Dierk Schaefers Blog

Nicht in den Akten? Dann gibt es das ja gar nicht?

Dieser Artikel ist ein Vorwort zur „Unrühmlichen Geschichte des Bodelschwingh Clans“, verfasst von Johannes Lübeck.      Link: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2021/03/text-blog.pdf

Quod non est in actis non est in mundo[1]. Die Welt ist aber größer als Akten hergeben, ein Blick in die Zeitung reicht.

Sogar wir stehen in Akten, – beim Standesamt oder in Flensburg. Uns gibt es schon. Doch wen interessiert das – aktenmäßig? „Unvergessen“ steht nur in der Todesanzeige bei uns Nobodies. Wären wir Somebody, sähe das anders aus. Für Luther, zum Beispiel, interessiert sich auch die Nachwelt und macht den Inhalt der elterlichen Abfallgrube zum Studienobjekt und damit aktenkundig.[2] Gerichtsakten müssen schon von besonderen Delinquenten berichten, damit die Akten jemanden interessieren.[3]

Akten können aber auch lügen, sie sind nur bedingt verlässlich. Historiker, besonders die Kirchenhistoriker kennen das. Berühmt ist die Akte von der Kostantinischen Schenkung[4]. Ein Fake, wie wir heute sagen. Sie wurde erstellt, um die Rechte der der römisch-katholischen Kirche zu dokumentieren, territoriale Ansprüche und die Führerschaft in der Christenheit gegenüber Byzanz. Dazu eignete sich als Garant vorzüglich Konstantin, der erste christliche römische Kaiser. Der Fake flog 1440 auf, wurde aber noch lange gepflegt. Auf die frommen Vordatierungen des Gründungsdatums vieler Klöster will ich gar nicht erst eingehen. Im Mittelalter dachte man anders; „bei Urkunden kam es auf den (plausiblen) Inhalt, nicht die Herkunft an.“[5] Von dieser Ansicht sind wir weit entfernt.

Um Akten geht es auch in der gegenwärtigen Diskussion über Misshandlungen und Missbräuche von Kindern und Jugendlichen. Doch wer dokumentiert das schon? Sollte es aber Zugänge zum Problemkreis geben, z.B. in Personalakten, in Praktikantenberichten o.ä., dann unterliegen sie Zugangsbeschränkungen, sie sind „unauffindbar“, schon vernichtet oder purgiert. Oder bereits ihre Anlage wurde amtlich verhindert:

„Bei der Polizei: N.L. ist 21, geht zur Polizeiwache [der Ort wird genannt], erzählt seine Geschichte wird rausgeworfen und verprügelt. Das Resultat: aufgeschlagene Knie. Der Polizist heißt P.B. [Der Name wird genannt]“. … „Der Unglauben der Leute rühre meist daher, dass diese Vorkommnisse und das von N.L.  Erlebte so monströs sind und unglaublich klingen. So erkläre sich auch die Reaktion des Polizisten, der N.L. aus dem Polizeirevier hinauswirft.“[6] Später, in vergleichbarem Zusammenhang: „Immer des. I soll kein Schmarrn erzählen. Des gibt´s doch net, sowas machen doch die nicht.“[7]

Zuweilen gibt es auch Zufallsfunde. So stieß der Kirchenhistoriker Hubert Wolf im Vatikan auf eine Inquisitionsakte, die (auch zufällig?) falsch eingeordnet war.[8]

Wer sucht, stößt auch auf Zeugenaussagen von Betroffenen.[9] Etwas vorschnell hatte ich die Ohrenzeugen der Augenzeugen als Quelle genannt[10]. Ich befragte einen Kirchenhistoriker dazu, weil ich wissen wollte, ob die aktuelle Missbrauchsdiskussion, davor aber noch das Schicksal der Heimkinder, in den Focus der historischen Forschung kommt oder gar schon gekommen ist. Das Gespräch war ernüchternd. Man ersticke ohnehin im Material, so viel sei es in der neueren Zeit geworden. Man nehme nur, was regelrecht dokumentiert sei, Zeitungs­artikel oder gar das Internet seien keine zuverlässigen Quellen. Kurz: Nur was schwarz auf weiß archiviert ist, verdient das Vertrauen des Historikers. So wartet er auf die absehbare Freigabe der Akten von Hermann Kunst[11], die Stoff für mindestens zwei Dissertationen bieten würden.

Da haben Zeugen vom Hörensagen keine Chance, so glaubwürdig sie selbst auch sein mögen, auch wenn ihre Aussagen glaubhaft sind. Wenn ihre Berichte noch dazu Mächtige vom Thron stürzen könnten, umso mehr. Bethel und die Bodelschwinghs[12] sind solch ein Fall. Bethel zählt wie die Bodelschwings zu den Leuchttürmen der evangelischen Welt in Deutschland.[13] Ihre Verdienste sind auch nicht zu bestreiten. Doch wo Licht ist ….

Lübeck schreibt – und ich habe es als Motto vorangestellt: „Man wird schon zum Säulenheiligen, wenn man ein erfolgreicher Spendeneintreiber ist, der wenigstens einen großen Teil des gesammelten Geldes einem guten Zweck zuführt und den Rest für ein angenehmes Leben und die Mehrung des eigenen Ruhmes verwendet. Bei den Katholiken kann man damit gar zur Reinkar­nation des Erlösers werden.“[14]

Doch so etwas gefällt dem „Clan“ nicht. Er will seine „Heiligen“ nicht beschmutzt sehen. Lübeck hat seine Erkenntnisse aber offenbar nicht erfunden. Er berichtet, woher sein Wissen kommt und schreibt:

Es ist ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, im Alleingang ein historisches Thema zu bearbeiten, zu dem kaum noch belastbare schriftliche Quellen existieren bzw. zugänglich sind. Erschwerend kommt hinzu, dass beim hier gewählten Gegenstand im Hintergrund mit den Von Bodelschwinghschen Stiftungen eine Einrichtung steht, die sich seit jeher auch augenscheinlich fundierter Vorwürfe vehement und erfolgreich zu erwehren weiß, obwohl in ihrer Verantwortung in großem Ausmaße Akten ausgedünnt bzw. vernichtet wurden, …

An anderer Stelle: Wo aber Archive wiederholt – unter welchen Gesichtspunkten auch immer – entsorgt, gezielt vernichtet, „ausgedünnt“ und/oder nur selektiv zugänglich gemacht wurden und werden, erwächst dem Historiker wie dem Journalisten die Pflicht, das Erinne­rungsvermögen von Zeitzeugen auszuschöpfen und Quellen zu erschließen, die nicht den Weg in Archive gefunden haben. Das gilt in besonders hohem Maße für die Forschungsarbeiten, die sich mit dem Wirken von „Helfern der Menschheit“ und den mit ihren Namen verbun­denen Einrichtungen befassen und die ihre Archive eigenverantwortlich zusammenstellen, ordnen, verwalten und öffnen.

Lübeck zeigt sich hinsichtlich der Quellenlage problembewusst; er hat keine erkennbaren Eigeninteressen und kann als glaubhafter „Zeuge vom Hörensagen“[15]angesehen werden.

Ohnehin: Als ehemaliger Polizeipfarrer und studierter Kriminologe weiß ich, dass die Kriminalpolizei oft nicht bis zur Realität durchstoßen könnte, wenn sie Zeugen vom Hörensagen keine Aufmerksamkeit (aber keinen blinden Glauben) schenken würde. Historiker sollten das beherzigen.[16]


[1] https://www.proverbia-iuris.de/quod-non-est-in-actis-non-est-in-mundo/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[2] „Erstaunlich gut erhaltene Speisereste der Luthers habe man in der Abfallgrube gefunden, …. Einmalige Belege, die zeigen, wie die Luthers wirklich gelebt haben.“ https://www.deutschlandfunk.de/luther-ausstellung-in-mansfeld-museum-ohne-gaeste.886.de.html?dram:article_id=456882 Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[3] August Gottlieb Meißner (1753-1807) schrieb ganz richtig: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“ Skizzen: Erste und zweite Samlung, S. 129, Aufgerufen. Freitag, 5. März 2021

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinische_Schenkung , Dazu auch die Pseudoisidoren https://de.wikipedia.org/wiki/Pseudoisidor Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[5] Anm. 4

[6] Aus einem Zeugenbericht vom 9.4.2019 über besonders schweren Missbrauch, der Name des Zeugen ist mir bekannt, der komplette Bericht von zwei Betroffenen liegt mir vor.

[7] Erlebenszeugen können , seitdem ähnliche Vorkommnisse bekannt sind, auch bei Richtern auf offene Ohren stoße. Hier war es eine Richterin vom Sozialgericht Darmstadt, die einem Opfer eine umfangreiche Rente nach dem OEG zusprach. Das Urteil hat Aufsehen erregt und wird anderen Opfern helfen. In meinem Blog wurde das Urteils erstmals veröffentlicht. https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/oeg-urteil/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021

[8] Das Konklave und die Nonnen von Sant’Ambrogio, 12. März 2013, https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/03/12/das-konklave-und-die-nonnen-von-santambrogio/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[9] Doch danach muss man schon suchen. Ulrike Winkler und Hans-Walter Schmuhl haben nicht gesucht, sondern nur die Aktenlage wiedergegeben (Das Stephansstift in Hannover (1869-2019), Schriften des Instituts für Diako­nie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Band 33, Verlag für Regional­geschichte, Bielefeld 2019). Hier ist die Wirklichkeit aber nachweislich deutlich umfangreicher als der Aktenbestand des Stephans­stiftes. Schon nach einer simplen Google-Suche hätten sie nicht einen solchen Jubelband zum Jubiläum vorlegen können. Doch wissenschaftlich seriöse Suche gehörte wohl nicht zu ihrem Auftrag. Die beiden Wissenschaftler werden so oft wegen ihrer Unabhängigkeit gelobt, dass man misstrauisch wird. Ich rezensiere gerade diese Studie und werde Wert auf das legen, was nicht in der Studie steht und weitaus interessanter ist, als diese. Grundsätzlich dazu: https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/01/16/was-heist-und-zu-welchem-ende-arbeitet-man-geschichte-auf/ und https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/01/23/gibt-es-einen-widerspruch-zwischen-auftragsforschung-und-wissenschaft/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021

[10] Wenn die Ohrenzeugen der Augenzeugen verstummt sind, beginnt die Geschichtsschreibung. https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/09/09/wenn-die-ohrenzeugen-der-augenzeugen-verstummt-sind-beginnt-die-geschichtsschreibung/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[11] Der Militärbischof D. Hermann Kunst wird im vorgestellten Dokument 28-mal genannt. Z.B.: „Zu denen, die sich bezüglich des Aufbaues von Espelkamp mit fremden Federn schmücken und/oder schmücken lassen, zählt Erich Hampe schließlich Ehrgeizlinge wie den späteren Militärbischof D. Hermann Kunst, Karl Pawlowski vom Johanneswerk Bielefeld, Eugen Gerstenmayer als allmächtigen Chef des Ev. Hilfswerkes und Präses Wilm.“ Ob Informationen dieser Art wohl in den anderen Akten vermerkt sind?

[12] Stammwappen derer von Bodelschwingh https://de.wikipedia.org/wiki/Bodelschwingh_(Adelsgeschlecht)#Bekannte_Familienmitglieder

[13] Fast könnte man Bethel unter die deutschen „Erinnerungsorte“ einreihen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/06/02/erinnerungsorte/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021

[14] Aus einem Mail von Lübeck an mich, Sonntag, 14. Februar 2021. Es ging um eine Veröffentlichung über Pater Werenfried van Straaten, bekannt als „Speckpater“ vom 10. Februar 2021, Erschienen in Christ & Welt: Raoul Löbbert und Georg Löwisch, Gut und Böse, https://www.zeit.de/2021/07/pater-werenfried-von-straaten-held-vergewaltigung-vatikan Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Zeuge_vom_H%C3%B6rensagen Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021

[16] Sie sollten auch den Eröffnungsvortrag des Hirnforschers Wolf Singer zum 43. Deutschen Historikertag beachten: „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft.“ http://www.brain.mpg.de/fileadmin/user_upload/images/Research/Emeriti/Singer/Historikertag.pdf

Hitlers Nachlaßverwalter

Posted in Geschichte, Gesellschaft, Justiz, Kriminalität, Politik, Soziologie by dierkschaefer on 1. Februar 2013

Der große Raub, über den die FAZ heute berichtet, ist ja nur ein Beispiel. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/beutekunst-der-grosse-raub-12046262.html

  • Der Freistaat Bayern wollte und will anscheinend immer noch die Beutekunst Hitlers behalten und stattet die Provenienzrecherche personell entsprechend dürftig aus. Daß das ©-Recht an Hitlers Mein Kampf so lange gehütet wurde, daß erst mit dem Ablauf der Rechte es zu einer kritischen Ausgabe kommt, ist nur die Kehrseite des verqueren bayrischen Umgangs mit der Nazi-Erbschaft.
  • Adenauer beschäftigte Hans Globke. Er gilt »als Paradebeispiel für die personelle Kontinuität der Verwaltungseliten zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der frühen Bundesrepublik Deutschland«. Es lohnt sich, nachzulesen bei: http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Globke .
  • Gestern konnten wir die Rede von Inge Deutschkron nachlesen. Sie sagte: »Das deutsche Volk jener ersten Nachkriegsjahre wurde beschützt von seinem ersten Kanzler, der im Parlament in einer Regierungserklärung behauptet hatte, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele von ihnen hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen«. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rede-im-bundestag-zerrissenes-leben-12044887.html
  • In einem der Bundesländer konnte jemand zum Ministerpräsidenten gewählt werden, der wegen seiner Nazi-Belastung nur per Wahl wieder in ein Amt gelangen konnte.
  • Jahrelang nach dem Krieg wurden Psychiatrieopfer von Psychiatern der Tätergruppe begutachtet.
  • 1952 schunkelte Deutschland zum Karnevalsschlager Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel, weil wir so brav sind, weil wir so brav sind. Aber ja doch!

Leider ging es im Nazi-Nachfolgestaat weiter.

http://de.wikipedia.org/wiki/Einsatzgruppen-Prozess :

Die Zentralstelle spielt auch im Buch von Ferdinand von Schirach eine Rolle: Der Fall Collini. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Fall_Collini . »Der Roman behandelt die Verjährung von Beihilfetaten zu Morden aus der Zeit des Nationalsozialismus, die durch das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) 1968 rückwirkend auf das Jahr 1960 eingeführt wurde. Durch das von Eduard Dreher initiierte Gesetz verjährten Morde durch Schreibtischtäter schon nach 15 Jahren, weil die Taten von der Rechtsprechung nur als Beihilfe eingeordnet wurden.« » Eduard Dreher war ein deutscher Jurist und hoher Ministerialbeamter in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Zur Zeit des Nationalsozialismus war Dreher erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck und stieg in den 1960er Jahren zu einem der einflussreichsten westdeutschen Strafrechtler auf. Dreher ist durch seinen Kommentar zum Strafgesetzbuch bekannt geworden«. http://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Dreher . Ein Altnazi half Altnazis. Die Abänderung des § 50 StPO durchlief, so nach von Schirach, den Bundestag, ohne daß es anscheinend jemand so recht bemerkt hatte – oder hatte bemerken wollen. Nun wurde es möglich, »daß bestimmte Mordgehilfen nur wie Totschläger und nicht wir Mörder zu bestrafen sind. Und das hieß, daß ihre Taten plötzlich verjährt waren. Die Täter kamen frei«. Dieses bedrückend-spannende Kapitel deutscher Nachkriegs-Nazi-Geschichte hat der Enkel des „Reichsjugendführers“ geschrieben http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_von_Schirach und ist jedem zu empfehlen, der ermessen möchte, wie bleiern die Nachkriegszeit gewesen ist. Sie wirkt immer noch nach. Selten wird Geschichte so lebendig. Ich habe das Buch „auf einen Sitz“ durchgelesen.