nachplappern der immer gleichen Phrasen verstanden.“ Und für das Selberdenken gab es später im Studium auch keine Zeit. Da haben wir’s. Hätten die jungen Leute beizeiten selber gedacht, hätten sie nicht die offensichtlich falsche Denke ihrer 68er–Lehrer über den Rechtsextremismus nachgeplappert, sondern … ja, was denn sonst, Frau Fritzen?
Im Wirtschaftsteil der heutigen FAZ, auch im Kommentar auf der ersten Seite in der rechten Ecke, liest man zum Thema Zeitarbeit, daß die Wirtschaft im Konjunkturverlauf atmen können müsse, Einatmen, das sind Einstellungen, und zum Ausatmen muß man entlassen können. Dafür sind Zeitarbeiter gut. Nach der Krise kann die Wirtschaft sie ja wieder einatmen. „Soziales Engagement gehört für junge Akademiker nicht mehr zum Katalog der Anforderungen“, schreibt Frau Fritzen. Ja, wie denn auch?
Bleibt auch die Logik auf der Streck,
Die Mittel heiligt hier der Zweck.
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