Der amtliche Umgang mit den von Armut Betroffenen
Wer die Berechnungsgrundlagen für den Empfang von Hartz IV oder von Grundsicherung kennt, wird sich über das Schreiben „An die mit schulentlassenen Minderjährigen der öffentlichen Erziehung belegten Heime im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland“ vom 20.2.1962 nicht wundern. Martin Mitchell/Australien hat es gepostet[1] und gibt als Quelle eine „Photokopie einer mit der Schreibmaschine geschriebenen Durchschrift dieses offiziellen Dokuments aus dem Jahre 1962“ an. Zwar kannten die damals in Behörden gebräuchlichen mechanischen Schreibmaschinen, wenn auch elektrisch betrieben, keinen Fettdruck, dennoch gehe ich von der Seriösität der vorgelegten Abschrift aus. Denn der Inhalt ist im Detail zeittypisch und im Duktus der bis heute vorherrschende Grundzug der finanziellen Unterstützung einzelner Personen aus öffentlichen Kassen unter Hinzuziehung der Ressourcen der Betroffenen. Außer den Summen und der Währung hat sich im Prinzip nichts geändert.
Warum? Die Verwendung öffentlicher Gelder für die privaten Zwecke Einzelner bedarf der Begründung vor der Öffentlichkeit. Im Unterschied zur offenen und verdeckten Parteienfinanzierung (die Öffentlichkeit wählt diese Parteien und die Wahlbeteiligung ist immer noch erstaunlich hoch), im Unterschied dazu erfolgt auf den unteren staatlichen Ebenen die Unterstützung Bedürftiger korrekt bürokratisch[2]. Der durchschnittliche Steuerzahler würde auch mit Recht darauf verweisen, dass er für alles, was das Lebensnotwendige übersteigt, nicht aufkommen will.
Insofern ist das vorgelegte Zeitdokument in keiner Weise brisant, sondern belegt allenfalls die Schnörkellosigkeit mit der auch damals die Bürokratie ihre Regelungen verordnete.
Eins hat sich aber doch geändert und beeinflußt das Denken über Angemessenheiten. Damals, also im Jahr 1962 wurde es nach und nach üblich, dass erwerbstätige Jugendliche daheim kein Kostgeld mehr abgeben mußten. Dabei war die elterliche Begrenzung auf ein Kostgeld schon eine Errungenschaft und dem gestiegenen Lebensstandard zuzuschreiben, dem der Eltern und den Ansprüchen der Jugendlichen; die einen konnten es sich leisten, ihren „Kindern“ allenfalls noch einen Bruchteil für Kost und Logis abzufordern, und die anderen drängten auf finanzielle Unabhängikeit und Teilnahme an der Konsumgesellschaft. Vor dieser Zeit gaben die Lehrlinge so gut wie alles Geld daheim ab – bis sie auszogen.
Im Begleitmail von Herrn Mitchell zeigt er sich verwundert dass „in den letzten drei Tagen, seitdem dies erstmalig online steht“, sich, auch was dieses Thema betrifft, kaum jemand dafür interessiert“ habe.
Ja, wieso denn auch?
[1] http://www.ehemalige-heimkinder-tatsachen.com/phpBB3/viewtopic.php?f=3&t=109&p=795#p795
[2] Dass es auch dabei „menschelt“, meist negativ, belegt der Bericht einer Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur: http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/hartz-iv-jobcenter-mitarbeiterin-erzaehlt-vom-alltag-im-arbeitsamt-a-1006626.html Wer die Abfertigung von Antragstellern in Arbeitsagenturen kennt, erfährt in diesem Artikel jedoch nichts neues. In Sozialämtern und wohl auch Arbeitsagenturen geht es zuweilen aber auch freundlicher zu. Ich kann hier jedoch nicht quantifizieren.
Hartz IV hat eine Gesellschaft der Angst geformt
»Der Niedriglohnsektor, das Haupteinfallstor für Erwerbsarmut und spätere Altersarmut, war politisch gewollt. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat im Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos stolz verkündet, „einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa“ geschaffen zu haben. Hartz IV war ein Elitenprojekt. Damit sollte der Markt stärker in den Mittelpunkt gerückt und der Sozialstaat beschränkt werden«[1].
Der gute Butterwegge, so kenne ich ihn. Und natürlich mit Werbeblock. Trotzdem sehr sympathisch. Man sollte das Interview lesen. Ob man es bei den Wahlen beherzigen kann, bezweifle ich. Die Politik hat Ideen à la Butterwegge nicht im Angebot.
[1] „Hartz IV hat eine Gesellschaft der Angst geformt“ http://www.aachener-nachrichten.de/news/politik/hartz-iv-hat-eine-gesellschaft-der-angst-geformt-1.961585#plx1811271972 Donnerstag, 20. November 2014
Wie entschärft man eine Bombe?
Die Nachricht ist brisant. Die „Mitteldeutsche Zeitung“ meldet unter Bezug auf „DIE WELT“ in der Schlagzeile: »Gut jede dritte Klage gegen Hartz-IV-Sanktionen erfolgreich«[1] und nennt im Text 42,5 %. Wenn man schon griffig formulieren will, hätte man besser von „fast der Hälfte“ sprechen müssen.
Also schaut man sich in der WELT um. Deren Schlagzeile verkündet lediglich » Erfolgreiche Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen«. Im Einleitungstext heißt es über die Arbeitslosen: »Die Gerichte entscheiden oft zu ihren Gunsten«[2]. Wie oft, steht immerhin im Text. Dann wird die Aufmerksamkeit auf die Gerichte gelenkt: »Für die Gerichte sind die vielen Klagen gegen Hartz IV Schwerstarbeit. Denn Arbeitslose reichen nicht nur Klagen gegen verhängte Sanktionen ein, viele ziehen auch gegen ihre generellen Hartz-IV-Bescheide vors Gericht. Die Zahl der Widersprüche gegen Hartz-Bescheide stieg bis Ende 2013 auf 193.966«.
Die armen Gerichte und die bösen, unverschämten Arbeitslosen! Wie ist denn so etwas überhaupt möglich?
Völlig klar, man muß es nur wissen: die »Staatskasse kommt für Anwaltskosten auf. Die Klagewut [sic!] hat neben berechtigten Einwänden häufig auch andere Gründe. So kostet der Gang vors Gericht Arbeitslose nichts, da ihnen in der Regel Prozesskostenhilfe zusteht. Dadurch sollen auch Bedürftige für ihre Rechte vor Gericht ziehen können. Die Staatskasse kommt dann für die Anwaltskosten auf, wenn das Gericht die Hilfe gewährt.«
Die kostenfreie Klagewut also treibt die Zahlen hoch. Doch nicht die Klagewut allein, denn »Allerdings werden Hartz-IV-Empfänger deshalb auch häufig von Anwälten zu Klagen angetrieben, die mit den Verfahren abkassieren wollen. Zwar bekommen Anwälte bei den Verfahren nicht viel Geld aus der Staatskasse. Aber massenhaft betrieben, kann sich das Geschäft mit Hartz-IV-Klagen für Anwälte durchaus lohnen«.
Das schreit doch förmlich nach Eindämmung und Verschärfung, denn dieser Flut muß Einhalt geboten werden. Es könnte ja sein, daß brave Hartz IV Empfänger, die bisher noch nicht aufgemuckt haben, angesichts der Klageerfolge sich auch von einem hungrigen Anwalt krallen lassen. Da gibt es schon beruhigende Vorhaben: »So würde die Behörde gerne schärfere Sanktionen aussprechen und bei wiederholtem Versäumen von Terminen Arbeitslosen sofort das Geld streichen. Eine Arbeitsgruppe berät derzeit, ob der Vorschlag umgesetzt werden soll«.
Der Link bei den „schärferen Sanktionen“ federt die Vorschläge wieder ab: »Ein Sprecher des Arbeitsministerium sagte, die Rechtsvereinfachung habe „das Ziel, weniger Bürokratie und mehr Zeit für die Betreuung der Hilfebedürftigen zu schaffen. Es ist explizit nicht Ziel der Änderungen, den Leistungsbezug restriktiver („härter“) zu gestalten.“«[3]
„Mehr Zeit für die Betreuung der Hilfebedürftigen“ – da können die bisher noch fügsamen Arbeitslosen also ruhig schlafen – bis sie hart aufknallen.
Der Artikel zitiert auch Katja Kipping mit den Worten: »„Die Sanktionspraxis führt zu massenhaften Rechtsverstößen. Grundrechte kürzt man nicht. Die Sanktionen gehören abgeschafft“«2. Recht hat sie. Aber sie spricht ja nur für die LINKEN. Da wissen wir doch gleich, wo das her kommt.
So entschärft man eine Bombe.
[1] http://www.mz-web.de/newsticker/bericht–gut-jede-dritte-klage-gegen-hartz-iv-sanktionen-erfolgreich,20864654,27501548,view,asTicker.html
[2] http://www.welt.de/politik/deutschland/article129101481/Erfolgreiche-Klagen-gegen-Hartz-IV-Sanktionen.html
[3] http://www.welt.de/wirtschaft/article127224378/Arbeitsministerium-tueftelt-an-neuer-Hartz-Reform.html
Beim wem am besten Sparen?
Sondergesetze für Arme
»In den letzten Jahren hat es wenig kollektive Widerstandsformen gegeben. Dass es keine gesellschaftliche Reaktion darauf gibt, wenn die Bildzeitung Erwerbslosenaktive als Sozialschmarotzer abqualifiziert, ist auch ein Symptom dafür, wie weit die Ideologie der Abwertung von einkommensarmen Menschen schon in der Gesellschaft verankert ist. Dafür ist allerdings die Zahl der Menschen gewachsen, die sich zu ihren Terminen am Amt haben begleiten lassen. Es wird sich zeigen, ob die geplanten Verschärfungen tatsächlich zu einem neuen Aufschwung von Erwerbslosenprotesten führen«.[1]
siehe auch: http://altonabloggt.com/2014/02/22/ausbau-der-gefahrenzone-hartz-iv/
[1] http://www.heise.de/tp/news/Sondergesetze-fuer-Arme-2222112.html
Nicht mit Ruhm bekleckert …
… hat sich das Jobcenter im Kreis Pinneberg mit seinen Spartipps für Hartz-IV-Empfänger.[1]
Tolle Vorschläge, die vielfach nur an der Lebenswirklichkeit der Hartz-IV-Empfänger vorbeigehen. Vieles kann man beim Discounter tatsächlich billiger kaufen. Doch häufig sind die Discounter von den Sozialwohnungen aus nicht so leicht erreichbar. Es gibt Menschen in unserem Land, die sich die Monatskarte für öffentliche Verkehrsmittel vom Munde absparen müßten und sich dann für den Kauf von Eßwaren entscheiden. Mit der Monatskarte könnten sie allerdings zum Discounter fahren und mit der 12er Packung H-Milch billige Wasser unterm Arm zurück. Und die andere Hand? Bisher hielten sie damit den Six-Pack, nein, nicht Bier, sondern das billige Mineralwasser in den blauen Flaschen. Nun haben sie gelernt, daß Leitungswasser auch gut schmeckt und haben die Hand frei, um ihre Monatskarte vorzeigen zu können. Damit bricht nun eine richtig schöne neue Welt für die Hartz-IV-Empfänger an und die Arbeitsagenturen lernen vielleicht als Gegenleistung, ihre Kunden als Kunden zu behandeln und Erstanträge zügiger zu bearbeiten oder einen Vorschuß zu geben. Denn bis zur ersten Zahlung sind die Hartz-IV-Empfänger wirklich und hauptsächlich auf Leitungswasser angewiesen, wenn sie nicht einen netten Menschen haben, der die Durst(!)strecke überwinden hilft.
Und von der rechtzeitigen Anpassung der Hartz-IV-Sätze an die Teuerung ist überhaupt nicht die Rede. Man sollte sie koppeln an die Steigerungsrate der Abgeordnetendiäten. Doch das kommt nie, nie, nie.
[1] Information von http://www.heute.de/M%C3%B6bel-versteigern-und-Vegetarier-werden-28904768.html , dort auch der Liunk zur Broschüre
Zivilcourage
Zu meinem nur als Link[1] geposteten Hinweis wurde mir ein weiterer Fall mitgeteilt.[2] Dort geht es um Jobcenter und ähnliche Einrichtungen im Zuge der Hartz IV-Umsetzung.
Ich kann bestätigen, daß es vorkommt, daß Hartz IV-Empfänger zeitweise hungern müssen, weil ihnen nicht schnell genug geholfen wird – und ohnehin sind die Hartz IV-Sätze unzureichend, weil sie nicht regelmäßig der Teuerung angepaßt werden. Zudem basieren sie auf dem Preisniveau von Discountern, die nur selten in der Nähe von Sozialwohnungen zu finden sind.[3] Man sollte die Steigerung der Abgeordnetendiäten an die Steigerung der Sozialhilfesätze koppeln.
Aus eigener Anschauung kenne ich zwei Hartz IV Einrichtungen. In der einen – in einer westdeutschen Großstadt – gibt es zwar keine technische Sicherheitsschleuse, aber Sicherheitspersonal, das den Zugang zu den Mitarbeitern kontrolliert. In der anderen, in einer westdeutschen Mittelstadt, werden die Gespräche mit den „Kunden“ in einem Großraumbüro geführt, das zugleich Wartezone ist. Dort gibt es keine feste Zuordnung zu einem bestimmten Mitarbeiter. Bei einem erneuten Besuch muß sich der Kunde mit seinen doch recht intimen Anliegen vor allen Ohren auf eine andere Person einstellen. Die Vermittlungsstellen sind, soweit mir bekannt ist, und das sind mehr als die zwei erwähnten, nur über kostenpflichtige Service-Nummern erreichbar.
Der Sicherheitsbedarf der Mitarbeiter ist einerseits verständlich, wäre aber andererseits geringer, wenn die Kunden als Kunden behandelt und nicht als lästige Antragsteller hingehalten würden.
[3] Sozialwohnungen wären übrigens ein weiteres Thema.
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