»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XIX
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Neunzehntes Kapitel
Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität[1]
Etwas besser wurde es dann aber schon im Sommer 49. Es wurde wieder einmal eine Sammelaktion veranstaltet. Von Seiten der Russen, versteht sich. Wieder stand eine lange Reihe von Viehwaggons auf einem Bahnhof in Insterburg bereit. Diesmal aber mit einer Lok vorne und einer hinten. Ich weiß nicht mehr die Anzahl der Passagiere, die in solch einem Waggon untergebracht wurden. Jedenfalls hatte jeder genügend Platz, um sich ausstrecken zu können. Einmal am Tage wurde der Zug auf einsamer Strecke gestoppt. Dann wurden die Riegel draußen an der Türe hochgeschoben und wir durften unsere Beine vertreten oder unsere Notdurft verrichten. An beiden Seiten des Zuges standen aber in gleichmäßigen Abständen bewaffnete Soldaten und passten auf, dass auch ja niemand den Zug versäumte, wenn er weiter fuhr. Für die übrigen Stunden der Fahrt konnte man ein Brett im Waggon zur Seite schieben und sich etwas Wind um den Hintern wehen lassen. Manchmal fuhr der Zug ja auch. Doch viel öfter blieb er irgendwo auf einem Nebengleis stehen. Mal musste ein entgegenkommender Zug vorbei gelassen werden, ein anderes Mal wurde auf Verpflegung gewartet. Dann fehlte wieder Kohle oder musste deswegen wieder ein Stück zurück fahren, um dort die Tender wieder aufzufüllen. Welche Gründe uns auch immer für das langsame Vorwärtskom men genannt wurden. Nach genau 20 Tagen Hin- und Hergeschiebe kamen wir in Löbau an.[2]
Ein riesiges Barackenlager nahm uns auf. Ich weiß noch, dass ich die meiste Zeit um die Baracken schlich und nach Kippen Ausschau hielt. Der russische Machorka war meiner Mutter längst ausgegangen. Irgendwann in der stressigen Zeit hatte sie zu rauchen begonnen. Mein Vater war später darüber sehr entsetzt. Selbst aber ließ er seinen Rotzkocher, wo immer ein Stumpen drin steckte, nie ausgehen. Wer in Löbau den Sachbearbeitern angeben konnte, dass er im „Westen“ Verwandte hatte, wurde dorthin auf Reisen geschickt. Wer aber gar keine Ahnung hatte wo, wenn überhaupt, Verwandte wohnten, der wurde nach Gutdünken irgendwohin verwiesen.
Umlernen bei der Orientierung
Wir landeten in Leipzig-Engelsdorf.[3]
Eine Einraumwohnung für drei. Toilette auf halber Treppe. Unten im Haus gab es einen Kaufmannsladen. Eines Tages schickte meine Mutter mich los, um Mostrich zu holen. „Haben wir nicht“, hieß es da. Ich suchte und fand einen anderen Laden, ich glaube, es war ein Metzgerladen. Ich fragte nach Mostrich, „haben wir nicht!“. Ich irrte weiter durch die Straßen. Ich sah wieder einen Laden. Ich rein. „Ich hätte gern Mostrich“ sagte ich zu der freundlichen Verkäuferin. Die schaute mich ganz komisch an. „Sag mal, du warst doch gerade hier. Wir haben keinen Mostrich“.
Bevor ich es richtig verarbeitet hatte, was die Frau mit dem, du warst doch gerade erst hier, gemeint hatte, mischte sich eine Kundin ein. „Natürlich haben sie Mostrich! Der Junge möchte Senf haben“, übersetzte sie mein Ostpreußisch ins Deutsche. Die Verkäuferin hatte begriffen und ich gelernt, dass es hier zwar keinen Mostrich, aber dafür Senf gab, was dasselbe sein sollte. Mir sollte es recht sein, Hauptsache ich kam nicht mit leeren Händen zu meiner Mutter. Mutter war nämlich etwas kränklich! Ich bekam meinen Mostrich, entschuldigung, Senf und ging zur Türe, die so schön bimmelte, wenn sie auf- oder zuging. „Sag mal, bist du nicht der kleine Schulz, der bei uns oben im Haus wohnt?“ fragte mich die Verkäuferin. Ich? Wieso wohnte ich hier oben im Haus? Desto länger ich in diesem Laden stand, umso bekannter kam er mir vor. Ja, richtig. Es war genau der, wo ich als erstes drin gewesen war. Folglich war ich ja auch gleich zu Hause. Ich hatte bei meiner Rumrennerei und ohne mich vorher mich zu vergewissern, wie meine Umgebung aussah, auf die Suche nach Mos… Senf gemacht. Tja, in den Trümmern von Königsberg oder Insterburg hätte ich mich nicht verlaufen. Ich musste ganz schnell umdenken lernen. Hier richtete man sich nicht mehr nach Mauern, die jeden Monat umzukippen drohten oder an Fenster, die eigentlich gar keine Fenster mehr waren, aber doch immer wieder anders aussahen. Mal rußgeschwärzt, mal nur zur Hälfte herausgeschossen. Hier konnte man sich an farbigen Tor-Tür Eingängen orientieren, an Bäumen und Sträuchern, die vor oder in der Nähe der Häuser noch wuchsen. Oben in der Wohnung wurde ich wegen meines langen Wegbleibens getadelt.
Syphilis! Auch ein Kriegsgeschenk.
Dann war Mutter fast ein halbes Jahr lang nicht da. Keiner, der so richtig schimpfen tat. Auf das Gezänk meiner Schwester gab ich nichts. Es wurde mir gesagt, dass meine Mutter schwer krank sei, aber bald wieder kommen würde. Viel später erst erfuhr ich, welche Krankheit meine Mutter so lange im Krankenhaus aufgehalten hatte. Syphilis! Ziemlich weit fortgeschritten. Auch ein Kriegsgeschenk.[4] Abgesehen davon, dass es von nun an immer genügend Brot gab, kam alles andere doch bald wieder aus der Nase wieder raus. Tagein tagaus Erbswurstsuppe[5]. War ja genau so ekelhaft auf die Dauer wie das ewige „Spinat-essen“ (Brennnessel und Melde[6]).
Etwas ganz Neues kam in Leipzig auf mich zu. Heutzutage freuen (?) sich Kinder schon ab dem vierten Lebensjahr darauf, endlich in die Schule zu kommen. Ich kannte das Wort Schule kaum. Jedenfalls hatte ich keine genaue Vorstellung davon. Bald schon sollte ich eine davon bekommen. Mit meinen fast neun Jahren, musste ich mich mit solchen Rotzlöffeln von 6jährigen in einem Raum aufhalten. Ganz ruhig auf einer Bank sitzen, das ABC lernen und anhand einer Uhr die Zahlen von 1-12 auswendig lernen. Aus einem A und einem U und noch einem A wurde dann das Wort aua, dann Auto, Autobus usw. Meine Schiefertafel und den daran hängenden Schwamm nebst Griffel hatte ich aufs Sorgsamste zu pflegen, wurde mir gesagt. Das alles hätte Vater Staat für mich bezahlt, und Vater Staat verlangte von mir, dass ich sein Eigentum schütze. Dabei wurde uns doch aber gleichzeitig beigebracht, dass alle Besitztümer dem Volke gehörten. Damit ich auch ja die richtigen Buchstaben in der richtigen Reihenfolge aufschrieb, drückte meine Schwester, diese Zicke, meinen Zeigefinger, mit dem ich auf den zu bestimmenden Buchstaben wies, so fest auf die Fibel, dass mir der Finger dabei fast abbrach, wenn ich mich mal verhaute. Oh ja, das Lesen und Schreiben hat sie mir schon beigebracht. Möchte nur mal wissen, woher sie das eigentlich konnte?
Alles süße Bonbons! Alle für mich!
Weihnachten 49. Es wurde wieder darüber gesprochen, dass es so etwas überhaupt nicht gab. Jahrelang wurde lieber darüber geschwiegen, um den Fragen der Kinder zu entgehen. Mutter war für kurze Zeit von der „Kur“ heimgekehrt. Es gab Tannenzweige und Kerzen, aus Buntpapier geschnippelte Sternchen und Engel. Räucherstäbchen und Wunderkerzen. Verwunderte Augen bei mir! Was es nicht alles gab auf dieser Welt!? Mein allererstes Spielzeug (mit dem ich auch etwas anzufangen wusste) bekam ich. Ein Pappmachépferd! Etwa 20 cm groß. Das war aber noch nicht alles. Meine begehrlichen Blicke, immer wenn wir beim Bäcker vorbei gingen und ich die Süßigkeiten nicht aus den Augen ließ, waren meiner Schwester nicht entgangen. Sie musste bei meiner Mutter gepetzt haben. Eine halbe Monatsration der Zuckermarken opferte meine Mutter dafür. Ich bekam eine ganze Tüte voll. Kleine, etwa jedes einen Zentimeter groß, rote, blaue, weiße, grüne und andere Farben, Sterne, Halbmonde, Buchstaben und verschiedene Tiere waren an den Formen zu erkennen. Alles süße Bonbons! Alle für mich! Ich hatte eine kleine Ecke für mich. Auf einem Stück es Pappe reihte ich sie zunächst nach Farben, dann nach Formen und Buchstaben auf. Die Sorte, die die längste Reihe bildete, wurde nach und nach, Stück für Stück in den Mund gesteckt. Wo denken sie hin? Nicht doch! Nein, nicht alle auf einmal, jeden Tag wurde neu geordnet und gezählt. Am 27. Januar hatte ich immer noch genug davon, um meinen Geburtstag zu feiern. Ein Nachbarsjunge bekam sogar aus jeder Reihe eines ab. Die Schule machte Fortschritte. Es gab nur noch sehr selten etwas mit dem Rohrstock auf die Finger, oder ein Stück Kreide an den Kopf geworfen, wenn man den Unterricht störte. Ein Lehrer hatte die hässliche Angewohnheit einem mit einer verblüffenden Zielgenauigkeit den nassen Schwamm von der Tafel an den Kopf zu werfen, sobald er einen Sünder ertappt hatte. Ich habe eigentlich nur seine Treffsicherheit bewundert, auch aus der Drehung heraus, wenn man glaubte, er schreibe an die Tafel. Sonst habe ich ihn gehasst! Sein Schlüsselbund, welches er ebenfalls als Wurfgeschoß benutzte, tat gemein weh, wenn es traf. Meistens traf er auch damit. Dafür schmuggelte ich ihm ab und zu mal eine tote Maus, Ratte oder gar eine halbverweste Katze in seine Aktentasche. Das machte ihn aber auch nicht freundlicher uns Schülern gegenüber. Bloß gut, dass ich dieses Ekel nur ein knappes Jahr ertragen musste. Die Schule stand 1990 immer noch an ihrem Platz!
Wir zogen erst noch mal innerhalb von Engelsdorf um. Meine Mutter durfte dort in einem schönen großen Haus einen alten Mann (tot-)pflegen. Danach gehörte das Haus automatisch dem Staat, da keine Erben vorhanden waren. Dass der alte Herr König (so hieß er wirklich!) meiner Mutter das Haus vermacht hatte, wollte man nicht wahr haben. Ein paar Möbel und vom Geschirr durften wir mitnehmen.
Dann durfte meine Mutter sich am Aufbau des Sozialismus beteiligen.
Welche Reichtümer wir da in unseren Händen hatten, wurde uns erst viel zu spät bewusst. Nach und nach wanderte der Zierrat, der an Möbeln dran hing, in den Ofen. Alles geschnitzte Handarbeit aus bestem Holz und von antiquarischem Wert. Und erst eine riesige Menge echten Meißner Porzellans, nebst kleinen Nippfiguren. Alles mit den Schwertern dieser so berühmten Porzellanmanufaktur versehen. Man stelle sich vor, wir hatten kaum genug, um die Schüsseln zu füllen, die das blaue Zwiebelmuster zeigten, und wussten gar nicht, wie reich wir waren. So mancher Nabob hätte dafür ein Vermögen auf den Tisch geblättert. Nur, wir lebten im Jahre 50 in der DDR! Um einmal an ein Eis zu kommen oder anderes Begehrenswertes, was ein Kinderherz höher schlagen lässt, musste ich schon selbst dafür sorgen, dass ich es auch bekam. Ich sammelte ganze Schuhkartons voll Maikäfer (richtige Maikäfer, solche die heute in der Zeitung abgebildet werden, sofern man solch ein Exemplar vorweisen kann!) und bekam dafür ein paar Groschen von jemandem, der seine Hühner damit fütterte. Was derjenige mit den Mäusen fütterte, der pro Stück lebender Maus 10 Pfennige zahlte, ist mir nicht bekannt geworden. Wir machten aber zu zweit oder dritt Jagd auf diese possierlichen Tierchen. Nachdem die Kartoffelfelder abgeerntet waren, machten wir die größte Beute. Unter dem zuhauf geworfenen Kartoffelkraut hielten sie (die Mäuse) sich am liebsten auf. Zu dritt ging es am besten. Einer hob mit einer Heugabel den Haufen hoch und die anderen gut postiert um den Haufen, brauchten nur noch möglichst schnell so viele als es nur ging von den davon huschenden Pelztierchen einfangen.
Das Karussellfahren auf dem Dorfanger, wenn mal eins da war, hatten wir umsonst. Oder zumindest fast umsonst. Zwei oder drei schoben oben auf einem breiten Brett herum laufend das Karussell, die die mitfuhren mussten einen Groschen löhnen. Hatte man nun ein paar Runden geschoben, durften das die anderen tun und man selbst durfte sich schieben lassen. War doch eine nette Geste des Karussellbesitzers, finden Sie nicht auch?
Dann durfte meine Mutter, wieder vollkommen genesen, den armen Herrn König totgepflegt, sich am Aufbau des Sozialismus beteiligen. Damit sie ihre Arbeitskraft auch gut dafür einsetzen konnte, bekamen wir schon eine Stadtwohnung. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass man dort keinen Gegenstand gerade hinstellen konnte. Die Treppe ließ es zu, dass wir auf ihr unbeschadet unsere geerbten Möbel hinaufschleppten. Ansonsten wiesen die Fußböden ein solches Gefälle auf, dass wir das Regenwasser gar nicht aufwischen brauchten, was von oben herein kam. Alles lief immer in die gleiche Ecke, ziemlich schnell sogar, und versickerte dort genau so schnell. Einbrecher hätten bei uns keine Chance gehabt. Wer sich nicht im Haus auf jedem Quadratmeter genauestens auskannte, brach sich unweigerlich das Genick, schon auf der Treppe. Da meine Mutter bei ihrem Steineklopfen nur Aktivistin wurde, aber keine Reichtümer ansparen konnte, blieben wir von solchen Heimsuchungen verschont. Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität. In diesem Staate war das Volk in allen Belangen glücklich und zufrieden. Bei einem Wochenlohn von ca. 60 Mark, bar auf die Kralle, kostete ein Pfund Kaffee, wenn es ihn mal gab, ganze 40 Mark. Zigaretten gab es auch schon zu erschwinglichen Preisen. Sogar einzeln konnte man sie in der nächsten Kneipe kaufen.
Lieber einen warmen Hintern als einen leeren Schrank in der Wohnung.
Für ein Dreipfundbrot brauchte man nur ganze 72 Pfennige auf den Ladentisch zu legen. Fleisch/Fisch gab es auch. 480 Gramm im Monat. Auf PC Lebensmittelmarken[7] versteht sich. Dafür aber war diese Menge garantiert. Mit oder ohne Knochen, das lag immer ganz an dem Verkäufer. Der musste ja auch noch etwas für seine „zahlenden“ Kunden übrig behalten. Holz und Kohle gab es auch auf Bezugsschein. Nur der Winter durfte nicht zu hart ausfallen. Dann vergriff man sich eben an Möbelstücken. Lieber einen warmen Hintern als einen leeren Schrank in der Wohnung.
Ich hatte es nicht sehr weit bis zur Ernst-Thälmann-Straße. Eine der beliebtesten und größten Straßen, die ich bis dahin je kennengelernt hatte. Ich lief gern dorthin, wenn es mal was zu besorgen gab. Irgendjemandem war irgendwann mal der Einfall gekommen, dass man eine Straße auch mit einer Holzdecke versehen könnte. Irgendjemand anders hatte dies auch für gut befunden und ließ diese Idee in die Tat umsetzen. Mir ist nie in meinem weiteren Leben solch eine Straße wieder unter die Füße gekommen. Dabei bin ich schon über viele Straßen in vielen Städten und Ländern gelaufen. Diese Straße also war für mich das Größte. Über eine Kreuzung waren Drähte gespannt. Schön hoch. Dort wo die Drähte zusammenliefen, logischerweise in der Mitte der Kreuzung, hing eine Ampel. Gar nicht zu übersehen – im Uhrzeigersinn drehte sich ein Zeiger. Oben und unten zeigte der Zeiger auf grün. Rechts und links auf rot. Natürlich galt das immer nur für die Richtung aus der man kam.[8] Dort wo ich das eine Mal, wovon ich gerade rede, über die Straße wollte, zeigte der Pfeil ganz eindeutig für mich die Grünphase an. Nicht nur noch ein bisschen, wo das Hinüberkommen über die Straße schon mit einem Risiko verbunden gewesen wäre. Ich hätte ganz einwandfrei über die Straße schleichen, dabei eine Schnecke an der Leine mitführen können.
Soviel Glück hat nicht jeder, dass er einen Unfall hat und aus dem Auto, das ihn gerade beinahe zu Tode gefahren hätte, gleich ein Arzt aussteigt.
Wie ich schon fast auf der Mitte der Fahrbahn bin, der Zeiger der Ampel hatte gerade etwa eindrittel der grünen Marke überschritten, war es bereits zu spät. Schließlich, und gerade als Kind, verlässt man sich darauf, dass die Erwachsenen die Verkehrszeichen beachten. Das ich heute noch lebe, habe ich nur dem Umstand zu verdanken, dass, irgendjemandem irgendwann mal der Einfall gekommen war, dass man eine Straßendecke auch aus Holz herstellen könne, und das irgendjemand anders diese Idee auch hatte verwirklichen lassen. Der gute alte Petrus da oben hatte auch seinen Anteil daran, dass ich heute noch am Leben bin. Wäre die Holzstraße nämlich nicht vom Regen so glitschig gewesen, hätten mich die Räder des Autos glatt überrollt. So aber schoben mich die abgebremsten Räder des Wagens nur ein paar Meter über das nasse Parkett. Parkettartig waren die Holzstücke auf der Straße verlegt. Hatte ich also ein Glück. Soviel Glück hat nicht jeder, dass er einen Unfall hat und aus dem Auto, das ihn gerade beinahe zu Tode gefahren hätte, gleich ein Arzt aussteigt. Dieser Arzt hatte es nur ganz eilig gehabt, weil er dringend zu einem Patienten musste. Sagte er! Doch nun hatte er auf einmal eine Menge Zeit übrig. Die aufgebrachte Menge, die alle Zeugen von seinem Verschulden waren, hätten ihn am liebsten gelyncht. Sicher, ich war wohl ziemlich blass um die Nase, der Schreck war aber größer als der Schmerz. Mein Hemd war hinüber, die Hose taugte auch nicht mehr für die Schule, reichlich Hautabschürfungen, die aber von dem grünlichen, moosähnlichem Zeug herrührte, das aus den Ritzen des Parketts stammte, und Schlamm, der mich nicht zuletzt so gut über die Straße hatte gleiten lassen, bedeckten meinen Körper und ließen alles viel gefährlicher aussehen, als es war. Der besorgte Arzt, der mehr Angst vor der Polizei zu haben schien als vor der Menge, beruhigte und säuberte mich, mit Jod, dieses Scheusal. Erst jetzt hatte ich Schmerzen, und das nicht zu knapp. Er wurde nicht gelyncht! Ich jammerte mehr wegen meiner schönen Sachen, die dabei unbrauchbar geworden waren und … wegen des Jods auf meinen Schürfwunden. Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite gab es ein Konfektionsgeschäft. Der Doktor ging dort mit mir hinein. Und, ich bekam die erste lange Hose meines Lebens. Bis dahin trug ich, wie fast jeder andere Junge, wenn es kälter wurde, ein Leibchen mit Strippen dran und lange Strümpfe. Heute besser als Strapse bekannt und nur noch zur Erotisierung der Männer angewandt. Ein Zwanziger diente als Trostpflaster nachdem ich neu eingekleidet den Heimweg antrat.
Wer hat schon mal versucht eine erschreckte Glucke zu beruhigen?
Leider! war meine Mutter schon zu Hause. Misstrauisch wegen meiner funkelnagelneuen-piekfeinen Kluft hieß sich mich diese sofort auszuziehen, weil sie glaubte, die könnte ich mir nur unrechtmäßig angeeignet haben. Überzeugt davon, dass ich ihr die Wahrheit gesagt hätte, dass die Sachen mir gehörten und sie gerne mit mir in das Geschäft gehen könnte, um es sich bestätigen zu lassen, war sie der Sorge enthoben, ihr Sohn sei ein Dieb. (Die kleinen Dinge, die wir in unserer Heimat hatten mitgehen lassen, gehörten zu Überlebenskampf, wie sie zu sagen pflegte!) Trotzdem bestand sie drauf, dass ich diese schönen Sachen, die ich mir verdient hatte, wie ich ihr glaubhaft versicherte, gleich ausziehen solle, sie seien zu schade, um damit in der Wohnung oder auf der Straße rumzutoben. Liebe Mutter, wärest du nicht mit so einer robusten Natur ausgestattet gewesen, hätte der Krieg uns nicht schon abgehärtet, du wärst bestimmt in Ohnmacht gefallen, als du endlich, nach längerem Sträuben meinerseits, deinen Willen durchgesetzt hattest und ich mich auszog! Ich habe es ja bereits erwähnt, alles sah viel schlimmer aus, als es war! Zweifellos stand ich lebendig vor meiner Mutter, doch sie benahm sich als würde ich bereits im Sterben liegen, oder Ähnliches! Zwischen Schreck und Sorge um mich, wechselte ihre Stimmung. Wer hat schon mal versucht eine erschreckte Glucke zu beruhigen? Ich brauchte einige Anläufe bis ich meine Mutter zum Zuhören bewegen konnte. Bis dahin hatte ich die Erfahrung gemacht, dass sich nur Kinder sehr schwer von einer einmal vorgefaßten Meinung abbringen ließen. Doch auch Erwachsene konnten sich manchmal unvernünftig benehmen. Zum Glück hatte mir der Arzt auch noch so etwas wie eine Visitenkarte mitgegeben. Erst als es mir einfiel, diese meiner Mutter auch noch als Beweis vorzulegen, dass gleich ein Arzt an Ort und Stelle gewesen sei, benahm sie sich wieder normal. Das, was sie mir dann auf meine „Wunden“ schmierte, war viel angenehmer zu ertragen als das Jod von dem Scheusal von Arzt.
Fußnoten
[1] https://www.cilip.de/2004/02/29/ddr-kriminalstatistik-immer-mit-blick-richtung-westen/ https://www.geschichtscheck.de/2016/10/10/war-die-kriminalitaet-in-der-ddr-geringer-als-in-der-brd/
[2] Karte: https://www.google.de/maps/dir/Insterburg,+Oblast+Kaliningrad,+Russland/L%C3%B6bau(Sachs),+L%C3%B6bau/@52.7852821,13.7628315,6z/data=!3m1!4b1!4m13!4m12!1m5!1m1!1s0x46e3e9392d4379df:0x9dcf2cb794c28ad4!2m2!1d21.8311353!2d54.6312721!1m5!1m1!1s0x4708e29ef8503bfb:0xef7b61ac366daefc!2m2!1d14.671941!2d51.099447
[3] Karte: https://www.google.de/maps/place/Engelsdorf,+Leipzig/@51.3372963,12.4442049,13z/data=!3m1!4b1!4m5!3m4!1s0x47a6ff3573fa7d45:0xb2ff2b2913df2d41!8m2!3d51.3382024!4d12.4799296
[4] Da wird die Mutter kaum gesagt haben dürfen, dass dies ein Geschenk der sozialistischen Bruderarmee war. https://dietrommlerarchiv.wordpress.com/2017/03/09/waffenbruederschaft/amp/ .
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Erbswurst
[6] Die Melden (Atriplex) sind eine Pflanzengattung in der Familie der Fuchsschwanzgewächse (Amaranthaceae). Mit etwa 300 Arten ist dies die artenreichste Gattung der Familie. Der Name Melde ist vom „bemehlten“ Aussehen der behaarten Pflanzen abgeleitet.[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Melden
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Lebensmittelmarke
[8] Heuer-Ampel https://de.wikipedia.org/wiki/Ampel#/media/File:Heuerampel.png
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika! https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/ 04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/ PDF: 05-von-heim-zu-heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/ 06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen
Kapitel 7, Lockender Westen https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/ PDF 07-lockender-westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/ PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/ PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin
Kapitel 10, Bambule https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ PDF: 10-bambule
Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/06/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xi/ PDF: 11-losgelost-von-der-erde
Kapitel 12, Ihr Lächeln wurde um noch eine Nuance freundlicher. Süßer! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xii/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/12-sc3bcc39fer.pdf
Kapitel 13, Von Auerbachs Keller in den Venusberg https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/19/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiii/ PDF: 13-von-auerbachs-keller-in-den-venusberg
Kapitel 14, Ein halbes Jahr Bewährungsprobe. Wo? Im Heim! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiv/ PDF: ein-halbes-jahr-bewahrungsprobe
Kapitel 15, Spurensuche – und der Beginn in Dönschten https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/22/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xv/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/15-spurensuche.pdf
Kapitel 16, Was also blieb uns übrig, als aufs Ganze zu gehen? https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvi/ PDF: 16 Was also blieb uns übrig
Kapitel 17, War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvii/ PDF: 17 War es den Aufwand wert
Kapitel 18, Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie … https://wordpress.com/post/dierkschaefer.wordpress.com/8148 PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/03/18-der-einzige-e2809emanne2809c-in-der-familie.pdf
Kapitel 19, Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/19/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xix/ PDF: 19 in der DDR gab es keine Kriminalität
Wie geht es weiter?
Kapitel 20, Wie schnell sich doch die Weltgeschichte ändert!
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XVIII
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Achtzehntes Kapitel
Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie …
Bei einem dieser häufigen Marktbesuche, als ich gerade wieder gestohlene Schlangengurken gegen Brot eintauschen wollte, wurde ich Zeuge einer standrechtlichen Erschießung am Rande des Marktplatzes. Jemand war auf die clevere Idee gekommen, wie man den fleischarmen Markt besser auslasten könnte. Er holte sich dafür, nachdem er es ausgekundschaftet hatte, des nachts frische Kinderleichen aus den Gräbern und verhökerte die besten Stücke für Horrorpreise auf dem Markt. Solche Blüten trieb der Krieg „Bloß gut, dass wir uns solche Preise nicht leisten konnten!“ Da waren mir die Katzen, die auch immer seltener wurden, doch schon lieber.
Um im Winter auch etwas für unseren Ofen zu haben, oder auch schon mal was anderes dafür einzutauschen, gingen wir auf Kohlenklau.[1]
Meine Schwester ließ sich dann mit ihren 11 Jahren lieber auf den Tisch legen.
In der Nähe unseres „Wohnbezirkes“ war ein Güterbahnhof. Nachdem mein Bruder ausgefallen war, mussten meine Schwester und ich eine neue Arbeitsaufteilung schaffen. Früher war mein Bruder auf den Tender einer Lok geklettert, meine Schwester hatte die Kohlen unten eingesammelt und in die Rucksäcke verstaut, während ich Schmiere stand. Jetzt aber musste meine Schwester auf die Lok und ich unten beides besorgen. Einsammeln, einpacken und Schmiere stehen. Dabei wurde ich Knirps offensichtlich überfordert. Es kam, wie es kommen musste! Erwachsene durften sich bei solch einer Tätigkeit überhaupt nicht erwischen lassen. Das mindeste, was ihnen dabei drohte war, ab nach Sibirien – hieß es jedenfalls. Wir Kinder, so hofften wir, riskierten höchstens eine Tracht Prügel. Nun, um im Winter einen warmen Hintern zu haben, riskierten wir eben diesen durch Schläge zu bekommen, anstatt am warmen Ofen. Als wir in den Wachraum geführt wurden, stand dort ein riesiger warmer Kachelofen. Er bollerte richtig vor Hitze. Die Russen konnten sich da schon ganz anders mit Brennmaterialien versorgen als wir armen Würstchen. Würstchen wollte man auch uns machen, oder zumindest in den Ofen werfen, wobei demonstrativ der Ofen geöffnet wurde für die Frechheit, die wir begangen hatten. Klauen ist eine Sache, sich erwischen lassen, die andere Seite der Medaille. Soviel Angst, wie uns die Wächter des Bahnhofs einjagten, hatte der ganze Krieg in uns vorher noch nicht erweckt. Ich kann es nicht sagen, es wurde über solche Dinge auch später nicht mehr gesprochen, ob meine Schwester schon früher hatte dran glauben müssen. Um uns vor dem drohenden Feuertod zu retten, wie meine Schwester wohl meinte, ließ sie sich schon eher mit ihren nunmehr 11 Jahren lieber auf den Tisch legen. Eine Tracht Prügel hätte sie sicherlich vorgezogen, als das was nun mit ihr geschah. Weil der dritte es gar nicht mehr aushalten konnte, musste ich meinen Mund herhalten. Hinterher durften wir sogar die bereits eingesammelten Kohlen mitnehmen. Meine Mutter hätte bestimmt damals schon graue Haare deswegen bekommen, hätte sie es erfahren. Meine Schwester nahm mir deshalb, weil sie sich so etwas dachte, den Schwur ab, lieber davon der Mutter gegenüber nichts zu erwähnen, wie teuer wir diesmal unsere Kohlen eingekauft hatten. Überhaupt nahmen die Vergewaltigungen überhand. Es gingen zwei Beauftragte durch die Straßen und suchten uns auf. Wir wurden darauf hingewiesen, uns nicht einschüchtern zu lassen, wenn doch, uns soviel als möglich von solchen Unholden zu merken und dann zur Miliz zu kommen. Das sah in der Theorie ganz gut aus, die Praxis aber?
Ich fahre lieber fort die chronologische Reihenfolge meines Lebens aufzuzeigen.
Wir waren die besiegten Deutschen, wir hatten zu gehorchen.
Wieder sollte ein einschneidender Abschnitt für uns beginnen. Nur ganze 24 Stunden ließ man uns Zeit, das Nötigste (wieder einmal) zusammenzupacken und uns bereit zu halten. Ganze Hundertschaften durchkämmten die Trümmer, um nach Deutschen zu suchen, und ihnen davon Mitteilung zu machen, dass wir am nächsten Tag mit Sack und Pack auf der Straße zu stehen hätten. Abmarsch bereit! Was für einen Sinn hätte es ergeben, sich dagegen aufzulehnen oder gar weg zu laufen? Wir waren die besiegten Deutschen, wir hatten zu gehorchen, wie man vorher ja auch dem Schicklhuber[2] gehorcht hatte und dadurch in diese Lage gekommen war. Wie musste das doch erst die treffen, die an den Endsieg geglaubt hatten? Ich wusste nichts von einem Sieg über andere Rassen, der hätte erkämpft werden sollen. Ich wusste, dass wir von überall wieder vertrieben wurden, wo wir uns gerade eingelebt hatten. Die kleinen Gruppen auf den Straßen am nächsten Tag wurden zusammengetrieben. Ja, zusammengetrieben! Aus allen Ecken kamen sie zusammengeströmt. Die unübersehbaren drohenden Gewehre ließen es uns leichter fallen, den Weg zu gehen, den man uns wies. In den Reihen wurde schon gemunkelt, dass die Russen mit uns jetzt das gleiche tun würden, wie der Adolf es mit Juden und Russen getan hätte. Ich wusste nicht, was dieser gewisse Adolf mit diesen Leuten gemacht hatte. Was Juden überhaupt waren, wusste ich schon gar nicht. Die Erwachsenen hätten mich ruhig etwas besser darüber aufklären können, dann hätte ich später nicht soviel darüber nachlesen müssen. Ohne besondere Angst, die die Erwachsenen aber zu haben schienen, trottete ich schicksalsergeben im Strom mit. Auch meine Mutter, auf einem Dorf geboren und groß geworden, schien die Angst der Städter nicht so ernst zu nehmen. Auf dem vorbezeichnetem Güterbahnhof, wo meine Schwester mir noch einen Verschwörerblick zuwarf, stand ein langer, sehr langer – zu langer – Güterzug für uns bereit.
1949 ging es erst weiter.
Ich will ja gar nicht behaupten, dass wir dort wie das liebe Vieh hineingetrieben wurden oder wie Ölsardinen eingepfercht wurden, aber weit entferne ich mich damit nicht von der Wahrheit. Ich will ja auch keinen Roman schreiben. Eine Mischung aus Erlebtem und Wunschdenken. Keiner von uns Betroffenen hatte so einen Wunsch geäußert. Aber danach fragte auch niemand. Der Zug ruckte an, und ab ging es wieder einmal ins Ungewisse. Es hatte keiner für nötig gehalten, uns darüber aufzuklären, wohin wir unser Ticket gelöst hatten. Das Ticket hatten wir umsonst bekommen, weil wir Deutsche waren. Einen geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul. Warum der Zug bloß so langsam war? In Insterburg[3] sollten wir es erfahren. Entweder die Lokomotive war zu schwach auf der Brust oder der Zug war zu lang. Jedenfalls mussten ein paar Waggons abgekoppelt werden, bevor die Reise weiterging. Wir hatten das Pech im Unglück, am hinteren Ende des Zuges gelandet zu sein. Dabei waren wir doch morgens schon auf der Straße gestanden und hatten lange warten müssen, bis wir in Richtung Bahnhof marschierten. Kinder fühlen sich oft als ungerecht behandelt. Ich, wir, hatten nicht lange Zeit darüber nachzudenken, warum es so war, wie es war. Man verbrachte all die, die hatten aussteigen müssen, wieder in ein bestimmtes Stadtgebiet, und hieß uns so gut einzurichten, wie es eben ginge, es würde bald weitergehen. Wieder krochen wir über Trümmer, um das Nötigste zusammen zu suchen. Das Nötigste wurde immer mehr. 1949 ging es erst weiter.
Ich bekam so viele Fische, wie noch nie!
Für Insterburg kommen nur wenige Erinnerungen auf. Eine riesige Fischfabrik. Die lag aber auf der anderen Seite des für uns erlaubten Bezirkes. Dort hinüber zu kommen war gar nicht so leicht. Erst recht nicht für einen so kleinen Knirps wie mich. Einige Male gelang es mir über eine einigermaßen heile Brücke zu gelangen, indem ich mich so dicht an einen Uniformierten anschloss, dass es für die Wache aussehen musste, wir gehörten zusammen. Mit ein paar erbeuteten Fischen zurück zu kommen, war nicht ganz so schwierig. Dieser Trick zog aber nicht lange, ich wurde durchschaut und wieder zurück gewiesen. Dann ließ ich mich zusammen mit Arbeitern über die Memel rudern. So tuend, als würde ich meinen Vater von der Schicht abholen. Das ging auch ganz gut. Bestimmte Arbeiter kannten mich schon recht gut, und warfen mir auch schon Fische zu, ohne dass ich sie darum anbetteln musste. Nicht alle Arbeiter waren so freigiebig. Ich musste mich schon an die Schichten halten, wo ich etwas bekam. Einmal hatte ich doch glattweg die „Fähre“, bestehend aus einem größeren Ruderboot, verpasst. Einsam und verlassen lag unten am Ufer das Boot. Der Bootsmann machte Pause; auf der anderen Seite des Flusses erwarteten mich wieder ein paar Fische. Eine eingeplante Mahlzeit für die ganze Familie. Schmalhans war bei uns Küchenmeister, was würden die zu Hause für enttäuschte Gesichter machen, käme ich mit leeren Händen nach Hause. Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie, ich konnte und wollte sie nicht enttäuschen. In meiner Verzweiflung kletterte ich ins Boot. Was die anderen konnten, konnte ich auch. Ich hatte ja genau gesehen, wie es gemacht wurde. Alles sah so leicht und einfach aus. Ruderblätter aufnehmen, ins Wasser tauchen, kräftig drücken, Ruderblätter anheben, etwas zurück schieben und wieder eintauchen. – Schon die Größe des Bootes vertrug sich nicht mit der meinen. Meine Arme waren viel zu kurz geraten, um die Ruder (hoch bekommen hatte ich sie ja schon!) richtig einsetzen zu können. Also gut, dann eben immer nur ein Ruder eintauchen, rüberrutschen und das gleiche auf der anderen Seite. Hatte ich ja auch schon gesehen, beim Anlegemanöver. Schon beim dritten oder vierten Eintauchen wurden die Biester immer schwerer. Das Boot begann sich zu drehen. Ich verlor eines der Ruder. Es schwamm einfach davon. Am Ufer waren schon einige auf mich aufmerksam geworden. Mit guten Ratschlägen wurde nicht gespart. Ich verstand zwar das Russisch perfekt, doch meine Kraft reichte nicht aus, die Ratschläge in die Tat umzusetzen. Das Boot bewegte sich zwar, sogar ziemlich schnell. Aber flussabwärts. Immer weiter vom Ufer entfernte es sich. Panik erfasste mich. Nicht alleine weil ich das Boot nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, sondern weil sich auch die Fischfabrik immer mehr entfernte. Dann verlor ich auch das zweite Ruder. Ich kannte noch nicht einmal eine Badewanne, wie sollte ich schwimmen können. Unter den vielen Schaulustigen befand sich aber ein beherzter Mann, ein noch relativ junger Soldat. Der hatte seine Uniform abgelegt, und schwamm auf mein Boot zu. Unterwegs erhaschte er eines der Ruder. Er war noch nicht einmal böse auf mich. Er sprach nur beruhigend auf mich ein und konnte ganz geschickt mit dem einen verbliebenen Ruder umgehen. Als ich ihm, während er ruderte, erklärte, weswegen ich dieses Risiko eingegangen war, ruderte er mich doch tatsächlich zur Fischfabrik hinüber, wo ebenfalls alles Maulaffen feil hielt. Mein Retter rief ihnen zu, was geschehen sei. Ich bekam so viele Fische, wie noch nie! Da scherten mich auch die bösen Schimpfworte nur wenig, mit denen der Fährmann mich am jenseitigen Ufer bedachte. Später zollte er mir sogar so etwas wie Respekt. Bei jeder weiteren Überfahrt erzählte er meine Geschichte jedem, der sich im Boot befand.
Die Russen nannten mich nur noch Mischa, und man nahm mich überall mit hin.
Wieder verbrachte ich die meiste Zeit wie in Königsberg, Brot bettelnd und mich in den Markthallen herumtreibend. In den Markthallen bekam ich auch oft, augenzwinkernd von den Anbietern, eine kleine Kostprobe auf die Hand, wie es sonst nur interessierten Kunden zustand. Sonnenblumenkerne, Hirse, ein kleines Stück Melone oder anderes Obst. Selbst den Kefir schüttete man mir in die hohle Hand, und ich leckte diese Köstlichkeit ab.
Die Russen nannten mich nur noch Mischa und man nahm mich überall mit hin. Ob die Soldaten nun ihre Pferde ausritten, Manöver durchführten, ich saß meistens mit im Sattel. Ich konnte mich in den Ställen fast frei bewegen. Etwas Hafer fiel dabei auch für mich mit ab. Ich durfte bei allen Stallarbeiten mitmachen, ein Pferd reiten, sofern ich nicht gerade darauf bestand, dass mir jemand beim Satteln half. Diese Kosaken hatten ihren Spaß daran, mich auf ihren ungesattelten Pferden reiten zu sehen. Wie ich ihre Sprache immer besser erlernte, so lernte ich auch den Umgang mit Pferden und mich auf deren bloßen Rücken und ohne Zaumzeug zu halten. Man betrachtete mich als so etwas Ähnliches wie ihr Maskottchen. Nicht einmal die höchsten Vorgesetzten vertrieben mich. Nur einmal gingen sie doch etwas zu weit mit meiner Zugehörigkeit zu ihrer Truppe. Beim Wodka-Saufen und Machorka[4]-Rauchen hielt ich mich dezent zurück. Für solche Sachen war mein Gaumen denn doch zu zart. Aber nicht immer soffen sie Wodka, woher auch? Ich bekam fast immer, wenn ich Durst hatte und wir uns gerade auf dem Kasernengelände befanden, Kwas zu trinken. An einem heißen Sommertag, nach einem langen Ritt, hatten wir alle „Brand“ in der Kehle. Auf der Gemeinschaftsstube wurde auch gleich eine Pulle aus einem Versteck geholt. Diese Pulle begann zu kreisen. Dabei hatte ich doch nur ein Glas Kwas auf einen Zug hinuntergetrunken. Dass es nicht nur Kwas war, bemerkte ich erst, als es bereits in meiner Kehle wie Feuer zu brennen begann. Diese blöden Kosaken! Hatten sie doch fast reinen Sprit gesoffen, in ihrem besoffenen Kopp sich einen Scherz mit mir erlaubt. Mein minimales Körpergewicht und das Ungewohntsein nicht mit berechnend hatten sie mir nur ganz wenig, wie sie sich später entschuldigten, mit unter mein Getränk gemischt. Diese feigen Hunde. Sie hatten mich vor lauter Angst, weil ich einfach weggetreten war, auf einen Heuwagen oben aufgelegt, mich vor unser Trümmerhaus gefahren und mich dort samt einer Fuhre Heu, fast neben dem Eingang abgeladen. Damals schnarchte ich noch nicht so wie heute. Deshalb wunderte meine Mutter sich zwar über den Heuhaufen neben der Kellertüre, kam aber nicht auf die Idee, mich darin zu suchen. Sie lief mit meiner Schwester und ein paar hilfsbereiten Nachbarn die ganze Nacht herum und suchte mich überall. Aber eben nicht dort, wo ich meinen Rausch ausschlief. Da bewahrheitet sich wieder einmal altes Sprichwort, (wurde aber schon vor meiner Zeit erfunden). Warum in die Ferne schweifen, wo doch das Glück so nah?!
Ich war neun, als mir kaum noch etwas entging, worauf ich zielte.
Von Fisch schwärmten auch meine Kosakenfreunde. Nicht gerade von dem Salzfisch, wie er in der Fischfabrik zu haben war. Frischfisch musste es schon sein. Bei unseren Ausritten, die manchmal Tage dauerten, und auch gebiwakt wurde, schmeckt natürlich nur ein über dem offenen Feuer gegrillter Fisch so richtig nach Fisch. Dazu gab es dann auch noch in der heißen Asche in der Schale gebackene Kartoffeln. Hat jemand dagegen etwas einzuwenden? Kennen Sie jemanden, der bei Manöverausritten Angelzeug oder Fischnetze mitnimmt? Ich auch nicht! Eine Handgranate ins Wasser werfen, erfüllt den gleichen Zweck. Meistens reichte schon ein Wurf, um alle satt zu bekommen. Ich gebe ja zu, es war nicht die feine englische Art, aber so dicke hatten es die Soldaten auch nicht mit ihrer Verpflegung. Und wenn mal eine Wildente oder anderes mit dem Karabiner erlegt wurde, so wurden die fehlenden Patronen eben als Manövermunition abgeschrieben. Die Soldaten mussten doch in Übung bleiben. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Rückstoß erinnern, der mir fast die Schulter wegzureißen schien. Ich war neun, als mir kaum noch etwas entging, worauf ich zielte. Deshalb wohl auch meine guten Schießergebnisse später im Heim. Ich sag’s ja, wen die Russen erst mal in ihr Herz geschlossen haben, der hat fast Narrenfreiheit bei ihnen. Vor allem aber Kinder. Wo sie konnten, halfen sie damit wenigstens meiner Familie nicht zu verhungern. Trotzdem reichte es nicht hinten und nicht vorne.
meine Mutter draußen am Zug hängend
Es wurden Hamsterfahrten bis nach Litauen und Lettland unternommen. Dabei wäre meine Mutter beinahe ums Leben gekommen und ein anderes Mal meine Schwester. Bilder dieser sog. Hamsterfahrtszüge sind mir später noch oft untergekommen. Ich habe auch Kommentare darüber von anderen gehört. Von Menschen, die allerdings solche Fahrten nicht mitgemacht haben. Kein Kommentar zu diesen Kommentaren! Im Zuginneren saßen die Privilegierten und Delegierten und alle (?), die eine Fahrkarte besaßen. Der Rest schwang sich im Anfahren oder in einer langsamen Kurve noch auf den Zug. Die Plätze waren knapp. Knapper als die vielen Hungrigen, die es damals gab. So wurde jeder freie Platz ausgenutzt. Bis auf die Trittbretter (daher wohl auch der Ausdruck: Trittbrettfahrer..?) und sogar die Dächer wurden belegt. Hauptsache man kam ans Ziel, und mit etwas im Rucksack auch wieder zurück. Alles was man durch die Kriegswirren hindurch hat retten können und einigermaßen von Wert war, tauschte man gegen etwas Essbares ein. Die Bauern warteten ja direkt darauf. Nur wenige ließen sich erweichen, nur so aus christlicher Nächstenliebe etwas heraus zu tun. Z.B. waren Feuerzeuge und Feuerzeugsteine sehr gefragte Artikel. Dann verkaufte man ihnen eben Feuerzeugsteine, oder aus Patronenhülsen gebastelte Feuerzeuge. Dass die Feuerzeugsteine meist wertlos waren, merkten sie erst zu spät. Zur Probe hatte man natürlich echte, aber ansonsten taten es auch kleingeschnittene Fahrradspeichen. Fahrradschläuche und anderes Zubehör fand man schon noch in den Trümmern, wenn man nur aufmerksam genug suchte. Auf solcher Hamsterfahrt passierte es, dass meine Mutter draußen am Zug hängend beinahe von einem entgegenkommenden anderen Zug, an dem eine ebensolche Menschentraube hing, herunter gerissen worden wäre. Ein beherzter schneller Zugriff eines Mitreisenden bewahrte sie noch im letzten Moment davor. Ich sehe noch heute manchmal ihre weit aufgerissenen Augen, die auf mich gerichtet waren, als sie ihr letztes Stündlein glaubte überstanden zu haben. Mit nur einer Hand, und nur noch einem Fuß am Zug hängend, ihren schweren Rucksack auf dem Rücken, hatte selbst der Mann Schwierigkeiten, sie lange festzuhalten. Dann aber griff jeder zu, der in ihrer Reichweite war. Meine Mutter wurde mir so noch für 25 Jahre erhalten. Meine Schwester isst nun schon seit ihrem 12ten Lebensjahr keinerlei Eier mehr. Sie kann noch nicht einmal mehr Schokoladenostereier ohne Misstrauen ansehen. Auf einer der Fahrten durften wir mal wieder bei einem Bauern in der Scheune übernachten. Im Stroh fand meine Schwester ein Ei. Genauer gesagt ein schönes großes Gänseei. Dies finden, aufschlagen und ausschlürfen war bei dem ständigen Hunger selbstverständlich. Nicht lange danach wand sie sich bereits in Krämpfen, wie ich es später nur noch bei gebärenden Frauen beobachten konnte. Bloß gut, dass es damals noch Menschen gab, die nicht gleich wegen jedem Wehwehchen zum Arzt laufen mussten. Alles was die Natur einem antat, konnte man auch mit der Natur wieder heilen, wusste man. Wir mussten zwar länger als vorgesehen auf dem Bauernhof bleiben, aber meine Schwester kam durch. Erfreut sich heute noch bester Gesundheit, wenn man von ihrem Blutdruck und ihrem Übergewicht absieht. Aus mir ist ja letztendlich auch ein Prachtbursche von 172 Zentimetern und 65 Kilo Lebensgewicht geworden, trotz alledem, was ich Ihnen bisher von mir schildern konnte. Alle meine Söhne haben mich schon im Alter von ca. 13 Jahren in der Größe überflügelt. Ich gönne es ihnen; dafür brauchten sie auch keinen Tag in ihrem Leben zu hungern.
Fußnoten
[1] http://www.rp-online.de/kultur/kohlenklau-mit-gottes-segen-aid-1.6494204 fringsen
[2] gemeint ist Schicklgruber https://de.wikipedia.org/wiki/Hitler_(Familie)
[3] politisch korrekt: Tschernjachowsk https://de.wikipedia.org/wiki/Tschernjachowsk
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Machorka
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika! https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/ 04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/ PDF: 05-von-heim-zu-heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/ 06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen
Kapitel 7, Lockender Westen https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/ PDF 07-lockender-westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/ PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/ PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin
Kapitel 10, Bambule https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ PDF: 10-bambule
Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/06/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xi/ PDF: 11-losgelost-von-der-erde
Kapitel 12, Ihr Lächeln wurde um noch eine Nuance freundlicher. Süßer! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xii/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/12-sc3bcc39fer.pdf
Kapitel 13, Von Auerbachs Keller in den Venusberg https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/19/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiii/ PDF: 13-von-auerbachs-keller-in-den-venusberg
Kapitel 14, Ein halbes Jahr Bewährungsprobe. Wo? Im Heim! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiv/ PDF: ein-halbes-jahr-bewahrungsprobe
Kapitel 15, Spurensuche – und der Beginn in Dönschten https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/22/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xv/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/15-spurensuche.pdf
Kapitel 16, Was also blieb uns übrig, als aufs Ganze zu gehen? https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvi/ PDF: 16 Was also blieb uns übrig
Kapitel 17, War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvii/ PDF: 17 War es den Aufwand wert
Kapitel 18, Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie … https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/15/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xviii/ PDF: 18 der einzige „Mann“ in der Familie PDF: 18 der einzige „Mann“ in der Familie
Wie geht es weiter?
Kapitel 19, Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität.
Kapitel 20, Wie schnell sich doch die Weltgeschichte ändert!
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XVII
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Siebzehntes Kapitel
War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?![1]
Wie erwähnt: es gab nur wenige Momente, die mich gerne an diese Zeit zurück erinnern lassen. Zu diesen Momenten zählt nicht unbedingt die Begebenheit dazu, die ich im Schweinestall erlebte. Wissend, dass ich mich vor diesen ewig grunzenden Ungeheuern fürchtete, hob mich meine Mutter hoch. Anstatt mich mit dem Buhmann im Keller zu schrecken, weil ich ungezogen gewesen war, ließ sie mich mit ausgestreckten Armen über dem Schweinekoben schweben. Ich schrie und zappelte und versprach auch wieder ganz artig zu sein, wenn man mich bloß nicht zu den Schweinen reinsteckte.
Dann hatten wir da noch einen Gänserich (Ganter), der sich schlimmer aufführte als unsere Lore. Lore war unser Hofhund. Ein liebes Vieh, welches wir nach einiger Zeit auf der Flucht, wir mussten einmal in die, das andere Mal in die andere Richtung fliehen, bei unserer Rückkehr auf dem Hof mit durchgeschnittener Kehle im Kleiderschrank fanden. Lore war auch ein Opfer des Krieges geworden. Dieser Gänserich also hatte es sich zur Aufgabe gemacht, alles anzufauchen, was sich in seiner Nähe aufhielt. Zum Glück wurden wir beide von einem Maschendraht voneinander getrennt. Ich schiss mir ohnehin fast in die Hose, wenn ich mal im Spieleifer in die Nähe des Zaunes gelangte und plötzlich das furchterregende Zischen, das diesen Biestern eigen ist, hinter mir hörte. Seine Fressgier wurde dem Urviech dann aber zum Verhängnis. Meine erste (bewusste?) Untat beging ich in meinem Leben mit etwa drei Jahren. In der Tasche meiner Spielschürze (warum sollen Jungs keine Spielschürzen tragen?) hatte ich für meine Häschen leckeren Löwenzahn am Straßenrand gerupft. In meiner Sorglosigkeit, Kinder vergessen eben schnell das Böse, hielt ich mich eine Weile am Zaun auf, um Lore zu streicheln. Dabei hatte ich den Ganter ganz vergessen. Diesmal aber fauchte das Vieh mich gar nicht an. Es interessierte sich mehr für den Löwenzahn in meiner Schürzentasche. Oh Schreck, als ich mir dessen bewusst wurde, dass dieser hässliche Kopf in meiner Tasche steckte, machte ich eine Reflexbewegung. Mit beiden Händen umfasste ich diesen langen Hals, und drückte verzweifelt zu und zog, was ich ziehen konnte. Der sterbende Schwan[2] im Bolschoi Ballett in Moskau[3] hat mir besser gefallen, weil dort eleganter gestorben wird. Meine relativ kleinen Händchen hatten wohl zu fest und zu lange diesen Gänsehals zugedrückt. Als ich ihn endlich losließ, fauchte das Vieh gar nicht mehr. Nie mehr! Keiner konnte sich erklären, wie dieser Prachtbursche ums Leben gekommen war. Mich verdächtigte man am wenigsten.
Diese Backhendl waren nicht mehr zum Verzehr bestimmt.
Kaum hatte man den Tod des Ganters überwunden, in Kriegszeiten gab es nicht mehr allzu viele davon, da reduzierte ich schon wieder unseren Viehbestand beträchtlich. Dabei hatte ich es doch nur gut gemeint mit den kleinen Küken. Mutter hatte extra den Ofen angeheizt, die Klappe des Backofens geöffnet und ein ganzes Gelege kleiner Küken in einem Pappkarton auf diese Klappe gestellt. Ich mochte diese kleinen piepsenden, gelbflauschigen Küken wirklich sehr gerne. Sie taten mir richtig leid, wie sie so rumkrabbelten und wie es schien vor Kälte zitternd sich zu einem Knäuel in eine Ecke des Kartons zusammendrückten. Ich konnte mir das nicht mehr länger mit ansehen, wie diese süßen Geschöpfe in ihrem Käfig zitterten. Da niemand anders in der Nähe war, dem ich davon erzählen konnte, dass die Küken froren, schuf ich selbst Abhilfe, ich schob den Karton in den Backofen, wo es, wie ich mit der ausgestreckten Hand feststellen konnte, viel wärmer drin war, und machte auch vorsichtshalber noch die Ofenklappe zu. Diese Backhendl waren nicht mehr zum Verzehr bestimmt. Diese Missetat wurde mir auch sofort zugeschrieben. Mir wurde das geringe Alter zugute gehalten, deshalb bekam ich auch unter Berücksichtigung dieser mildernden Umstände nur so viele Stockhiebe, dass ich hinterher noch sitzen konnte. Was nicht immer so bleiben sollte. Später, wenn die Restfamilie, bestehend aus Schwester und Mutter mal beisammen saß, wurden solche Erinnerungen hervorgeholt. Mehr die, die ein wehmütiges Lächeln hervorbrachten, als die, die einen eher zum Heulen brachten. Aus eigener Erinnerung kommen dann noch Einzelheiten hoch, die aber nur schwach ausgeprägt sind. So merkte ich zwar, dass im Obstgarten ein kleiner Berg entstand, wusste ihn aber nicht zu deuten. Wie ich erst viel später erfahren sollte, waren die polnischen Arbeiter gehalten, für jedes Anwesen Luftschutzbunker auszuheben. Das war also der Berg gewesen, der im Obstgarten entstanden war. Das Innere dieses Berges mussten wir immer häufiger aufsuchen, um vor den hauptsächlich abgeworfenen Splitterbomben geschützt zu sein. Wovor schützten wir eigentlich unser Leben? Doch nur um das ganze kommende Elend bei vollem Bewusstsein miterleben zu können? Heute noch, obwohl, oder weil ich diesen ganzen Schlamassel überlebt habe, frage ich mich, ob es wohl den Aufwand wert war, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?! Nachdem wir mal für eine längere Zeit den Hof verlassen mussten und wiederkehren durften, war unsere Lore tot. Die Russen waren schon bis zu uns vorgedrungen. Einmal schafften die Deutschen es dann noch, diese wieder zu vertreiben. In der damaligen Propaganda hieß das wohl: Der Feind wurde vernichtend geschlagen…..oder so! So vernichtend aber konnte der Gegenschlag nicht gewesen sein.
Sehr bald schon mussten wir endgültig und für immer unsere Heimat verlassen.
Sehr bald schon mussten wir endgültig und für immer unsere Heimat verlassen. Zwar noch nicht Ostpreußen, aber doch unser Haus und alles was Generationen lieb und teuer geworden war. Ich zählte mich dazu. Es war ein beschissen kalter ostpreußischer Winter, als unsere Flucht begann. Es bildeten sich ganze Trecks. Doch keiner wusste so recht, wohin man flüchten sollte. Ich als der kleinste, wurde dick vermummt auf einen Schlitten mit dem Rest unserer Habe verpackt und in der Gegend herumgezogen. Durch einen kleinen Schlitz konnte ich dann auch manchmal die tieffliegenden Flugzeuge sehen, die dicht über uns hinweg flogen, eine Garbe abschossen oder gar Bomben fallen ließen. Mein Schlitten wurde einfachheitshalber in den Straßengraben gestoßen, und Mutter warf sich über uns Kinder. Aus dieser Zeit haben sich hin und wieder ein paar Nebelschleier der Erinnerung gelichtet. Keiner hatte mehr als das, was er an oder bei sich hatte, so wie wir noch unseren Schlitten. Niemand stellte mehr Besitzansprüche auf irgendwelche Gebäude oder Land. Gruppen, die sich zusammengeschlossen hatten, suchten ihre Nachtlager dort, wo es sich gerade ergab.
Soldaten wurden zu der Zeit ja noch so recht oder schlecht versorgt. Zivilisten waren in dieser Versorgung nicht mit eingeplant. Wurden ja auch nicht darum gebeten, sich an diesem Krieg zu beteiligen. Außer die halben Kinder und Greise, die Königsberg mit allen Mitteln zu verteidigen hatten. Nur, die Mittel zur Verteidigung waren mehr als begrenzt. Trotzdem brachten sie die Russen damit ganz schön in Rage. Diese sinnlose Verteidigung, wo es ohnehin nichts mehr zu verteidigen gab, machte die Soldaten ganz schön brutal. So kann ich mich erinnern, wie wir, inzwischen zu einem stattlichen Flüchtlingstreck angeschwollen, in langen Reihen, flankiert von Soldaten, an einem Haufen gefallener deutscher Soldaten vorbei marschieren mussten.
Viel später erst sind diese Bilder voll in mein Bewusstsein eingedrungen. Wir MUSSTEN unsere Köpfe nach rechts wenden. Alle! Dort standen zwei russische Soldaten, hatten auf Mistforken einen Uniformierten aufgespießt, diesen hochhaltend wurde uns erklärt, dass es allen Faschisten so ergehen würde, die sich gegen die ruhmreiche Sowjetarmee stellen würden.
Ich sehe heute immer wieder das Bild vor mir, wie eine Frau aus unserer Reihe ausscherte, eine weiße Windel ausgebreitet auf die Wasseroberfläche eines Sees legte, an dem wir gerade vorbeikamen. Auf diese sich langsam mit Wasser vollsaugende, untergehende Windel legte diese Frau ihren toten Säugling. Verhungert? Hunger gab es. Wir schrieen vor Hunger.
Der Kopf, der vor dem Bett lag …
Eine Szene, im Zusammenhang etwas gegen den Hunger zu unternehmen. Der Haufen Menschen, den die Not zusammen gewürfelt hatte, weil der Mensch nun mal ein Herdentier ist, fiel auf ein größeres landwirtschaftliches Gut ein. Verlassen wie fast alle anderen auch. Unser Treck hinkte wohl in vielem nach. Er bestand ja auch nur aus Frauen aller Altersklassen, ganz alten Männern, die wirklich kein Gewehr mehr halten konnten, und Kindern, die es noch nicht halten konnten. Alles schwärmte aus. Man fand ja damals an den unmöglichsten Stellen Verstecke, wo Vorräte gelagert wurden. Mutter war mit uns Kindern direkt ins Hauptgebäude eingedrungen. Wir schauten weniger in die Keller, als unter den Treppenstufen nach, und wurden fündig. Riesige, runde, selbstgebackene Brotlaibe fanden wir. Jeder hütete seinen Schatz. So fürs erste versorgt, nahm mein Bruder mich bei der Hand und wir erforschten auch noch die anderen Räume. In der Hoffnung, noch andere nützliche Dinge zu finden. Und wir fanden auch noch etwas. Ganz oben in der Dachkammer. Kaum dass wir die Tür geöffnet hatten. Gleich links hinter der Türe, dort stand ein Bett. In meiner kindlichen Unschuld, die ich ja noch besaß, begriff ich es ja noch gar nicht so recht. Doch mein elfjähriger Bruder, schon mit offeneren Augen durch das Leben gehend, schrie furchtbar erschreckt auf. Weil seine Hand die meine derart eingequetscht hatte, dass es schon sehr weh tat, konnte ich mich ebenso wenig bewegen wie er. Sein Sirenengeschrei lockte mehrere Erwachsene zu uns herauf. Wir wurden eiligst aus der Kammer geschoben. Der gebotene Anblick aber war in uns haften geblieben. Man sagt mir noch heute nach, dass ich mich des Öfteren nachts im Bett aufrichten und dabei schreien würde. Ich bin tatsächlich schon von meinem eigenen Geschrei wach geworden. Ob dieser Vorfall mit daran schuld trägt? Tote hatten wir ja schon einige gesehen, aber dieser Tote oben in der Dachkammer war doch etwas zu viel für ein zartes Kindergemüt. Das blauweißkarierte Bett war mehr rot als blauweiß. Der Körper, der darauf lag, auch. Der Körper und das viele Blut waren ja nicht einmal das schlimmste. Der Kopf, der vor dem Bett lag und uns mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, hatte die Nerven meines Bruders überstrapaziert und zu seinem Geschrei geführt. Die paar Liter Blut, die ein Mensch im Körper haben sollte, hatten sich ganz schön breit gemacht in dieser kleinen Dachkammer. Die Wand, das winzige Fenster, alles in rot gehalten. Ich selbst bevorzuge schöne helle Räume.
„Komm Frau, ficki-ficki“!
Seitdem? Der Krieg musste irgendwie zu Ende sein, in Königsberg zumindest, wo wir inzwischen angelangt waren. Die erdbraunen Uniformen herrschten im Trümmerstadtbild vor. Sah man mal die uns bekannte deutsche Uniform, dann immer nur im Haufen und von Gewehr tragenden Russen begleitet. Kein siegessicheres Lächeln auf ihren Gesichtern, wie man sie noch allenthalben auf Plakaten sehen konnte. Mit grauen, verhärmten Gesichtern, ließen sie sich wie eine Schafherde treiben. Wir sahen auch immer noch Flugzeuge am Himmel. Jetzt aber nicht mehr so tief fliegend. Und auf uns wurde auch nicht mehr geschossen. Überhaupt war es um uns viel ruhiger geworden. Die Schneeschmelze des Frühlings 1945 erlebten wir schon bewusster. Bei gutem Wetter, so sagte Mutter, könne man die Brauerei von Königsberg von „unserem Anwesen“ aus erkennen. Eine etwa 30-köpfige Gruppe hatte sich auf einem verlassenen Gehöft eingenistet. Mitten auf dem Hof gab es einen Ziehbrunnen. Rundherum waren die Gebäude verteilt. Herren und Gesindehäuser, sowie Schuppen und Scheunen. Meine Familie war mit im Herrenhaus untergekommen. Wenn nicht die tägliche Sorge um die Ernährung gewesen wäre, hätte man das Ganze für eine Idylle halten können. Wir Kinder brauchten uns nicht mehr bei jedem Fliegergeräusch zu verstecken, nur noch beim Versteckspiel. Wir spielten Fangen und winkten unseren „Befreiern“ zu, wenn sie auf der nahen Landstraße vorbei fuhren. Sie winkten größtenteils zurück. Mutter und andere Frauen besorgten den Gemüsegarten mit einer Akribie, die nur einer Bauerntochter zu eigen sein schien. Wegen der vielen Mäuse wurden Fischreste im Garten ausgelegt, um wild streunende Katzen anzulocken. Jeder ging seinen Interessen nach. Das meiste Interesse bestand darin, etwas Essbares aufzutreiben. Da man mich kleinen Steppke nicht immer mitnehmen mochte, wegen meiner kurzen Beine, hielt ich mich viel an der Schürze meiner Mutter auf. So auch als eines Tages ein Russenjeep an der Landstraße anhielt, ein Russe ausstieg und sich an den Gartenzaun stellte, wo meine Mutter gerade etwas zu tun hatte. „Komm Frau, ficki-ficki“, lockte der Mann sie an den Zaun. Ich sah auch, dass er seinen „Wasserschlauch“, nur viel größer als mein Piephahn, durch eine Masche steckte. „Schau gar nicht hin meine Junge“, sagte meine Mutter zu mir, und schraubte mit einem festen Griff meinen Kopf zur Seite. Man halte es meinem Alter zugute, dass ich sehr neugierig war. Gegen den Willen meiner Mutter, bekam ich dann aber doch das folgende mit. Die erigierte Vorfreude des Russen wurde ihm zum Verhängnis. Mutter hatte sich gebückt und versuchte den Kerl zu ignorieren. Sein immer drängenderes „ficki-ficki Frau komm“, wurde meiner Mutter zu bunt. Sie erhob sich, trat an den Zaun heran und, schwups zierte seine Männlichkeit ein schöner großer Hechtkopf. Sowas lag ja zum Anlocken der Katzen zwischen den Beeten herum. Helliger Bimbam, konnte der Kerl aber schreien. Mutter packte mich, rannte mit mir zum Haus, suchte in fliegender Eile ein paar Sachen zusammen, rief den anwesenden „Nachbarn“ etwas wegen meiner Schwester und meinem Bruder zu, und dann verschwanden wir für ein paar Tage zu einer anderen „Wohngemeinschaft“. Erst als uns Entwarnung gegeben wurde, vereinigten wir uns wieder mit dem Rest der Familie. Vergewaltigungen jeder Art waren inzwischen unter Strafe bei der Besatzungsmacht verboten. Wenige Monate zuvor hätte sich der Russe bestimmt nicht so zufrieden gegeben. Da hatten sie noch keinen Anstoß daran genommen, wie viele Zeugen dabei waren, wenn sie sich mit Frauen jeden Alters der Reihe nach gleich auf dem nächstbesten Tisch oder sonstwo vergnügten. Wobei das Vergnügen immer nur auf ihrer Seite war. Nicht einmal die anwesenden Kinder fanden so etwas lustig, wenn Mütter oder Schwestern schreiend sich zu wehren versuchten. Nebenprodukte des Krieges! Immer und immer wieder bei solchen Gelegenheiten praktiziert! Ein Brüderchen wurde mir durch solch eine Handlung geschenkt. Es überlebte diese Schande, unehelich geboren zu sein, nicht lange. Eine Typhusepidemie nahm ihn uns wieder. Wie durch ein Wunder überlebte unsere Familie auch diese.
Vergessen von der Welt mussten wir weiter für uns sorgen.
Während man laufend ausgemergelte Menschenkörper irgendwo nackt (die Sachen wurden dringend für die Überlebenden benötigt!) begrub, ihnen noch beim Wegtragen die Scheiße rauslief, rumorten unsere Eingeweide vor Hunger und Durst. Das Einzige, was wir hatten, war Wasser. Aber dieses durften wir noch nicht einmal trinken, weil es verseucht war. Mitten in der großen Scheune, wurde ein neuer Brunnen gegraben, und die alten Männer achteten streng darauf, wie in Zukunft der Brunnen behandelt wurde. Unsere Hauptnahrung bestand dann darin, dass wir Brennnesseln und Melde[4] sammelten und diese abkochten. Ich habe danach ca. 15 Jahre lang keinen Spinat mehr essen oder sehen können. In aller Herrgottsfrühe machten wir uns auf, um an den Tümpeln und Teichen Frösche zu fangen. Diese Beute nagelten wir dann mit dem Rücken auf kleine Brettchen, schnitten mit einer Rasierklinge vorsichtig ihre Bäuche auf, entfernten die Galle und die anderen Innereien, warfen den Rest in kochend heißes Wasser. Fleisch! Zart und sehr bekömmlich. Nur, viel zu wenig! Die Dachhasen vermehrten sich sehr schnell. Was machte es da schon aus, dass wir unter ihnen etwas Auslese trafen? Wenn ich rückschauend mein Leben betrachte, errechne ich, dass ich bis heute schon mehr Dach- als Stallhasen verzehrt habe. Allen Tierschützern, die sich jetzt empört oder angeekelt von meinem Buch abwenden, sei ins Album geschrieben, dass auch sie es vor lauter Hunger getan hätten. Eine andere Möglichkeit zu etwas Essbarem zu kommen war, sich an die Landstraße zu stellen (natürlich nur Kinder, weil Russen Kinder eben mehr liebten als die Faschisten?), auf die vorbeifahrenden Lastwagen zu warten, die Nachschub für die Garnisonen in und um Königsberg heranfuhren. Es waren immer offene Ladeflächen, wo bergeweise, die von uns so begehrten Kartoffeln und Kohlköpfe transportiert wurden. Oben drauf, auf den Kartoffeln oder Kohlköpfen, saßen meist zwei Begleiter der Fracht. Diese anzubetteln war die Aufgabe der Kleinsten. Zu diesem Zweck hatte man uns Standardsätze in Russisch eingepaukt. Kinder lernen schneller Fremdsprachen! Boschalista, Kartoschka-Kapusta, (Bitte, Kartoffeln-Kohl) riefen wir dann auch den Nahrungsbewachern auf der Ladefläche im Vorbeifahren zu. Oft hatten wir damit auch Erfolg. Bei denen, wo unsere Bettelei von Erfolg gekrönt war, handelte es sich wohl um Soldaten, die selbst jüngere Geschwister daheim hatten oder zumindest wussten, was Hunger bedeutet. Doch es gab auch viele, die gar nicht auf uns reagierten, uns höchstens Schimpfworte herunterriefen, von ihrem Thron.
Nun, Schimpfworte hatten wir selbst als erstes von ihnen gelernt. Diese wendeten wir dann eben auch an. Auf diese Weise bekamen wir auch sehr häufig unsere Kartoffeln oder Kohlköpfe. In diesem Falle allerdings warfen die so Beschimpften aus Wut darüber mit der begehrten Nahrung nach uns. Auch gut!
Dann erlebten wir noch eine Fettlebezeit. Zu Hunderten, ja Tausenden wurden direkt an unserer Straße Pferde Richtung Osten getrieben. Kriegsbeute? Ausgerechnet in unserer Nähe wurde jedes Mal eine Nachtrast eingelegt. Klar, dass die Russen nicht eines der Pferde wieder rausrückten. Was scherte die unser Hunger. Vollzählig mussten sie auch abgeliefert werden. Unseren Hunger wollten sie nicht akzeptieren. Ihren Sexhunger aber unbedingt bei Frauen und Mädchen stillen. Die glaubten doch tatsächlich, dass sich die Frauen dann auch mit ihnen aus Liebe in den Straßengraben legen ließen. Dabei konnten sie, leider zu spät für sie, hinterher feststellen, dass es nur aus Berechnung geschehen war. Ob nun vergewaltigt oder freiwillig, jeder verfolgte nur seine eigenen Wünsche. Nur, dass in diesem Falle die Frauen zweimal etwas Warmes in den Bauch bekamen. Nämlich, wenn die Besatzer am nächsten Morgen mit ihren Pferden weiterzogen, fehlte mindestens eins davon. Bis zum Abzug hatten die etwas größeren Bengels unter Anleitung der alten Männer, die noch dabei waren, eines der Pferde in den auf der anderen Straßenseite beginnenden dichten Wald getrieben, die Augen verbunden und immer neben einem verlassenen Schützengraben festgebunden. Wir Kinder spielten auf der Straße, mein Bruder musste auf der Mundharmonika spielen, wenn sich jemand näherte. Ein Keil, der sonst zum Holzspalten Verwendung fand, wurde dem Pferd an die Schläfe gesetzt und einer schlug mit einem Vorschlaghammer zu. Danach gab es wieder einige zeitlang Fleisch satt. Einmal, die Pferdetrecks tröpfelten nur noch so dahin, unterlief den Pferdeeinfängern ein gravierender Fehler. Sie hatten sich in der Eile und Dunkelheit eine Stute gegriffen. Als sie nun fortgeführt werden sollte, begann ihr Fohlen zu wiehern. Die Mutter antwortete. Aufgeschreckt von diesem kläglichen Wiehern unterbrachen die Wächter ihre Lieblingsbeschäftigung, zogen sich die Hosen wieder hoch und sahen nach dem Rechten. Diesmal hatten die dafür ausgelosten Frauen[5] nur einmal was Warmes im Bauch. Misstrauisch von dem Vorfall geworden, wurden zukünftig die Pferde gleich jeden Morgen vor dem Weitermarsch durchgezählt. Zwar wurde noch mal Beute gemacht, aber auch große Aufregung verursacht. Die Suche wurde aber dann doch nicht so intensiv betrieben, als dass man das Pferd fand, welches einwandfrei in der Herde fehlte. Der Abtrieb musste weitergehen. Dafür tauchte dann wenige Stunden später eine ganze Mannschaft aus der Garnison auf, die weiter suchte. Der alte Brunnen im Hof diente als Versteck und Vorratskammer. Erst als der wer weiß wievielte Russe mit einer Forke misstrauisch in dem aufgefüllten Brunnen herum stocherte, flog ein aufgescheuchter Fliegenschwarm aus dem Brunnen hoch. Sofort wurden daraufhin Äste und Laubwerk aus dem Brunnen geholt. Darunter kam dann das fein zerlegte Pferd zum Vorschein. Ob sie es selbst verzehren wollten? Das Kind, pardon, das Pferd war doch ohnehin in den Brunnen gefallen, da hätte man es uns auch lassen können. Zumal es doch einwandfrei den Deutschen gehörte. Aber nein, sie wollten unbedingt an ihrer Nachkriegsbeute festhalten. Alles wurde auf die Ladefläche des Mannschaftswagens geworfen. Bergauf fährt sich ein Auto doch ein wenig schwerer als herunter. Als der vollbeladene Wagen nun neben den Soldaten auch noch eine halbe Tonne Pferdefleisch auf die Straße fahren wollte, dabei über eine provisorische Brücke, die über den breiten Straßengraben gelegt worden war, verschoben sich die darüber gelegten Bretter und Holzbohlen, so dass der ganze Laster in den Graben rutschte. Fleisch und Soldaten purzelten herunter. Völlig entnervt gaben die Russen auf. Schimpfend und fluchend gelang es ihnen mit Mühe und Not den Wagen wieder aus dem Graben zu heben. Ohne Mitnahme des Fleisches nur noch wüste Drohungen für das nächste Mal ausstoßend fuhren sie ab.
Meine Mutter durfte sich sogar auf einen ausgebreiteten Militärmantel legen.
Diesmal wurde das Fleisch sofort an die einzelnen Familien verteilt und gleich eingekocht. Die Gesamtlage normalisierte sich immer mehr. Nur, Carepakete erreichten uns keine. Vergessen von der Welt mussten wir weiter für uns sorgen. Der Einfallsreichtum schlug Blüten. Das bisschen, was wir selbst anpflanzten und auch ernten konnten, reichte bei weitem nicht aus. Wir hängten uns große Beutel um und gingen Ähren lesen. Jedes Feld, was noch etwas hergab, im letzten Herbst noch angebaut worden war, wurde streng bewacht. Die Besatzer mussten ja auch von irgendetwas leben. In Schützenlinie gingen wir über die Felder. Keine einzige Getreideähre entging unseren Argusaugen. Wenn man aber Pech hatte, kamen, sobald die Beutel voll waren, aus irgendeinem Versteck die Russen hervor und forderten ihr Recht auf diese Ausbeute. Meistens lag ihnen aber mehr an den Frauen und Mädchen, als an den Körnern. Sofern sich die Frauen für das Korn entschieden und sich dafür freiwillig zeigten, wurde hinterher auch kein Wert mehr auf das Korn gelegt. Einmal, ich war mit meiner Mutter alleine zur Ernte gegangen, wir waren bereits mit einer kleinen Ausbeute auf dem Rückweg, tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, drei Soldaten auf. Wegrennen war nicht mehr drin. Wir waren umstellt. Diese Soldaten behaupteten ganz dreist, dass sie gesehen hätten, wie wir die Ähren von einem noch nicht abgeernteten Feld abgerissen hätten. Auf solch frevelhaftes Tun, Schädigung der Sowjetmacht, stand Bunker. Jeder wusste das. Auch meine Mutter. Die Soldaten ließen aber mit sich reden, wie sie sagten. Meine Mutter durfte sich sogar auf einen ausgebreiteten Militärmantel legen. Mit mir unterhielt sich ganz freundlich einer der Soldaten und versuchte mich abzulenken und aufzuheitern. Ich fand es aber gar nicht belustigend, als ich dann auch noch den Mantel später mit dem Schlüpfer meiner Mutter reinigen musste.
Aus irgendeinem Grunde, meine Mutter hatte gerade eine Nebenerwerbsquelle entdeckt, um an das kostbare Brot der Russen zu kommen, indem sie in der Zuckerrübenzeit Schnaps brannte, da wurden wir ausgesiedelt. Zum einen brauchten die Russen dieses Grundstück für ihre eigenen Zwecke, zum anderen wollte man die verbliebenen Deutschen zentraler zusammen haben und nicht überall verstreut rumlaufen lassen.
Außer Trümmer ringsherum gab es nichts.
Es begann sich so etwas wie eine Organisation herauszubilden. Nicht viel mehr als das, was wir auf dem Leibe hatten und per Hand mitschleppen konnten wurde uns erlaubt mitzunehmen. Uns wurde ein Stadtbezirk zugewiesen, wo wir zu verbleiben hatten. Das war dann auch schon alles! Außer Trümmer ringsherum gab es nichts. Wie die Ratten durchstreiften die hierher Verbannten diese Trümmer. In einem Haus, wo man nicht befürchten musste, dass es beim nächsten Sturm ganz zusammen fiel, wurden die Kellerräume vom Schutt befreit. In einem anderen Haus holte man sich unter Einsturzgefahr Dinge heraus, die zur Wohnlichbarmachung dienten. Aus einem anderen wurde ein noch brauchbarer Ofen herbeigeschleppt. Dort fand man einen Stuhl, woanders einen heilen Teppich. Es ging wieder bergauf mit uns. Aber wo hier in der Stadt an Essbares kommen? Katzen? Ja, die gab es hier auch. Das war ja schon etwas. Statt Kartoffeln suchten wir uns die Schalen aus den Mülltonnen der Russen heraus. Brot? Gab es. Hundertgrammweise. Unerschwinglich für die meisten. Es wurden dann auch Lebensmittelkarten verteilt. Wo man allerdings dafür etwas bekam, das stand in den Sternen. Selbst die Russen, die immer mehr wurden, standen Schlange, wenn es mal irgendwo etwas gab. Meine ersten Bonbons, die ich bewusst aß, erhielt ich, indem ich mich für Russen in die Schlange einreihte und die pro-Kopf-Ration einkaufte. Dafür bekam ich dann zwei oder drei davon ab. Ich lernte recht bald, mich selbständig zu bewegen. Immer weiter zog ich meine Kreise um unser „Zuhause“. Ich kannte fast jeden Stein in den Trümmern. So kam ich auch immer näher dem, was man wohl als City bezeichnen kann. Noch intakte Häuser oder schnell errichtete Baracken wurden für die Versorgung der Bevölkerung genutzt. Wir Deutschen gehörten allerdings nicht zur Bevölkerung in dem Sinne. Wir waren nur geduldet, bis sich für uns etwas Besseres finden würde. Was das auch immer heißen mochte. Solange mussten wir uns schon selbst über Wasser halten. Ohne die russische Sprache kam man schon gar nicht mehr klar. Ich lernte schnell. Musste aber auch die Erfahrung machen, dass man als Kind Erwachsenen gegenüber nicht allzu vertrauensselig sein durfte. Schnell war man in eines der unbewohnbaren Häuser gelockt und zur Lustbefriedigung missbraucht worden. Es war hinterher ganz schön lästig, seine Unterwäsche, die knapp bemessen war, wieder zu reinigen, bloß weil so ein Typ die Schenkel eines kleinen Jungen für seine Ersatz(?)befriedigung benutzt hatte. Oft fiel ja dabei wenigstens noch ein Stück Brot oder eine Hand voll Sonnenblumenkerne ab. Einen kleinen Beutel schleppte ich immer mit mir herum. Man konnte ja nie wissen, ob man bei seinen Streifzügen nicht irgendetwas Brauchbares fand oder bekam. Wie gesagt, es gab so etwas wie eine City, oder besser gesagt ein Einkaufszentrum. Dort trieb ich mich mit Vorliebe herum. Siehe Bonbons. Extra dafür eingerichtete Läden verkauften nur Brot. Es wurde grammweise verkauft. Dabei kam es fast immer dazu, dass nach Augenmaß vom Laib abgeschnitten das Gewicht nicht ganz hinkam. Also musste noch ein kleines Stück draufgelegt werden. Diese kleinen Stücke hatten meine Begierde geweckt. Verpackt wurde nichts, was man kaufte. Dafür musste man selbst sorgen. So sah man auch immer gleich, wenn einer aus so einem Laden herauskam, ob er ein kleines Stück dabei hatte. „Dada, deitje menja boschalista skuschoski kleb“, war mein Satz, mit dem ich versuchte ihr Mitleid zu erwecken. (Onkel, geben sie mir bitte ein Stück Brot, hieß das). Auf diese Weise trug ich etwas dazu bei, die Familie zu ernähren. Die Familie war inzwischen schon etwas kleiner geworden. Meinen Bruder hatte ein lettisches Ehepaar mitgenommen. Dieses Paar, selbst kinderlos geblieben, hatte sich sofort in meinen Bruder „verknallt“, als es mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zum Königsberger Markt gekommen war. Dadurch, dass wir unseren Wohnort gewechselt hatten, bestand kaum noch Aussicht, dass wir ihn je wiedersehen würden. Obwohl sich immer einer von uns auf dem Markt aufhielt, wenn dieser abgehalten wurde, wurde aus unserer Ahnung eine Gewissheit. Wir sollten ihn nie wieder sehen! Mein Vater später, der mich haben konnte, gab sich alle erdenkliche Mühe, ihn ausfindig zu machen. Staatsoberhäupter, wie Chruschtschow[6] hat er angeschrieben. Nie eine Antwort erhalten!
Fußnoten
[1] Zu diesem Kapitel gibt es einen Kommentar. Zurzeit ist er anzuklicken unter https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/09/das-ist-pornographie-roehrte-unser-klassenlehrer/ Später wird er im Anhang zum Buch seinen Platz finden.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_sterbende_Schwan
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Bolschoi-Theater
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Melden
[5] An solche Aktivitäten zur nicht korrekten Nahrungsbeschaffung wird Kardinal Frings wohl nicht gedacht haben. https://de.wikipedia.org /wiki/Joseph_Frings#Silvesterpredigt_1946
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Nikita_Sergejewitsch_Chruschtschow
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika! https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/08/02-ach-monika.pdf
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/09/28/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iii/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/ 04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/11/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-v/ PDF: 05-von-heim-zu-heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vi/ 06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen
Kapitel 7, Lockender Westen https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/ PDF 07-lockender-westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/ PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlinhttps://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/ PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin
Kapitel 10, Bambule https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ PDF: 10-bambule
Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/06/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xi/ PDF: 11-losgelost-von-der-erde
Kapitel 12, Ihr Lächeln wurde um noch eine Nuance freundlicher. Süßer! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xii/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/12-sc3bcc39fer.pdf
Kapitel 13, Von Auerbachs Keller in den Venusberg https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/19/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiii/ PDF: 13-von-auerbachs-keller-in-den-venusberg
Kapitel 14, Ein halbes Jahr Bewährungsprobe. Wo? Im Heim! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiv/ PDF: ein-halbes-jahr-bewahrungsprobe
Kapitel 15, Spurensuche – und der Beginn in Dönschten https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/22/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xv/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/15-spurensuche.pdf
Kapitel 16, Was also blieb uns übrig, als aufs Ganze zu gehen? https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvi/ PDF: 16 Was also blieb uns übrig
Kapitel 17, War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?! https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/03/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xvii/ PDF: 17 War es den Aufwand wert
Wie geht es weiter?
Kapitel 18, Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie …
Kapitel 19, Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität.
Kapitel 20, Wie schnell sich doch die Weltgeschichte ändert!
Zivilcourage
Zu meinem nur als Link[1] geposteten Hinweis wurde mir ein weiterer Fall mitgeteilt.[2] Dort geht es um Jobcenter und ähnliche Einrichtungen im Zuge der Hartz IV-Umsetzung.
Ich kann bestätigen, daß es vorkommt, daß Hartz IV-Empfänger zeitweise hungern müssen, weil ihnen nicht schnell genug geholfen wird – und ohnehin sind die Hartz IV-Sätze unzureichend, weil sie nicht regelmäßig der Teuerung angepaßt werden. Zudem basieren sie auf dem Preisniveau von Discountern, die nur selten in der Nähe von Sozialwohnungen zu finden sind.[3] Man sollte die Steigerung der Abgeordnetendiäten an die Steigerung der Sozialhilfesätze koppeln.
Aus eigener Anschauung kenne ich zwei Hartz IV Einrichtungen. In der einen – in einer westdeutschen Großstadt – gibt es zwar keine technische Sicherheitsschleuse, aber Sicherheitspersonal, das den Zugang zu den Mitarbeitern kontrolliert. In der anderen, in einer westdeutschen Mittelstadt, werden die Gespräche mit den „Kunden“ in einem Großraumbüro geführt, das zugleich Wartezone ist. Dort gibt es keine feste Zuordnung zu einem bestimmten Mitarbeiter. Bei einem erneuten Besuch muß sich der Kunde mit seinen doch recht intimen Anliegen vor allen Ohren auf eine andere Person einstellen. Die Vermittlungsstellen sind, soweit mir bekannt ist, und das sind mehr als die zwei erwähnten, nur über kostenpflichtige Service-Nummern erreichbar.
Der Sicherheitsbedarf der Mitarbeiter ist einerseits verständlich, wäre aber andererseits geringer, wenn die Kunden als Kunden behandelt und nicht als lästige Antragsteller hingehalten würden.
[3] Sozialwohnungen wären übrigens ein weiteres Thema.
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