Die gesellschaftliche Konstruktion von Vergangenheiten und ihre Bewirtschaftung
Valentin Groebners Buch mit dem Titel „Retroland“ handelt vom „Geschichtstourismus“ und der „Sehnsucht nach dem Authentischen“[1]. Der Autor ist vielgereist und da viele von uns auch Vielreisende sind, gibt es vieles, was wir kennen, was aber nun einen Aha-Effekt auslöst. Denn manches, was wir für echt gehalten haben, ist – gelinde gesagt – „auf echt“ stilisiert, manchmal sogar ein pures Artefakt der am Tourismus interessierten Kreise. Tourismus, so lernen wir, ist der weltweit drittstärkste Wirtschaftszweig.
Da spielen natürlich religiös konnotierte Zielorte eine wichtige Rolle für religiös interessierte Bildungsbürger. Ein Tourismusunternehmen nennt sich sogar „Biblisch Reisen“. So nimmt uns der Autor mit zu den Sacri Monti in Piemont[2].
Auch wenn wir vor den lebensgroßen Darstellungen biblischer Szenen nicht in religiöse Verzückung fallen, so stehen wir in Varollo doch staunend vor dem blutüberströmten Jesus im begehbaren Grab. „Die Auferstehung hat noch nicht stattgefunden, und du bist dabei.“ Für den Glaubenden ist dies die „Wiederaufführbarkeit der Vergangenheit“.[3]
Diesem katholischen Beispiel schließen sich die Gedanken an Wallfahrten und der Reliqienglaube an. Doch wie steht es mit unseren Krippenspielen zur Weihnachtszeit? Bleiben wir evangelisch und folgen dem Autor durch die Luther-Dekade – von einem Erinnerungsort zum andern – und der verblassende Tintenfleck auf der Wartburg wird immer wieder aufgefrischt. Valentin Groebner stellt die kommerziellen Zwecke bei der „Rekonstruktion“ der Vergangenheiten heraus, Rekonstruktionen, die man gezielt nicht nur pflegt, sondern ihnen auch erfindungsreich nachhilft. – So weit, so erhellend wie auch unterhaltsam.
Doch es bleiben Fragen. Nicht nur stören zuweilen die Redundanzen: Teile des Buches wurden zuvor schon anderweitig publiziert, eine gewisse Straffung wäre gut gewesen. Auch manch unterstelltes Motiv von Reisenden erscheint etwas plakativ. Bedeutender sind allerdings zwei Desiderate.
Der Autor ist kein Wissenssoziologe. Das Standardwerk der Wissenssoziologie, Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, sucht man im umfangreichen Literaturverzeichnis vergeblich. Doch während Berger/Luckmann die gesellschaftliche Konstruktion von Realität (einschließlich der Sinn-Welt) beschreiben und im Grundsätzlichen bleiben, so greift Groebner einen Teilaspekt heraus: Die Bewirtschaftung der Vorstellungen von Vergangenheiten zu beiderlei Nutzen, dem ihrer Marketingexperten und dem ihrer zahlenden Konsumenten.
Der Autor ist auch kein Theologe. Sonst hätte er wohl die Bedeutung seiner Überlegungen für Theologie und Kirchengeschichte erkannt. Da geht es nicht nur um so etwas wie die Konstantinische Schenkung und die gut gemeinten frommen Rückdatierungen von Klostergründungen und der gefakten Urkunden. Es geht vielmehr um das „Kerngeschäft“ der Verkündigung: „Er ist (damals) wahrhaftig auferstanden“ und er errettet uns heute. Dieses Kerngeschäft ist die Bewirtschaftung der Vergangenheit, einer Vergangenheit, die trotz und wegen aller theologischen Forschung – so nach der ipsissima vox – sich als konstruiert erweist, wenn sie auch historische Kernelemente haben mag. Der Prozess der Vergangenheitskonstruktion fand bereits im Altes Testament statt – Stämmeamphiktionie, er wurde fortgesetzt mit den Berichten im Neues Testament, die vieles als erfüllte Weissagung aus dem Altes Testament zur Konstruktion des Lebens und des Todes Jesus übernommen haben. Es gehört zu den grandiosen Leistungen der frühen Christenheit, im Rückblick auf das Wirken und Leiden Jesu von Nazareth und mit Rückgriff auf die Facetten des alttestamentarischen Gottes eine Gottesvorstellung entwickelt zu haben, die mit der Figur des Heiligen Geistes zukunftsoffen ist, zukunftsoffen auch über unsere Endlichkeit hinaus. Dazu gehören das Ringen um ein „gültiges“ Credo, die Kanonbildung, die Fortentwicklung der Dogmatik und die Weiterentwicklung der „Gottesbilder“.
Alles nur Fake? Die Frage ist falsch gestellt. Im Unterschied zu den Formen des gehobenen Tourismus und der unbestrittenen Fortwirkung und Stilisierung des Erlebten im Erinnern, geht es bei der Pflege christlicher Tradition (wie auch in wohl den meisten Religionen) um die Vermittlung von Sicherheit in der Gegenwart und um Zukunftshoffnung über Leid und Tod hinaus.
[1] Valentin Groebner: „Retroland“. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen.
- Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 219 S., Abb., br., 20 – €.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Sacri_Monti
[3] Dieser Passus, ab „Varollo“, und das Photo aus der Rezension von HANNES HINTERMEIER, FAZ/24.8.18, S.10
Privat-öffentlich – „Lindenmatinee“ zum 70.
Übereinstimmung und Unterscheidung prägen uns, unsere Lebensweise, unsere Art, die Welt zu sehen, unseren Charakter. Besonders prägend sind die ersten Lebensjahre, in denen die Übereinstimmung überwiegt. Blicke ich aus der Distanz von 70 Lebensjahren zurück, sehe ich bei aller Wertschätzung auch das allmähliche Herauswachsen aus den Übereinstimmungen.
Warum allein zurückblicken, sagte ich mir und lud im Rahmen meines 70. Geburtstags zu einer Lindenmatinee ein, auch eine Art von Public-Private Partnership. Linden ist ein recht besonderer Stadtteil Hannovers, was ihm auch seine Verächter zuerkennen. Dort verbrachte ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens.
Die Verbindungen mit Linden lebten wieder auf, als ich begonnen hatte, Kindheitsbilder ins Netz zustellen[1]. Die Folge waren Mailkontakte, viele Photos, persönliche Treffen und regelmäßig mir nach Süddeutschland zugeschickte Stadtteilzeitungen und Zeitungsausschnitte.
Das Netzwerk Archive Linden-Limmer e.V. [2] ist ein sehr rühriger Verein und recherchiert die Lokalgeschichte. So gewann ich Herrn Jürging vom Vorstand des Vereins für den ersten Vortrag, den zweiten hielt ich selbst. Werbung gab es nicht, aber die Stadtteilzeitung veröffentlichte eine Notiz und der Gemeindesaal von St. Martin war rappelvoll, als Michael Jürging unter dem launigen Titel: Soweit hätte es nicht kommen müssen – 900 Jahre Linden, an Beispielen die geschichtliche Entwicklung Lindens passieren ließ, unterbrochen und bereichert durch spontane Einwürfe der Zuhörer. Genau so war es gewollt: Eine Geschichtswerkstatt, die fortgesetzt werden kann.
Mein Vortrag hieß Eine Kindheit in Linden und umfaßte im wesentlichen die Jahre 1944 bis 1964, wie ich sie erlebt habe und heute sehe: Die Familie, die Kameraden, die Spiele, der „Kiez“, und die Rolle von Schule und Kirche für mich in dieser Zeit. Da gab es vieles für die Zeit Typisches, zu berichten. Auch hier wurde es lebhaft mit Zurufen und Ergänzungen.
Was besonders schön war: Es waren Spielgefährten von damals gekommen, von denen ich nicht gedacht hatte, sie jemals wiederzusehen, auch manche, die ich erst wieder „einordnen“ mußte und andere konnte ich beim besten Willen nicht in meiner Erinnerung unterbringen. Bilder und kleine Photoalben wurden gezeigt und wir beschlossen, in Kontakt zu bleiben. Dank Internet findet man mich und braucht nur zu googeln.
Privat-öffentlich, – es gibt ja nicht nur peinliche private Informationen im Netz und den sozialen Netzwerken. Sie können Ausgangspunkt werden für alt-neue Kontakte und für neu-alte Gemeinsamkeiten. Im nächsten Jahre feiert Linden sein 900jähriges Jubiläum.- Dies war ein guter Auftakt.
Nachmittag und Abend waren dann – wie auch der Vorabend – privat mit der Familie und Freunden. Und das war dann wirklich privat mit den Erinnerungen und Darbietungen, wie man das zu einem solchen Anlaß so macht. Da will ich nicht weiter aus dem Nähkästchen plaudern. Nur so viel: Es ging auch um mich als Autofahrer. Und dazu fällt mir ein, daß ich doch noch eine Chance habe, in den Himmel zu kommen. Denn als ein Pfarrer und ein Busfahrer bei Petrus anklopften, schaute der in sein großes Buch, winkte den Busfahrer durch und schickte den Pfarrer in den Wartestand auf die harten Bänke des himmlischen Wartesaals. Wieso kommt der rein und ich muß warten? – Wenn Du gepredigt hast, haben alle geschlafen, erwiderte Petrus, aber wenn der gefahren ist, haben alle gebetet.
»Erst jetzt, mit größerer zeitlicher Distanz zu Ereignissen und Personen, kommt die Forschung in Gang«.
Die billigste Form der Vergangenheitserhellung soll das Image aufpolieren, – peinlich und blamabel![1] So schrieb ich vor wenigen Tagen hier im Blog. Es ging um die Aufarbeitung der Nazi-Unterstützung durch die evangelischen Kirchen in Schleswig-Holstein.
Doch dieser Vorwurf gilt nicht nur den genannten Kirchen. Das Verfahren scheint eine Art soziales Naturgesetz für die Aufarbeitung „unangenehmer“ Vergangenheiten zu sein.
Andreas Wirsching, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, wird heute dazu in der FAZ zitiert: Er »nannte den Generationenwechsel als wichtigen Grund dafür, warum es vielfach erst jetzt dazu kommt: „Das Schwinden persönlicher Loyalitäten ist eine notwendige Voraussetzung für die historische Distanzierung und die damit mögliche kritische Aneignung und Aufarbeitung von Geschichte. Wenn einflussreiche Persönlichkeiten noch institutionell und durch persönliche Wirkung dominieren, vermag meist auch ihr Narrativ das Bild der eigenen Geschichte zu prägen.“ Bewunderung, Abhängigkeit und Loyalität des Umfeldes verhinderten in solchen Fällen die kritische Distanzierung«[2].
Solche persönlichen Loyalitäten mögen im positiven Fall eine soziale Beißhemmung sein, ähnlich wie man dunkle Punkte in der Familiengeschichte gern im Dunkel hält. Doch wenn die Folgegeneration mit Rücksicht auf ihre Karriere die Tätergeneration schützt, indem sie die Augen verschließt, dann ist diese Beißhemmung egoistisch motiviert und darf mit Fug und Recht Korruption genannt werden.
Doch was in der Nachkriegszeit unter Forschern endemisch war, funktioniert heute nicht mehr. Wir müssen nicht mehr auf die Geschichtsschreibung warten, müssen nicht warten, bis die Ohrenzeugen der Augenzeugen verstummt sind.[3] Wir dokumentieren die Geschichte als Erlebenszeugen zeitnah im Netz, das so leicht nichts „vergißt“.
[2] FAZ Dienstag, 31. Dezember 2013: Michael Martens, Nur mit den Wölfen geheult? – Die deutsche Südostforschung und ihre NS-Vergangenheit
2 comments