Dierk Schaefers Blog

»Ich will, anstatt an mich zu denken, …

Posted in Politik, Psychologie, Theologie by dierkschaefer on 13. März 2012

… ins Meer der Liebe mich versenken«.

Es ist schon sehr interessant, daß sich – soweit ich sehe – anläßlich des jüngsten Großen Zapfenstreichs niemand für den Text interessiert hat. Man las zwar vom Kommando »Helm ab zum Gebet“, doch was da, wenn auch ohne Worte, gebetet wurde, hat sich wohl kaum jemand angeschaut. Dem Musikstück ist eine Liedstrophe von Gerhard Tersteegen unterlegt. »Ich bete an die Macht der Liebe« lautet die erste Zeile, die auch dazu geführt haben dürfte, daß sie gern bei Eheschließungen verwendet wird.

Doch bleiben wir zunächst bei »ich will, anstatt an mich zu denken«. Das paßte vorzüglich auf den Geehrten des letzten Zapfenstreichs; ich will darauf nicht weiter eingehen. Doch abgesehen von dieser besonderen Peinlichkeit ist zu fragen, ob die sonst mit dem Großen Zapfenstreich bedachten Personen diesem Anspruch gerecht werden. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch generell muß man fragen, ob diejenigen, die bis zu einer Position gelangt sind, in der man mit Zapfenstreich geehrt wird, mit einer solchen selbstlosen Maxime überhaupt dorthin gelangen konnten. Wir wissen ja, daß „Minister“ eigentlich „Diener“ bedeutet, der „Ministrant“ erinnert noch an diese untergeordnete Funktion. Minister und andere „Großkopfete“ treten aber anders auf, außer wenn sie medientauglich Kinder streicheln. Auf einer Veranstaltung zur Berufsethik in der Polizei sagte ein Polizist aus dem Plenum: Das habe man gern, mit den Ellenbogen an die Spitze gekommen zu sein und sich dann umdrehen und Berufsethik predigen. Manche Industrie-Magnaten wurden und werden ja auch im Alter milde und setzen sich mit wohltätigen Stiftungen ein Denkmal, das ihre vorhergegangenen  Praktiken in ein versöhnlichendes Licht taucht. Ein Polizeiarzt kannte dafür den Spruch: „Wird die Hure alt, wird die Hure fromm.“ Und damit sind wir wieder bei der religiösen Dimension und schauen uns den ganzen Liedvers an:

„Ich bete an die Macht der Liebe,
die sich in Jesus offenbart;
Ich geb mich hin dem freien Triebe,
wodurch ich Wurm geliebet ward;
Ich will, anstatt an mich zu denken,
ins Meer der Liebe mich versenken.“

Das  ist religiöser Edelkitsch. Doch was ist Kitsch? Andere Sprachen haben kein eigenes Wort dafür, manche benutzen das deutsche.

»Kitsch steht zumeist abwertend gemeinsprachlich für einen aus Sicht des Betrachters minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruck. In Gegensatz gebracht zu einer künstlerischen Bemühung um das Wahre oder das Schöne, werten Kritiker einen zu einfachen Weg, Gefühle auszudrücken, als sentimental, trivial oder kitschig.«

http://de.wikipedia.org/wiki/Kitsch

Ist das „Gebet“ also Kitsch?

Die Strophe beginnt gleich sehr bombastisch mit der Macht der Liebe. Angebetet wird sie und damit auf den Altar erhoben. Dieser hohe Ton muß durchgehalten werden; der Verweis auf Jesus dient dazu. In ihm hat sich diese Macht der Liebe offenbart. Denn »keiner hat eine größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für die Seinen« (Joh 15,13).  Wer das Zitat in eine Suchmaschine eingibt, wird sehen, in welch illustrer Gesellschaft der Spruch Anwendung findet. Er begegnet uns auch häufig auf Denkmälern für die Gefallenen – zum Trost für die  Kriegshinterbliebenen – und kaum jemand hat darüber nachgedacht, wie das die Hinterbliebenen auf der Gegenseite sehen – doch die werden ja zumeist mit vergleichbaren Heroisierungen abgespeist, über denen sie das Nachdenken vergessen sollen. Mit Nachdenken hat es Tersteegen ohnehin nicht. So setzt er die Macht der Liebe über Jesus, also auch über Gott. Daß hier in der Hierarchie etwas nicht stimmt, wird nicht reflektiert.

Auch in der nächsten Zeile stimmt die Logik nicht: »Ich geb mich hin dem freien Triebe«. Wenn zur freien Entscheidung für die Hingabe ein Trieb tritt, ist das wohl eher dem Reim geschuldet als einer naturnahen Vorstellung vom Triebleben. Auch theologisch ist diese Konstruktion fragwürdig, weil willentliche Hingabe eine Mitwirkung des Menschen beim Gnadenakt Gottes einschließt. Doch es ist tröstlich, daß selbst ein Wurm sich für derart wirkmächtig erklärt. Wahrscheinlich jedoch ist nicht er es, sondern Gott, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist (2. Korinther 12,9).

Und so kommt es zum Finale: nicht an sich denken, sondern ins »Meer der Liebe sich versenken«. Das ozeanische Gefühl – es überschwemmt den Rückblick der Geehrten und der mit ihnen Fühlenden. Und warum sollen nicht auch frisch Vermählte sich beseelt im Meer der Liebe fühlen? Sie werden wohl nicht wissen, daß der Autor des Textes unverheiratet blieb und dem Ideal der sexuellen Askese huldigte. http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Tersteegen

Religiöser Edelkitsch – vielfach mißbräuchlich verwendet. Und der arme Herr Jesus muß auch dafür herhalten.