Dierk Schaefers Blog

Mißbrauch Behinderter – Ein Fall, der Fragen aufwirft

Posted in Gesellschaft, Justiz, Kriminalität, Menschenrechte, Pädagogik, Psychologie by dierkschaefer on 3. Mai 2014

»Der 14-jährige Tobias gab seiner Mutter nach einem Vormittag mit einem Betreuer zu verstehen, dass sexuelle Handlungen vorgefallen waren – aber die Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs ein und verzichtete auf eine Anklage«[1].

Hier nur kurz die Falldarstellung, wie sie sich aus dem Zeitungsbericht ergibt, Zitate in kursiv:

Tobias kann nicht sprechen. Er versteht, was man ihm sagt, verständigt sich aber nur mit Lauten, den Händen, den Augen und einem Sprachcomputer. Als seine Mutter an diesem Vormittag zurückkam, wollte er ihr zeigen, was er gelernt hatte. Er sah sie an, dann griff er sich zwischen die Beine und rieb durch die Hose an seinem Geschlechtsteil, ging zum Betreuer und fasste auch ihm in den Schritt. „Tobias hat mich strahlend und stolz angesehen“, sagt die Mutter. Er habe das als Spiel begriffenbis die Mutter das „Spiel“ unterbrach. Tobias verstand nicht und fing an zu weinen.

 

Die Mutter schaltete die Polizei ein und erhob Anzeige. Die Staatsanwaltschaft wusste nicht so recht mit Tobias’ Behinderung umzugehen und beauftragte eine Rechtspsychologin, die den Jungen einschätzen sollte. Gute zwei Stunden beobachtete sie ihn – ohne ihn nennenswert zu testen. Die meiste Zeit spielte er mit ihrem Handy. Danach sprach sie nochmals mit der Mutter und fällte ihr schriftliches Urteil auf knappen neun Seiten: Tobias könne wegen der geistigen Behinderung „keine verlässlichen Angaben“ machen.

Cornelia Orth, selbst Gutachterin und im Vorstand der Sektion Rechtspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (sagt): Fünf- bis zehnmal so viele Seiten, umfassendere Erörterungen und Vergleichsproben wären nötig für eine schlüssige Begründung, warum Tobias nicht aussagetüchtig sei – das nämlich sei sehr selten. Und bei geistig Behinderten müsse man den Anspruch senken. „Es ist ähnlich wie mit kleinen Kindern“. Zeit aber haben sich weder die Staatsanwaltschaft noch die Rechtspsychologin genommen. Deren dünne Beurteilung reichte der Behörde schließlich, um auf eine Anklage zu verzichten – trotz all der Hinweise auf einen möglichen Missbrauch.

Soweit der Fall, und nun zu den Fragen

1. Die Justiz

Hier wurde die Sorgfaltspflicht verletzt. Die Staatsanwaltschaft hat den bequemen Weg gewählt, einen komplizierten Fall vom Tisch zu bekommen. Sie war nicht in der Lage oder nicht willens, die Dürftigkeit des Gutachtens zu erkennen. Genauer noch: Sie hat von Beginn an, schon bei der Auswahl der Gutachterin, sachunangemessen entschieden und nicht erkannt, daß auch ein Mensch mit Behinderung vor dem Gesetz gleich sein sollte, auch wenn es schwieriger ist, mit ihm zu reden. Fremdsprachlern stellt man ja auch einen Dolmetscher, weil dies zu den Grundrechten gehört, nämlich einem Verfahren folgen und sich selbst verständlich machen zu können. Das Denken, nach dem Inklusion Aufwand und Kosten verursachen darf, ist bei dieser Staatsanwaltschaft noch nicht angekommen.

 

2. Die Psychologen/Gutachter

Wer je auf der Suche nach Psychologen oder Gutachtern für spezielle Fallkonstellationen war, kennt das Problem. Man muß sich selber ein Bild zu machen versuchen, wer für den jeweiligen Fall infrage kommen könnte. So kenne ich es von der Suche nach speziell qualifizierten Traumatherapeuten, aber auch von der Suche nach Therapeuten, die sich mit Menschen mit geistiger Behinderung auskennen. Es gibt nur Selbstauskünfte, aber keine unabhängigen Qualifikationshinweise, verbunden mit der Verpflichtung zu einschlägiger Fortbildung, wie wir es immerhin bei den Fachanwälten haben. Hier ist der Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen aufgerufen, Transparenz zu schaffen[2]. Bis dahin können sich Staatsanwaltschaften und Gerichte darauf berufen, jeden psychologischen Gutachter nach eigenem Gusto für qualifiziert zu halten.

 

3. Nun kommt der heikelste Punkt. Darum eine Vorbemerkung: Nach dem Zeitungsbericht gehe ich davon aus, daß ein Mißbrauch stattgefunden hat und daß er sanktioniert gehört. Daß die Staatsanwalt hier nicht mit der nötigen Sorgfalt ermittelt hat, ist nicht hinnehmbar, ist skandalös. Unabhängig davon ist zu fragen, ob die Mutter nicht für die größere Verstörung gesorgt hat. „Tobias hat mich strahlend und stolz angesehen“, sagt die Mutter. Er habe das als Spiel begriffen … Es wäre in einem Fall wie diesem vielleicht besser gewesen, sie hätte es dabei belassen und der Lebenshilfe einen Hinweis auf ihren ehrenamtlichen Helfer gegeben.

Was mir wichtiger erscheint ist die Frage, wie wir als Gesellschaft, wie wir in den Familien mit der Sexualität von Menschen mit Behinderung umgehen. Das wird besonders schwierig, bei geistigen Behinderungen. Da können wir nicht ohne weiteres „Beglückungsprogramme“ starten. Schwierig aber auch bei Menschen mit Behinderungen, die von ihrer Mobilität her nicht in der Lage sind, ohne Hilfe sexuelle Befriedigung zu erfahren, dazu gehört auch die Finanzierbarkeit sexueller Dienstleistungen. Es scheint uns noch nicht hinreichend bewußt zu sein, daß wir von solchen Menschen eine Art Zwangszölibat erwarten, obwohl auch sie ein Recht auf sexuelle Erfüllung haben[3], denn dieses Recht gehört zu den Grundrechten, niedergelegt in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“. „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen wurden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, darunter Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“[4] Diese Frucht der Aufklärung stieß und stößt zwar immer noch auf den Widerstand von Religion und Kirche, doch das sollte uns nicht abhalten, sie einzufordern, auch für Menschen mit Behinderung, soweit diese es wollen.

 

 

[1]http://www.derwesten.de/region/rhein_ruhr/rechtspsychologin-keine-verlaesslichen-angaben-page2-id9296135.html

[2]Unabhängig davon: Hat man schließlich einen vermutlich qualifizierten Menschen gefunden, so stößt man oft (meist?) auf eine Warteliste von bis zu zwei Jahren.

[3] Helmut Jacob, Dierk Schäfer, Unfreiwillig im Zölibat, wird demnächst veröffentlicht.

[4] Hervorhebung vom Verfasser