Was für ein Leseabenteuer!
Devianz als Schicksal? – Rezension
von Markus Löble1
„Dust in the wind
All we are is dust in the wind“
Rockgruppe Kansas (1977)
Dierk Schäfer, Theologe und Psychologe, ehemaliger Polizeipfarrer und Tagungsleiter der Evangelischen Akademie in Bad Boll, legt nun im Sommer 2021 mit „dem Schulz“ gleichzeitig „einen Schäfer“ vor. „Der Schulz“, das ist: Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Band 45 der Tübinger Schriften und Materialien zu Kriminologie (TÜKRIM)2
14 Jahre nach der verdienstvollen und prämiierten Heimkindertagungsreihe „Kinderkram“ der Evangelischen Akademie in Bad Boll 2007, die Dierk Schäfer als Tagungsleiter der Evangelischen Akademie organisiert und geleitet hat, liegt nun die kommentierte Ausgabe der autobiographischen Notizen „des Berufsverbrechers“ Dieter Schulz vor. Es ist das große Verdienst Dierk Schäfers, drangeblieben zu sein und trotz aller editorischer Rückschläge nun einen Rahmen für den schriftlichen Nachlass eines sehr bemerkenswerten Menschen – bemerkenswert wie wir alle (!) – geschaffen zu haben.
Was für ein Leseabenteuer! Viele versunkene Welten werden in diesem Band angesprochen und erscheinen sehr plastisch vor dem Auge der/s geneigten Leser*in. Dieter Schulz, geboren 1940 im ehemaligen Königsberg, erlebt als Kind Flucht und Vertreibung. Mutter Schulz flieht mit ihren Kleinkindern aus Ostpreußen, die Fluchterlebnisse werden sehr eindrücklich geschildert.
Dieter Schulz schrieb seine autobiographischen Notizen Jahrzehnte später in Haft. Er blickt auf eine Kindheit in Deutschland der 50er Jahre zurück. Kleine und große Fluchten werden ihn sein Leben lang von geographischen und emotionalen Nirgendwos in Heimen und später Haftanstalten zu immer weiteren Nirgendwos führen. Kindheit im Nachkriegsdeutschland heißt für ihn, meist keine Schule zu haben, dafür lernt er fließend Russisch und sich durchzuschlagen. Was das Leben pädagogisch versäumt oder anrichtet, bedeutet oft „lebenslang“ – für uns alle. Die blind machende „Hasskappe“ setzte sich Dieter Schulz schon als Kind und später immer wieder in seinem Leben auf. Heute kann Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie manches Mal positiv wirksam werden, viel mehr noch hätte damals moderne (Trauma-) Pädagogik in modernen Jugendhilfeeinrichtungen wirksam werden können. Es hat sich wirklich viel getan in den vergangenen Jahrzehnten. Auch dies ist ein Ergebnis der Lektüre.
Behutsam und kenntnisreich leitet Dierk Schäfer den/die Leser*in durch den Irrgarten der Notizen des Kriminellen Dieter Schulz. Es hätte immer auch anders kommen, anders ausgehen können. Dierk Schäfer ordnet und führt dort, wo es sein muss und schafft gerade dadurch Raum für seinen Schulz und seine Leser*innen. Raum für die vielen Welten eines wechselvollen Lebens in Ost- und Westdeutschland, in Kindheits-, Jugend- und später Erwachsenenwelten.
Natürlich wird beschönigt. Sehr kompetent und deshalb sehr hilfreich sind die Kommentare und Fußnoten des Kriminologen Dierk Schäfer, der er neben dem Psychologen und Theologen eben auch noch geworden ist. So ist „der Schulz“ eben auch „ein echter Schäfer“ geworden. Zwei Unbeugsame haben sich hier gefunden. Ein Buch, das auf dem Schnittpunkt dreier Berufe und Berufungen geschrieben wurde. Der Theologe, Psychologe und Kriminologe Schäfer führt hier zusammen, was zusammengehört. Eine im besten Sinne ganzheitliche Sicht auf einen Menschen und sein Leben, jedoch ganz ohne den Anspruch zu erheben, diesen dadurch zur Gänze zu erfassen. Wie sollte das in dieser kontingenten Welt schicksalhafter, zum Schicksal werdender Zufälle auch möglich sein?
So bleibt dies Buch wohltuend ohne Fazit, ohne Urteil, ohne Wertung und ist eine Fundgrube des Wissens, jederzeit staunend machend. Es lohnt, sich auf diese Lektüre einzulassen. Danach bleibt eigentlich nur eine Sache unverständlich. Warum wurden die autobiographischen Notizen des Dieter Schulz nicht wie geplant verfilmt oder konventionell verlegt?
Immerhin verdanken wir der Beharrlichkeit Dierk Schäfers nun einen überaus lesenswerten Band 45 der Tübinger kriminologischen Schriftreihe. Ein echter Geheimtipp für Jurist*innen, Kriminolog*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und – last, but not least – für alle Leser*innen, die sich dafür interessieren lassen, wie es einem erging, der 1940 in ein Kriegseuropa hineingeboren wurde, darin aufwuchs, sich immer wieder berappelte und bis zu seinem Tode 2019 versuchte, das Beste daraus und aus sich zu machen.
Dierk Schäfers Schulz liest sich unterhaltsam und pendelt immer wieder zwischen bodenloser Tragik und sehr lebendiger Komik. Erlebnisse von Grass’scher Drastik wechseln sich ab mit Schilderungen, z.B. eines Banküberfalls, die wie aus dem Drehbuch der guten alten Olsen-Bande anmuten. Der Tod eines Kardinals leuchtet in den enzyklopädisch kenntnisreichen Fußnoten ebenso auf wie „das Milieu“ rund um das hannoversche Steintorviertel. Wer mag da urteilen, wer den Stab brechen? Der Rezensent schließt zu diesem lebensprallen Buch mit Nietzsches Zarathustra: „War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!“
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Fußnoten
1 Dr. med. Markus Löble, FA für KJPP, Arzt für Naturheilkunde, Suchtmedizin, systemische Familientherapie (DGSF), forensische Begutachtung (DGKJP). Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Christophsbad, Göppingen
2 Dierk Schäfer: Devianz als Schicksal. Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie (TÜKRIM), Band 45, erschienen in: TOBIAS-lib-Universitätsbibliothek Tübingen, Juristische Fakultät, Institut für Kriminologie (2021). ISSN: 1612-4650; ISBN: 978-3-937368-90-0 (elektronische Version, Kostenfreier Download: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y) und 978-3- 937368-91-7 (Druckversion, 22,70 €, beim Institut für Kriminologie, z. Hd. Frau Maria Pessiu, Sand 7, 72076 Tübingen, @ maria.pessiu@uni-tuebingen.de )
Wie wird man kriminell?
Dieter Schulz ist ein Beispiel. Er wurde nicht zum Stehlen angeleitet wie Oliver Twist. Er ist Autodidakt. Erst musste er Wege finden, um in den Nachkriegswirren zu überleben. Dann geriet er auf die Abwege einer Heimkarriere – wie so manche Heimkinder, die durch ihre Heimerziehung auf der schiefen Bahn landeten.
Dieter Schulz hielt es in den Heimen nie lange aus, 28 Fluchtversuche aus insgesamt neun Heimen, und die Heime hielten ihn nicht aus. Das berichtet er seiner Autobiographie, die Kapitel für Kapitel hier im Blog erscheint.[1]
Im nächsten Kapitel sehe ich einen wichtigen Wendepunkt. Bisher war er sich nicht voll bewußt, was er angestellt hat, er war ja auch ein noch nicht schuldfähiges Kind. Selbst die Idee mit dem über die Straße gespannten Seil kam spontan aus der Situation heraus. Allerdings verursachte er damit einen schweren Unfall, der auch hätte tödlich ausgehen können.
Doch nun ist Bambule angesagt. Mit kühler Überlegung sorgt er dafür, dass seine Kameraden das Heim abfackeln und er sich zeitgleich bei seinen „Erziehern“ beschwert, also ein Alibi hat. Das ist für mich der Wendepunkt zu einer kriminellen Karriere: Die coole Planung eines Delikts. Später wird dann bei Dieter Schulz die Kriminalität zu einem Geschäftsmodell für ihn als Kleinunternehmer. Die Nazis hätten ihn als Berufsverbrecher[2] abgestempelt und mit einem grünen Winkel ins KZ gesteckt. Es mag Leute geben, die meinen „Recht so!“. Doch diese Pharisäer haben noch nie gelogen, noch nie das Finanzamt betrogen und auch als Jugendliche nie im Laden gestohlen. Sie stammen zumeist aus nicht-prekären Verhältnissen.
Ich warte nur noch auf den Kriminologen oder Psychologen, es darf auch ein Politiker sein, der mir den Unterschied erklärt zwischen einem Dieter Schulz und manchen Bankern aus dem Investmentbereich oder zu den Leuten, die Betrugs-Software in die Motoren einbauen lassen. In beiden Branchen ging es um gute Geschäfte, wenn auch kriminelle; in beiden Branchen wurden massenhaft Arbeitsplätze vernichtet und Lebenschancen zerstört, die Boni aber und die Pensionen werden ungerührt kassiert.
Es gibt verschiedene Wege kriminell zu werden. Ein Dieter Schulz ist mir dann immer noch sympathischer.
Nachsatz: Die Perry-Preschool-Studie hat zwar tolle Präventiv-Erfolge gebracht, deutlich weniger Kriminalität u.a., aber diese Erfolge betreffen nur die festgestellte Kriminalität, die derer, die sich erwischen lassen.[3] Doch immerhin hat sie viele „normale“, geglückte(?) Lebensläufe ermöglicht.
Fußnoten
[1] Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika! https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/
04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen
Kapitel 7, Lockender Westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin
Wie geht es weiter?
Kapitel 10, Bambule
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Berufsverbrecher
[3] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2012/09/perry-ds-11.pdf
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« III
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit, die keine Kindheit war
Drittes Kapitel
Weiter im Kreislauf:
Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern
Keine Bange, lieber Leser, ein Mörder bin ich nicht.
Im Januar 1955 dann, (welch ein blödsinniges Unterfangen!) machten wir uns zu viert wieder davon.
Die Heimleitung hatte Klein Schulzi wieder mal sauer gemacht. Es war aber auch ein starkes Stück, was die Kollektivwirtschaft mir da angetan hatte. Mein Vater hatte mir zum Geburtstag ein Paket aus dem Westen geschickt. Herrlich duftende Apfelsinen, Schokolade, Marzipan und andere Naschereien drin. – Zwei Orangenfilets, einen Riegel Schokolade und eine dünne Scheibe vom Marzipanbrot und den bereits von der Heimleitung gelesenen Brief bekam ich, als Geburtstagskind, persönlich davon ab. Der Rest wurde fein brüderlich in der Gruppe verteilt.
Mir schwoll der Kamm!
Ich war ganz geharnischter Protest.
Bedanken mochte ich mich dafür nicht gerade, dass man mich davor bewahrt hatte, mir mit all den Leckereien den Magen zu verderben. Mir wurde auch so schon übel bei dem Gedanken, dass ich zusehen musste, wo der Inhalt meines Geburtstagspaketes blieb. Mir schwoll der Kamm! Ich war ganz geharnischter Protest. Schulz, als Rädelsführer bekannt, hatte keine Schwierigkeiten, auch zu dieser Jahreszeit wieder Weggefährten zu finden. Alleine reisen machte aber auch wirklich keinen Spaß. Schon gar nicht wenn der Schnee meterhoch im Erzgebirge rum liegt. Meine Güte, hatten wir uns da auf eine mühselige Reise begeben. Eine wahre Tortur. Die Straße immer im Auge behaltend wateten wir im Wald durch den hohen Schnee. Von innen her schwitzend, Eiseskälte von außen. Da hatten wir schnell noch verkrustete Schneegewichte mit uns herumzuschleppen. Kamen wir überhaupt vorwärts? Mir schien, je länger wir gegen den nachgiebigen Schnee ankämpften, dass die nächste Bergkuppe immer weiter abrückte. Unten, auf der einzigen Straße, die uns schneller ans Ziel gebracht hätte, suchte man uns natürlich. Sicherlich waren schon sämtliche Anwohner an dieser Strecke wie immer von unserer Flucht unterrichtet. Kein Gedanke daran den Wald zu verlassen und den leichteren Weg zu wählen. Bei den wenigen motorisierten Fahrzeugen zu damaliger Zeit waren die Polizeifahrzeuge sehr schnell auszumachen.
Und wir sahen sie. In fast regelmäßigen Abständen patrouillierten sie auf unserem vermeintlichen Fluchtweg. Den Grund für diese sinnlose Spritvergeudung kannten wir nur zu genau. Der Januar hat es nun mal so an sich, dass er die Nacht sehr schnell über den Tag siegen lässt. Aber auch das bereitete uns keine Schwierigkeiten, die Straße, den Verkehr da unten, zu beobachten. Die vom Mond beschienene schneebedeckte Landschaft ließ uns jede Bewegung gut erkennen. Jetzt, in der immer kälter werdenden Nacht, fuhr ein Polizeimotorrad Streife. Welch ein blöder Job in dieser Jahreszeit. Dem Fahrer und seinem Sozius ging es kaum besser als uns da oben im Wald.
Wir jedenfalls hatten dann auch so ziemlich die Schnauze voll vom Waldspaziergang. Wir beschlossen, uns auf der festen Straßendecke weiter gen Dipps[1] zu bewegen. Oh, wie gut das tat. Es kam uns vor als hätten wir Bleigewichte abgelegt. Das mochte ja eine gute Trainingseinheit für Kraftsportler sein, aber nicht für vier Jungs, die auf der Flucht waren und sich langsam nach einem Ort sehnten, wo sie nach diesen Anstrengungen ihre müden Häupter hinlegen konnten.
Jedoch, bis Dipps, wo wir Gartenlauben vorfinden würden, um zu übernachten, war es noch ein Stück Weg. Dresden war noch weit. Für diese Nacht war Dipps unser ersehntes Ziel. Keinen Blick hatten wir für die vom Sturm gebeugten Gipfelfichten, – eine schneebeladene Schar eingemummter, unheimlicher Gestalten. Wir hatten keinen Sinn für die Farbkomposition zwischen Weiß und Schattenblau am Bergkamm. Was scherte uns, was hinter uns lag. Zu sehr waren wir damit beschäftigt vorwärts zu kommen, dabei immer wieder die Hälse verdrehend, Ausschau haltend nach dem Scheinwerferkegel des patrouillierenden Motorrades. Grell und weit stach der Lichtfinger des uns suchenden Scheinwerfers in die Nacht, war somit frühzeitig zu erkennen. Ein paar Mal hatten wir uns in oder hinter einer Schneewehe versteckt, bis sie vorbei waren. Schlotternd vor Kälte, mit knurrendem Magen, waren wir schon bald nicht mehr gut auf unsere Jäger zu sprechen. Wir wünschten die Bullen – alle Freunde der Polizei werden hier um Entschuldigung gebeten – ganz schlicht zum Teufel. Zunächst aber half uns der Zufall. Am Wegrand stand eine Bauarbeiterbude. In diese einzubrechen bereitete uns keine Schwierigkeiten. Nur Platz zum Schlafen, wie wir gehofft hatten, bot sie uns nicht. Vollgestopft mit Schubkarren, Hacken und Schaufeln, blieb uns kaum Platz darin aufrecht zu stehen. Dafür fanden wir eine Ölfunzel, die sogar funktionierte. Woran wir uns bis dahin nur gestoßen hatten, sahen wir uns nun bei Licht an. Steppjacken, dreckverschmierte Hosen hingen, Filzstiefel standen herum. Na, wenigstens etwas. Wir zogen die ohnehin zu großen Klamotten über die unseren. Schön kuschelig warm! Ein Beil, das an der Wand hing, schien mir gerade recht, um später die Gartenlauben leichter öffnen zu können, da es uns ja an Schlüsseln mangelte. Warum ich mir auch noch eine Seilrolle um die Schultern legte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt beim besten Willen nicht erklären. Ich nahm sie einfach mit. So ausgerüstet warteten wir ab bis das Motorrad gerade wieder mal an der Bude vorbeifuhr. Wir erkannten zwei Männer darauf.
Ein Seil über die Straße – in Kopfhöhe
Zwar hatte keiner von uns eine Uhr, wussten aber doch, dass wir nun eine ganze Weile auf der Straße entlang marschieren konnten. Rechtzeitig erkannten wir den sich nähernden Scheinwerferkegel des Motorrades. Das zwang uns jedes Mal wieder in den tiefen Schnee. Das zusätzliche Gewicht der Arbeiterklamotten machte die Sache auch nicht zum Vergnügen. Jetzt hatte ich aber wirklich die Schnauze voll von den aufdringlichen Bullen. Ein Gedanke in mir begann Formen anzunehmen. Wurde in die Tat umgesetzt. Meine Kumpane sahen mir zwar verdutzt zu, aber als ich mit meinem Werk fertig war, hatten auch ihre halbgefrorenen Gehirne begriffen. Ich hatte das Seil, eigentlich ohne bestimmte Absicht mitgeschleppt, einfach in etwa 30 Zentimeter Höhe um einen Baumstamm geschlungen, das gleiche an dem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Um das Seil auch schön straff zu bekommen, steckte ich den Beilstiel in eine Schlaufe und drehte solange daran bis es gespannt war wie die Sehne eines Flitzebogens. Dann aber nichts wie weg. Keuchend, der eisige Wind stach in unseren Lungen, rannten wir los. Dabei immer wieder über die Schulter schauend, wann der Lichtfinger des Scheinwerfers wieder in unsere Richtung zeigen würde. Er zeigte! Penetrant zeichnete er die Kurven nach, die die Straße nahm. Nicht lange! So sicher wie das Amen in der Kirche kam das Licht uns immer näher. Sollte uns aber nicht mehr erreichen. Nie mehr! Nie mehr, so glaube ich jedenfalls, wird einer der beiden Bullen wieder in seinem Leben ein Motorrad bestiegen haben.
Plötzlich hauchte der Lichtstrahl sein Leben aus
Plötzlich stach der grässliche Lichtstrahl in den Himmel hinein, verblasste nach oben hin, so als hauche er sein Leben aus.
Keine Bange, lieber Leser, ein Mörder bin ich nicht. Glückliche Umstände bewahrten mich davor. Unglückliche Umstände allerdings ließen den Soziusfahrer über den vor ihm sitzenden Fahrer segeln und ihn ausgerechnet auf den einzigen weit und breit vorhandenen Baumstumpf am Straßenrand mit dem Schulterblatt draufknallen. Nach acht Monaten Krankenhausaufenthalt hatte man ihm auch den letzten Knochensplitter aus der Lunge geholt. Bei dem plötzlichen Aufprall bei der relativ geringen Geschwindigkeit des Motorrades auf das straff gespannte Seil, war er fein säuberlich über seinen Kollegen hinweggesegelt. Beim Überfliegen hatte er allerdings seinen Kollegen beim Absteigen behindert. Mit seinem Aufprallgewicht hatte er diesen nach unten gedrückt, so dass der Fahrer, als das Motorrad vornüber kippte, mit seinen Handgelenken zwischen Lenkgriffe, Kupplungszug und Bremshebel hängen blieb. Beim Überschlagen hatten seine Handgelenke diesem Druck nicht standgehalten. Sein Brustkorb hatte ebenfalls einen Klaps vom Tankdeckel erhalten, als das Motorrad auf ihn fiel. Dafür kann ich doch wohl nichts, oder?
Von den beschriebenen Einzelheiten erfuhr ich erst einige Tage später, als man uns wieder einmal eingefangen hatte.
Na ja, die beiden Bullen hatten für diese und weitere Nächte keine Probleme wie wir, wo sie ihren müden Häupter hinlegen sollten. Die Krankenwagen, die sie in ihre kuschelig warmen Betten brachte, haben uns noch vor Dippoldiswalde überholt. Und wir vier? Wir tippelten, zwar nicht mehr gejagt, aber immer schlapper und hungriger in die gleiche Richtung.
Nicht so bequem wie die, denen wir zu dieser Fahrt verholfen hatten, erreichten auch wir noch in dieser eisigen Januarnacht Dipps.
Wir fanden Gartenlauben und unseren wohlverdienten Schlaf.
Wo gibt eine Hausfrau größere Geldbeträge aus?
Leider hatten sich mir zwei Muttersöhnchen angeschlossen. Schon am nächsten Mittag, wir waren auf halbem Wege nach Dresden, wo wir uns in der Markthalle etwas zu Futtern, und eventuell auch ein paar Portemonnaies aus den Einkaufstaschen zu sorgloser Hausfrauen angeln wollten. Da war zweien schon der Magen, bzw. der Mut in die Hosen gerutscht. Die beiden setzten sich von uns ab, liefen zur Polizei und ersuchten um Hungerasyl.
Damit konnten wir ja wohl die Markthallenmasche sausen lassen, die uns sonst auf der Flucht immer so nützlich gewesen war. Wo gibt eine Hausfrau sonst noch größere Geldbeträge aus? Ja, richtig. Beim Fleischer natürlich. Wir beiden Verbliebenen brauchten uns nur in eine Warteschlange einzureihen, um Beute zu machen. Schlangen gab es damals immer, wo es Fleisch gab. Wir brauchten nur darauf zu warten bis eine Frau einen Geldschein auf den Tresen legte, während die Verkäuferin noch den Betrag zusammenrechnete. Wie zufällig stand dann auch einer von uns daneben. Lag der Schein auf dem Tresen, schwupp! Ein schneller Griff, und der Schein hatten den Besitzer gewechselt. Etwas zweckentfremdet zwar, aber auch wir bezweckten etwas damit. Nämlich unsere Bäuche zu füllen und mit einer ehrlich erworbenen Fahrkarte weiter nach Leipzig zu fahren, ohne uns vor dem lästigen Schaffner verstecken zu müssen oder uns gar wegen Schwarzfahrens strafbar zu machen.
Leipzig war nach jeder Flucht mein Anlaufpunkt. Das aber wussten inzwischen auch schon längst die Vopos. Es bedurfte schon viel Geschicklichkeit um denen nicht so schnell in die Arme zu laufen. Meine Mutter hatte schon mit 35 Jahren grauweiße Haare. Ob ich wohl dazu beigetragen hatte? Sie behauptete es jedenfalls. Es war aber auch ein Kreuz mit mir, mich als Sohn zu haben. Ich konnte, wollte einfach nicht auf meine Mutter hören. Lausebengel der ich war! (Hoffentlich liest keiner meiner Söhne je dieses Buch. Aus verschiedenen Gründen allerdings. Wie des Weiteren noch zu lesen sein wird).[2]
Wo war ich mit meiner Erzählung stehen geblieben? Ach ja. In Leipzig. Meine Mutter. Mutter, geliebteste aller Mütter. Mag der geneigte Leser die vorgenannten Worte auch nicht so recht glauben wollen; ich wiederhole: Geliebteste aller Mütter! Ich habe dir unendlich viel Leid zugefügt. Aber nur du weißt auch, dass ich dich wirklich von Herzen geliebt habe. Im Rückblick mit dem Kopf eines erwachsenen Mannes, mit dem Wissen aller Zusammenhänge des gemeinsamen Zusammenlebens, der vielen Entbehrungen in Kriegs- und Nachkriegszeiten hast du es einfach verdient einen würdigen Nachruf von deinem einzig verbliebenen Sohn zu bekommen. Wenn es denn den Himmel gibt, dann werde ich dich dort in der unendlichen Zeit, die unsere Seelen dort verbleiben werden, suchen und dich um Verzeihung bitten. Dass wir in den Himmel kommen steht außer Frage. Haben wir doch die Hölle schon auf Erden erlebt. Du hast mich viel zu früh verlassen, während mein Erzeuger sich aus der Verantwortung gezogen und dich auch noch um 16 Jahre überlebt hat. Welch eine Ungerechtigkeit. Warum ich dies als Ungerechtigkeit betrachte? Nun, die weiterführende Geschichte meines Lebens wird dies aufzeigen.
Mit Peter H.,[3] hielt ich mich einige Tage in Leipzig auf. Zu Muttern konnte ich schlecht. Dort tauchte die Polente regelmäßig als erstes auf, informierte Hauswart und Nachbarn über meine erneute Flucht. Kontakt hatte ich, aber kein Unterkommen mehr bei ihr. Des Nachts schliefen wir in Gartenlauben. Wo sonst? Zu dieser Jahreszeit vollkommen ungestört vor erbosten Laubenpiepern, – wie wir glaubten. Tagsüber hielt ich mich in der Nähe des UNIVERMAG[4] auf, dem einzigen Kaufhaus in Leipzig, zu dem nur die russischen Besatzer Zugang hatten. Ich machte da wohl eine rühmliche Ausnahme. Aber auch davon an anderer Stelle mehr. Um an Bargeld zu kommen brauchte ich mich nur meiner fast perfekten russischen Sprachkenntnisse zu bedienen. Doch bevor wir etwas richtig erreicht hatten, wurden wir ausgerechnet dort erwischt, wo wir uns am sichersten gefühlt hatten. In einer Gartenlaube!
Irgend so einer blöden Göre war es eingefallen, das es im letzten Herbst eine vergammelte Puppe in der Laube hatte liegen lassen. Diese wollte sie nun aus der Laube holen, hatte uns darin schlafend vorgefunden. Ein ganzes Straßenkollektiv hatte sich dann zusammengefunden, um die Laubenfrevler zu fangen. Wer denkt auch schon ans Weglaufen, wenn er aus dem besten Schlaf gerissen wird. Zumal die zusammengerottete Nachbarschaft nicht mit leeren Händen gekommen war. Wir waren uns nicht ganz sicher, wie viele Holzlatten-Knüppelschläge wir abbekommen und überleben würden. Der Klügere gibt nach. Decken und Kissen aus 15 verschiedenen Lauben hatten uns in der in der Laube mollige Wärme gegeben. Hier draußen in der Kälte machte uns der Krach der aufgebrachten Gartenbesitzer vollends wach. Was wir uns aber auch alles von den Leuten anhören mussten. Über die bösen Buben, die immer wieder ihre schön hergerichteten Lauben demolierten. Dabei waren wir schon lange nicht mehr hier gewesen. Seit dem letzten Sommer schon nicht mehr, und da auch nur in 22 Gartenhäuschen, bis wir das nötigste zusammengefunden hatten, damit jeder ordentlich schlafen konnte. Die Leute konnten sich vielleicht anstellen. Endlich konnten sie uns der Polizei übergeben. Wir würden schon sehen, wo uns das hinbrächte. In ein Heim gehörten solche Strolche. Eins für Schwererziehbare! Ja, gehörten diese Früchtchen hin, wenn die Eltern nicht auf sie aufpassen könnten.
Kam es nicht in eure Köpfe, dass wir vielleicht Kriegsopferkinder waren?
Zucht und Ordnung gehörte ihnen eingebleut. Bei Adolf hätte es so etwas nicht gegeben. Der Krieg hätte die ganze Weltordnung auf den Kopf gestellt. Wie Recht sie doch hatten!
Diese Empörung der Erwachsenen, die um uns herumstanden, auf das Eintreffen der Polizei warteten. Sicher waren viele darunter, die selbst Kinder hatten, kaum mit ihnen fertig wurden, gar nicht deren Probleme kannten. Es baut so schön das eigene Ego auf, vor den Nachbarn seine Empörung kundzutun, sich das Mäntelchen des Biedermannes umzuhängen. Ablenken von eigenen Erziehungsproblemen.
Ihr Erwachsenen, die ihr um uns herumstandet, eure Schnaps und Bierfahnen vom vergangenen Abend, ihr ekeltet mich an. Ihr hattet zwei Sündenböcke umkreist, Abbildungen eurer eigenen Kinder, an denen ihr euren Missmut, euren Frust, laut herauslassen konntet. Würdet ihr eure eigenen Kinder derart beschimpfen bei einem Vergehen, sie würden wahrscheinlich auch weglaufen. Wären auf den gleichen Weg gekommen wie ich und Peter H.. Der Kreislauf: Heim-versaut werden-weglaufen-Lage verschlimmern hätte begonnen. Ach, ihr lieben erwachsenen Arschlöcher, hätte ich euch doch einen Spiegel vor eure verdutzten Gesichter halten können, als die Polizei endlich eintraf und wir denen unsere Herkunft erklärten und die Gründe für unsere Laubenübernachtung. Die geifernde Wut, die ihr auf uns niederprasseln ließt. „Aus dem Heim sind sie ausgerissen. Kein Wunder, das sie so ruhig geblieben sind, als wir ihnen prophezeiten, dass genau dies mit ihnen geschehen würde,“ geiferten die Erwachsenen voller Empörung.
Ja, was hatten die denn von uns erwartet? Der selbstgewählte Verzicht aufs Denken brachte ihre Dummheit klar zum Ausdruck. Hatte sich überhaupt einer Gedanken darüber gemacht, warum wir in einem Heim gelandet waren? Kam es nicht in eure Köpfe, dass wir vielleicht Kriegsopferkinder waren?, denen –ohne Eltern – das Heim zur zweiten Heimat geworden war, wie vielen zu der Zeit. Das richtige Alter dazu hatten wir doch. Und, glaubten sie dann etwa auch noch, dass so ein Heimleben das Gelbe vom Ei wäre? Mutterersatz? Vaterersatz? Peter z.B. hatte beide Elternteile im Krieg verloren. War in einem Waisenhaus gelandet. War ein verstörtes Kind, welches sich dort nicht so recht unterordnen konnte. Hatte es somit geschafft, in einem Heim für Schwererziehbare untergebracht zu werden. Armleuchter die ihr wart, ihr dachtet gar nicht. Ihr wünschtet uns nur eine ordentliche Tracht Prügel. Die bekamen wir sowieso nach jedem gescheitertem Fluchtversuch; viel grausamer als ihr sie uns hättet verpassen können. Ihr erwachsenen Banausen. IHR hattet doch zum größten Teil – zumindest vor wenigen Jahren noch – „Heil Hitler“ geschrieen, und JA gebrüllt als euch die Frage gestellt wurde: „Wollt ihr den Totalen Krieg?“
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Fußnoten
[1] Dippoldiswalde
[2] Gestrichen: Monika, dir meiner ersten großen Liebe, der ich am liebsten dieses Buch gewidmet hätte, hätte es da nicht eine andere weibliche Person, meine Mutter, in meinem Leben gegeben, die es noch weitaus mehr verdient hat. Weil es die reinsten Gefühle waren, die ich für dich, außer zu meinen Söhnen, empfunden habe. Dir werde ich empfehlen müssen, dieses Buch besser nicht weiter zu lesen. Zuviel könnte von meinem Nimbus bei dir zerstört werden, sofern ich mir nicht nur eingebildet habe, dass ein hauchdünnes Band zwischen uns je bestanden hat.
[3] Mit Peter H., dessen vollen Namen ich hier schlecht nennen kann, weil er immer noch in einer norddeutschen Großstadt lebt und es mir verübeln könnte.
[4] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_roe-neg_0000131_002_Stra%C3%9Fenzug_mit_Warenhaus_%22Univermag%22.jpg
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1
Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen oder Du sollst wissen, lieber Leser:
Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf
Kapitel 2
In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!
Kapitel 3
Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.
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Wie geht es weiter?
Kapitel 4
17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere
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