„Aufrecht“ sterben – Fragen an Gesundheitsminister Spahn – Ein offener Brief in einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse
Sehr geehrter Herr Minister,
heute entnahm ich dem Tagesspiegel[1] Ihre Handhabung der Abgabepflicht tödlich wirkender Medikamente an Schwerstkranke und wende mich deshalb an Sie, vorausgesetzt dass die Darstellung der genannten Zeitung stimmt.
Mir ist klar, dass es sich um eine komplexe Thematik mit Missbrauchsmöglichkeiten handelt. Aber ich[2] halte es für ethisch verwerflich, Sterbende mit ihren existentiellen Anliegen auf die lange Bank des Hinhaltens oder der Nichtbefassung zu schieben und dies mit allen Mitteln, die der bürokratische Abschiebebahnhof bietet, noch dazu, wenn sie rechtlich zumindest problematisch sind.
Ich darf Ihnen aus meinem derzeitigen Alltag einen Mailausschnitt zitieren[3]:
„Meine Ärzte stellten mir eine ziemlich eindeutige Diagnose. Ich habe mein Haus bestellt, wie es so schön heisst, ich bereite die letzte Fahrt nach xxx vor, meine „ärztliche“ Tochter wird mich begleiten. Wenn es gut kommt, darf ich den Sommer nochmals geniessen, vielleicht aber auch den Herbst, er ist ein Geschenk. Ich werde kein bettlägeriger Fall, ich habe meine Frau und Tochter als Medizinerinnen, die mich vor langen Leiden schützen. Deshalb xxx, das schon immer meine 2. Heimat war: es hat eine andere Gesetzgebung.“
Von einem solchen Weg ins Ausland sprach öffentlich bereits Nikolaus Schneider, der frühere Ratsvorsitzende der EKD. Er werde seine an Krebs erkrankte Frau, wenn sie Sterbehilfe wolle, auch in die Schweiz begleiten.[4] Schneider hat damit persönlich eine sichtbare Distanzierung zur in der Kirche herrschenden Meinung[5] vollzogen, die aktive Sterbehilfe ablehnt und auf palliative Maßnahmen setzt: Schmerzbekämpfung/Schmerzdämpfung, auch in der Todeskampfphase.
Meine Fragen an Sie, sehr geehrter Herr Minister:
- Müssen bei uns Menschen andere Rechtsräume aufsuchen, um so sterben zu können, wie sie es für sich wünschen?
- Ist dieser letzte Wunsch nicht auch ein Menschenrecht?
- Soll es dieses Recht nur für die geben, die es sich leisten können?
- Soll die quälende Langsamkeit des Sterbeprozesses nur die finanziellen Interessen der professionellen palliativmedizinischen Begleiter bedienen?
- Warum ist uns in Deutschland nicht vergönnt, so aufrecht zu sterben, wie wir das wollen unter Vermeidung der demütigenden Situation nur noch Objekt medizinischer Bemühungen zu sein?
Vor einigen Tagen erschien in der NZZ ein menschlich mich sehr berührender Artikel über Eltern, die mithilfe einer schweizer Sterbehilfeorganisation gemeinsam aus dem Leben scheiden[6]. Wenn Sie diesen Artikel gelesen haben: Wie ging es Ihnen damit?
Ich schicke Ihnen diesen Brief vorab als Mail und werde ihn morgen in meinen Blog stellen, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, ihn als erster zu lesen. Ihre Antwort werde ich selbstverständlich in vollem Wortlaut auch in meinem Blog veröffentlichen.
Mit freundlichem Gruß
Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll, Tel: 0 71 64 / 1 20 55
PS: Doch noch ein paar Worte zum im Zeitungstext genannten Gutachten. Die Position des Gutachters sei bekannt gewesen. „95.200 Euro zahlten die Behörden für ein Rechtsgutachten – dessen Ergebnis feststand“, ist dort zu lesen.
Das wirft eine doppelte ethische Frage auf, einmal an den, der ein Gefälligkeitsgutachten in Auftrag gibt – und das für eine erhebliche Summe, die nicht einmal er selbst bezahlen muss. Zum andern für den Gutachter: Wie objektiv war er, um ein unabhängiges Gutachten zu erstellen? Für mehr als neunzigtausend Euro tun manche manches.
Da ich selber auch Gutachten erstelle (und von solcher Honorierung nicht einmal zu träumen wage), weiß ich, dass ich bei wenn auch begründeter Befangenheit lediglich eine gutachterliche Stellungnahme abgeben kann. Wie war das bei Ihrem Gutachter?
ds
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Graphik aus: Dierk Schäfer und Werner Knubben… in meinen Armen sterben? : Vom Umgang der Polizei mit Trauer und Tod, Hilden/Rhld. 19962 Seite 8, ISBN 3-8011-0345-5
Umschlagtext: Dierk Schäfer, Kirchenrat und Diplompsychologe, 48 Jahre alt, und Werner Knubben, Polizeidekan und Kriminalhauptkommissar a. D, 44 Jahre alt, arbeiten beide als Seelsorger im Regierungsbezirk Tübingen, Ihre umfangreiche Erfahrung mit Todesfällen und den davon direkt oder beruflich betroffenen Menschen hat sie gedrängt, dieses Buch zu schreiben, um Verständnis und Verstehenshilfe anzubieten.
Die Graphik war nicht Bestandteil des Vorabmails an den Minister.
Fußnoten
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitsminister-ignoriert-urteil-jens-spahn-verhindert-sterbehilfe/24010180.html
[2] Zu meiner Person: Ich bin Pfarrer i.R. und habe 15 Jahre lang für Polizeibeamte berufsethischen Unterricht erteilt.
[3] Dieses Abschiedsmail erhielt ich vor wenigen Tagen, die persönlichen Daten und alle Ortsangaben habe ich unkenntlich gemacht.
[4] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/21/demokratisierung-der-todeszuteilung/
[5] Ob ich hier allgemein von „der Kirche“ reden kann, weiß ich nicht. Dort melden sich nur die „Hirten“ zu Wort, die „Schafe“ schweigen.
[6] https://www.nzz.ch/gesellschaft/wenn-die-eltern-gemeinsam-aus-dem-leben-scheiden-ld.1455660
Gewalt in Behindertenheimen – Länder blockieren Entschädigungsfonds für Missbrauchsopfer
»Die Länder fürchten, dass sich der neue Fonds als Fass ohne Boden entpuppen könnte«[1].
Wundert sich jemand darüber?
Fremdschämen mag man sich auch schon nicht mehr.
[1] http://www.rp-online.de/politik/deutschland/laender-blockieren-entschaedigungsfonds-fuer-missbrauchsopfer-aid-1.4800449
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