Wie wirklich war die „Wirklichkeit“?
Konstruktion oder Rekonstruktion der Vergangenheit? Das war hier im Blog schon mehrfach ein eher unerwünschtes Thema. Ein angeblicher Missbrauchsfall aus meinem Beobachtungsfeld war genannt worden[1], dann der Fall Wilkomirski[2], es gab auch einen Heimkinderfall à la Wilkomirski, der heftige Kommentare hervorrief[3], und auch der Hirnforscher Wolf Singer mit seinem Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags fand Erwähnung: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft.[4]
Weil wir Kritik an unseren Erinnerungen und an unser Erinnerungsvermögen als Bedrohung unserer Identität[5] sehen, sind uns Forschungsergebnisse unheimlich, wie sie nun wieder mit neuen Daten publiziert werden.[6] Wenn wir aber unsere Erinnerungen als festgemauertes Fundament unserer Persönlichkeit verteidigen und jede begründete Verunsicherung heftigst abwehren, dann werden wir zu „Fundamentalisten“ mit geradezu heiligen Vorurteilen[7]. Wie können wir dann unser Leben für die Zukunft zu entwerfen?
„Ich bin, der Ich sein werde“, so stellt Gott sich vor.[8] Das wäre auch für uns eine Chance.
Doch das heißt nicht, dass irgendjemand so mir nichts dir nichts mit bloßen Behauptungen an unserer Vergangenheit rumwerkeln darf. Heißt aber auch, dass wir uns selbst nicht blindlings vertrauen sollten. Errare humanum est – Irren ist menschlich.
[1] http://www.zeit.de/2003/26/Verdacht
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Binjamin_Wilkomirski
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/04/06/unheimlich/
[4] http://www.brain.mpg.de/fileadmin/user_upload/images/Research/Emeriti/Singer/Historikertag.pdf
[5] Identität ist auch eine Konstruktion, allerdings eine lebensnotwendige.
[6] Lesen!! http://www.zeit.de/2015/33/erinnerung-gedaechtnis-gericht-fehlurteil/komplettansicht Mittwoch, 2.9.2015
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Erinnerungsverf%C3%A4lschung
[8] 2. Mose, 3,14
„Mord als Gottesdienst“
„Mord als Gottesdienst“ quer durch alle Religionen, heute in der FAZ-print-Ausgabe[1].
Das Thema interessiert mich. Theologe der ich bin lege ich den Rest der Zeitung erst einmal zur Seite. Friedrich Wilhelm Graf, der Autor, ist kein Unbekannter. Erst kürzlich legte der emiritierte Münchner Professor für Systematische Thelogie sein Buch „Götter global“ vor, ein fulminanter Überblick über die weltweite Befindlichkeit von Religionen, geschrieben mit der Distanz, wie man sie von einem kritischen Wissenschaftler erwartet. Manche Leute meinen ja, Theologie sei keine Wissenschaft – und das ist ein Irrtum, auch von ansonsten gebildeten Zeitgenossen.
Religion und Gewalt ist seit den Selbstmordattentaten junger Islamisten ein Thema auch unterschiedlichster Publikationsorgane und somit populär geworden. Doch Graf macht deutlich, daß dies eine unsachgemäße Verengung des Blickwinkels ist. Er meint alle Religionen, z.B. auch den bei uns meist als friedfertig eingestuften Buddhismus. Graf läßt in diesem Artikel leider die Säkularreligionen aus, auf die er im erwähnten Buch durchaus eingeht. Da wären zu nennen der Patriotismus, der Vernunftglaube der französischen Revolution, der deutschgläubige Nazismus, der Marxismus – leider ist die Aufzählung unvollständig und wir wissen nicht, was uns in der Zukunft noch an ideologischer Verblendung mit Gewaltauswirkung erwartet. Ich denke, Graf würde hier zustimmen, doch im Artikel fokussiert er auf Religion als Quelle von Gewalt.
Was macht Religion so gefährlich? Nach Graf ist es – kurz gesagt – die Unterstellung, Gott sei allmächtig, und diese Allmacht ist instrumentalisierbar. Der Gläubige meint an ihr teilzuhaben und handelt somit in höherem Auftrag. Er überschreitet die Grenzen, die hier und jetzt gelten. Unter dem Blick seines Gottes, den der Gläubige annimmt, sind diese Grenzen „falsche, sündhafte aufzuhebende Regelwerke, die souverän zu ignorieren nur mutige Glaubenstat ist.“
„Religiöse Symbolsprachen“, schreibt Graf, „stiften kosmische Ordnung durch elementare Grundunterscheidungen: Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit, Jenseits und Diesseits.“ Oft würden diese Unterscheidungen „mit Vorstellungen verknüpft, dass der innere, gottgewollte Ordo des Kosmos durch den sündhaften Menschen gestört wurde, der sich in narzisstischer Selbstbezüglichkeit den guten Schöpfungsordnungen widersetzt“. Wenn aber die erlebte Welt „als eine verderbte Gegenwelt zur wahren, gottgewollten Ordnung erlitten wird, entsteht für die Schöpfungsfrommen der Zwang, die Welt, so wie sie leider ist, auf die ideale und ursprüngliche Ordnung Gottes hin zu überwinden. Gewaltbereitschaft für Gott, genauer: für den je eigenen Gott, ist der Versuch, die erlittene kognitive Dissonanz zwischen den bösen, sündhaften Verhältnissen und der geglaubten Gottesordnung durch kämpferisches Glaubenszeugnis zu überwinden“.
Die psychologische Theorie von der kognitiven Dissonanzminderung begegnet uns meist in der Form, daß bei auftretenden Spannungen zwischen Wissen und Verhalten oft nicht das Verhalten geändert wird, sondern das Wissen und seine Bedeutung. So raucht der Raucher weiter und nimmt das Wissen um die Schädlichkeit seines Tuns nicht so ernst. Das ist bei den verbohrten Weltverbesserern gleich welcher Couleur anders. Sie sind furiose Heilsbringer, koste es, was es wolle. Die Welt stimmt nicht mit ihren Vorstellungen überein? Um so schlimmer für die Welt. – Das gilt, wie gesagt, für alle Ideologen, die über Leichen gehen, nicht nur für die religiösen.
Am Schluß des Artikels steht eine Notiz über Friedrich Wilhelm Graf. Er „ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Pointiert nimmt er immer wieder zu Debatten Stellung, in denen es um Religion in der säkularen Gesellschaft, um das Verhältnis von Staat und Kirche oder um innerprotestantische Auseinandersetzungen geht. Mit feuilletonistischer Verve begegnete er auch dem neuen, publizistisch aktiven Atheismus, wie er von Richard Dawkins oder Christopher Hitchens vertreten wird“. Überschrieben ist diese Notiz mit „Der Götterbote“. Hoffentlich kann Graf Spaß verstehen.
[1] Hier kann leider nicht der ganze Artikel referiert werden. Ich hoffe, die FAZ ist so großzügig, ihn auch digital zugänglich zu machen. Nun auch digital:
: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/religion-und-gewalt-mord-als-gottesdienst-13084596.html
„Züchtigen ist ein Gesamtkonzept.“
»Jeder Schlag ist Misshandlung Seit dem Jahr 2000 gilt in Deutschland grundsätzlich jede Körperstrafe unabhängig von ihrer Härte als Misshandlung, auch emotionale Misshandlung und Vernachlässigung zählen dazu. Einige Formen stehen nach dem Strafgesetzbuch unter Strafe. Ärzte, Pädagogen und Psychologen unterliegen auch bei Kindern ihrer Schweigepflicht, bis sie den Verdacht hegen, das Kindeswohl könne gefährdet sein.«[1]
[1] http://www.spiegel.de/schulspiegel/zwoelf-staemme-sekte-zeigt-rtl-reporter-an-a-984059-druck.html
Im Besitz der Wahrheit
»Wenn jemand daher kommt, dachte Hunkeler, und behauptet, im Besitze der Wahrheit zu sein, so gibt es nur eines. Sofort wegrennen. Als Nächstes wird er einem nämlich, wenn man ihm nicht glaubt, ein Messer in den Bauch stoßen«.
aus: Hansjörg Schneider, Hunkeler und die Augen des Ödipus, Zürich 2010, detebe 24005, S. 62
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