Was heißt und zu welchem Ende arbeitet man Geschichte auf?
„Wahrnehmungen und Erinnerungen sind datengestützte Erfindungen“, sagte der Hirnforscher Wolf Singer in seinem Eröffnungsvortrag auf dem 43. Deutschen Historikertag.[1] Die objektive Geschichte gibt es demnach nicht. Man konstruiert Erinnerungen anhand von Daten, die man gesucht und gefunden hat. Warum sucht man nach Daten, an die man sich allenfalls dunkel erinnert? Welches Interesse steckt dahinter?
Ein Beispiel: »Der lange Nazi-Schatten über der Kirche«, darüber berichtet die Schleswig-Holsteinischer Zeitung, shz, am 13. Januar 2014. Quelle ist die Untersuchung, die der Historiker Stephan Linck im Auftrag der Nordkirche vorgelegt hat. [2]
Da hat also ein Historiker einen Auftrag bekommen und man hat ihm Archive geöffnet. Warum?
Vor einem Monat habe ich beklagt, daß solche Untersuchungen erst dann gestartet werden, wenn sie niemandem mehr wehtun[3]. Was also soll’s? Mein Resümee war, die billigste Form der Vergangenheitserhellung solle das Image aufpolieren, – peinlich und blamabel!
Doch die Sache ist wohl komplexer.
Generell stellt sich die Frage, was die ganze verspätete Aufarbeitung soll, die wir ja nicht nur bei kirchlichen Einrichtungen beobachten. Auch staatliche Einrichtungen, Firmen und diverse Berufsgruppen ließen und lassen ihre nur noch ihr Image belastende Vergangenheit mehr oder weniger seriös aufarbeiten. Doch „wir sehen, was zu sehen nützlich ist“[4].
Darum noch einmal: Was also ist der Nutzen – und wird der angestrebte Nutzen erreicht? Vorbedingung mag sein, daß ein wichtiger Nutzen weggefallen ist, nämlich die Loyalität mit den Tätern und der eigene Vorteil. Darum wartet man mit der Aufarbeitung bis sie niemandem mehr schadet.[5]
Aber der Nutzen? Gut, die Historiker verdienen ihren Lebensunterhalt und wir erfahren mehr über die damaligen Verhältnisse. Die Geschichte wird vollständiger und damit „ehrlicher“. Es scheint so etwas wie ein Ethos zur wie auch immer begrenzten historischen Wahrheit zu geben, das Ethos des Geschichtsforschers. Ein merkwürdiges Ethos. Nun, da er nichts mehr zu befürchten hat, sondern Ansehen erwirbt, kümmert er sich um Fragen, die zuvor unbekannt waren oder unter dem Deckel gehalten wurden. Ist das Tabu erst gebrochen, stehen die betroffenen Institutionen unter (öffentlichem) Druck. Sie geben nach und geben eine Studie in Auftrag, die nicht den Anschein erwecken darf, sie sei parteilich. Und schließlich weiß man, daß Aufregung über längst Vergangenes schnell wieder abebbt. Die paar Medienartikel haben keine Auswirkungen – und man selber hat nun eine reine Weste.
Schwieriger ist es mit Verfehlungen von Kirchen und ihren Würdenträgern. Da ist die Öffentlichkeit nicht (mehr) so nachsichtig. Hier geht es um andere Dimensionen von Glaubhaftigkeit und Vertrauen. Aber auch die Nazi-Verstrickungen der Kirchen bewirken in historischer Distanz wenig. Nur die Kirchengegner sagen: Haben wir doch schon immer gewußt.
Geht es aber um Verfehlungen in jüngster Zeit, wird erst geleugnet und diffamiert, und dann gibt es ein Begräbnis zweiter Klasse. Wissenschaftliche Aufarbeitung? Ja, wenn’s sein muß. Betroffenheits- und Entschuldigungsbekundungen? Kommt man nicht drumrum. Entschädigung? Nein, aber freiwillige Unterstützungsleistungen, möglichst mit Bordmitteln und möglichst kostengünstig. Offenbarungen auf der Homepage? Allenfalls vorübergehend, dann wird die Geschichte aber wieder bereinigt – also ausgelöscht. Doch wenn darüber endlich Gras gewachsen ist, kommt sicherlich ein Esel, der es wieder runterfrißt. Das Gedächtnis des Internet hilft dabei.[6]
Was die Wurzeln der Nordkirche betrifft: es lohnt sich den Artikel der shz zu lesen. Es geht um den Täterschutz, wie er vielfach in Deutschland und wohl besonders in Schleswig-Holstein praktiziert wurde. Da eine Lokalzeitung über Lokales ausführlicher berichtet, erfahren wir auch mehr über die Rolle des damaligen Holsteiner Bischofs Wilhelm Halfmann. Wiki hat einige Aspekte in dessen Vita etwas unzureichend beleuchtet.[7] Insbesondere der Heyde-Sawade-Skandal spielt mit hinein und die Verbindung zum Synodenpräsidenten Adolf Voss.[8] Auch Wilhelm Kieckbusch, der Bischof der ehemaligen Landeskirche Eutin[9] wird unrühmlich erwähnt und man muß feststellen, daß Wiki auch in diesem Fall nicht gut recherchiert hat. Nun wissen wir mehr. Wiki hoffentlich auch demnächst.
[1] zitiert nach: FAZ 28. September 2000
[2] http://www.shz.de/schleswig-holstein/politik/der-lange-nazi-schatten-ueber-der-kirche-id5413301.html
[4] Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags: FAZ 28. September 2000
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/12/31/erst-jetzt-mit-groserer-zeit%C2%ADlicher-distanz-zu-ereignis%C2%ADsen-und-personen-kommt-die-forschung-in-gang/
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