Kinderrechte sollen ins Grundgesetz
Ja, aber ich glaub’s erst, wenn sie drin sind. Beurteilen kann man sie erst, wenn man sie sich kritisch anschaut: 1. Welche Kinderrechte kommen ins Grundgesetz? 2. Welche Chancen haben ihre Umsetzung in Politik, Justiz und Verwaltung? Es wird also noch dauern.
Als jahrelanger Beobachter der Situation kann ich nur gequält schmunzeln über den Fortschritt, der bekanntlich eine Schnecke ist – und ob’s ein Fortschritt wird, sehen wir erst später.[1]
Nun endlich nimmt sich die Politik auf höherer Ebene (Koalitionsvertrag) des Themas an. Eine Zusammenfassung gab es gestern in der Sendung „Hintergrund“ des Deutschlandfunks. Man lese nach![2]
Ob es zu einer 2/3-Mehrheit im Bundestag reichen wird, halte ich für fraglich, denn – wie üblich – werden die Kinder nicht nach ihren wohlverstandenen Interessen gefragt, sondern die Vertreter der Interessen anderer:
- Elternverbände
- Männervereinigungen
- Frauenvereinigungen
- Kirchen
- Parteien
- Sozial- bzw. Jugendhilfeträger
und am wichtigsten:
- die Länder und ihre Kommunen
Die Liste ist wohl nicht vollständig, so habe ich z.B. die Rechtsdogmatiker nicht erwähnt.
Wenn einer Personengruppe, die bisher nur im Paket „Familie“ mitgemeint war, eigene Rechte eingeräumt werden sollen, schmälert das die Rechte und den Einfluss anderer – oder deren Finanzen. Diese anderen werden alle Möglichkeiten nutzen, um ihren Besitzstand zu wahren.
Die Eltern und ihre Verbände werden auf das Elternrecht pochen und darauf verweisen, dass für deren Missbrauch der Staat ein Wächteramt habe. Es ist ja auch richtig, dass der Staat nicht ohne Anlass, also willkürlich/ideologisch in die Familien hineinregieren soll. Autoritäre Staaten in Vergangenheit und Gegenwart sind ein abschreckendes Beispiel, die Hilflosigkeit von Kindern in unserem System in bekanntgewordenen Extremfällen allerdings auch. Es wird also darum gehen müssen, Elternrechte gegen die wohlverstandenen Interessen des Kindes abzuwägen und passende Maßnahme durchzusetzen, wobei unbedingt die Meinung der Kinder erfragt werden muss. Richter sind oft dieser Aufgabe nicht gewachsen. Das sollte also eine unabhängige Fachkraft tun, die den Kindern ihre Entscheidungsmöglichkeiten und auch die Folgen freundlich vor Augen führt. Das bedeutet: qualifizierte Einzelarbeit, die ist teuer. Sind uns die Kinder das wert? Wer soll das bezahlen?
Fragen in Zusammenhang mit Inobhutnahme sind besonders schwierig. Kinder sind zuweilen hinundhergerissen zwischen der Liebe zu ihren Eltern, selbst wenn diese drogenabhängig sind [Parentifizierung] oder sie gar mißhandeln einerseits und andererseits ihren wohlverstandenen Interessen. Hier ist sehr viel Einfühlungsvermögen vonnöten, um den Kindern die Last der Verantwortung und die Schuldgefühle abzunehmen. Zu beachten ist der Zeitfaktor bei einer Unterbringung in einer Pflegefamilie. Oft ist hier eine Bindung entstanden, die stärker ist als manche Vorstellung von Blutsverwandtschaft. Die Vorstellung, dass soziale Elternschaft wichtiger ist als leibliche, ist vielen Menschen fremd. Sie denken nicht daran, dass es Aufgabe jeder Elternschaft ist, eine soziale zu werden.
Kinder bei Trennung und Scheidung sind dann besonders schlecht dran, wenn der Partnerschaftskrieg auf dem Rücken der Kinder ausgefochten wird. Im Hintergrund machen sich Männervereinigungen und Frauenvereinigungen stark. Auch sie folgen zumeist biologischen Denkmustern. Ein Kind gehört zur Mutter/zum Vater oder es hat Anrecht auf beide. Alles ist verheerend für Kinder, wenn die Eltern für das Kind nicht in erster Linie Eltern sein wollen – und es auch können. Zurzeit versuchen – vornehmlich – Männer, die oft unhaltbaren Entscheidungen der Familiengerichte auszuhebeln durch ein im Regelfall verpflichtendes Doppelresidenzmodell. Ob diese Aufteilung der Kinder von Fall zu Fall von den Kindern gewünscht wird und ob es für sie praktikabel ist, diese Frage interessiert nicht. Es kann und sollte in solchen Fällen immer darum gehen, im Einvernehmen mit den Kindern – möglichst auch mit den Eltern – eine kindgerechte, alltagstaugliche Lösung zu finden, die nach Kindesbedarf Flexibilität ermöglicht und auf Wunsch des Kindes auch wieder neu verhandelbar ist. Auch hier ist die Beratung und Begleitung von ideologisch unabhängigen Fachpersonal nötig. Mit der psychologisch-pädagogischen Fachkompetenz der Richter wird man wohl auch zukünftig nicht rechnen können.
Die Kirchen und andere Religionsverbände werden das Elternrecht in dem Sinne verteidigen wollen, dass diese das Recht auf religiöse Erziehung bis zur Religionsmündigkeit behalten sollten. Das ist problematischer als es aussieht. Denn es beinhaltet das Recht auf Beschneidung minderjähriger Jungen, was eindeutig dem Kinderrecht auf Unversehrtheit entgegensteht. Von dort ausgehend machen manche Agitatoren auch Front gegen die Kindertaufe; ein Kind solle unbehelligt von jedweder Religion aufwachsen, bis es sich selber entscheiden kann. Das ist völlig lebensfremd.[3]
Die Parteien sind, wie der Rundfunkbeitrag zeigt, unterschiedlicher Meinung.[4] Nach meiner Einschätzung haben alle kein besonderes Interesse an Kindern, sondern nur an ihren Wählergruppen. Das ist systembedingt. Sie werden jeden Entwurf für Kinderrechte im GG in ihrem Interesse beeinflussen, verwässern und Hintertürchen aufhalten[5]. Also brauchen wir nicht nur die Kinderrechte im GG, sondern auch Wahlrecht für Kinder, das zunächst wohl eine Art Familienwahlrecht wäre bis die Kinder eigene politische Vorstellungen haben. Dann, aber erst dann würden die Parteien Familien und Kinder umwerben und ihnen die Aufmerksamkeit geben, die ihnen gebührt.
Ein schwieriges Kapitel sind die Sozial- bzw. Jugendhilfeträger, denn die Rechte dieser Lobby sind festgezurrt. Ich habe es in einem Beitrag hier im Blog dargestellt.[6]
Am übelsten jedoch ist die Lobby der Länder und ihrer Kommunen, denn die sind – wie die Elternrechte – schon im Grundgesetz verankert und sie wollen nicht zahlen. Darum hintertreiben sie seit Jahrzehnten alle kostenträchtigen Gesetze, auch die, die für das Kindeswohl förderlich sind. Und sie achten auf ihre Hoheit. Besonders sie also sind der Hauptgegner, wenn es um die Umsetzung von Kinderrechten im Grundgesetz geht.
Das sind die Nebenwirkungen des Föderalismus; wir kennen sie aus verschiedenen Bereichen. Ich nenne nur die Schulpolitik und mag gar nicht weiter darauf eingehen. Auch die Pflegeschlüssel sind von Land zu Land unterschiedlich. Ist doch logisch, dass der Pflegebedarf in Bayern ein anderer ist als in Meck-Pomm.
Fußnoten
[1] Einen Katalog von Defiziten und Forderungen habe ich schon in meiner Tagungsreihe Kinderkram publiziert und später, 2011 in meinen Blog gestellt:Dierk Schäfer, Für eine neue Politik in Kinder- und Jugendlichen-Angelegenheiten https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/10/fc3bcr-eine-neue-politik.pdf
[2] http://www.deutschlandfunk.de/nach-jahrzehntelanger-debatte-kinderrechte-sollen-ins.724.de.html?dram:article_id=416242 Sonntag, 22. April 2018
[3] Dierk Schäfer, Die Zurichtung des Menschen – auch ohne Religion https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/04/18/die-zurichtung-des-menschen-auch-ohne-religion/
[4] http://www.deutschlandfunk.de/nach-jahrzehntelanger-debatte-kinderrechte-sollen-ins.724.de.html?dram:article_id=416242
[5] „Also, Herr Referent, der Gummizug ist schon ganz nett, vergessen Sie aber nicht die Verwässerungsanlage und das Hintertürchen.“ Fund: Archiv Dierk Schäfer
[6] Dierk Schäfer, Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, 24. Juni 2015, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/
#Kinderrechte ? Inklusion macht Kinder zu Verlierern
Allen Inklusionsbegeisterten sei der Praxis-Bericht von Ralph Gehrke empfohlen: Inklusion als Sparpaket. Gehrke ist Lehrer an einer integrierten Gesamtschule.[1]
Aus ©-Gründen hier nur ein paar Zitate aus dem Artikel:
»Wer sich nur ein bisschen mit Bildungspolitik beschäftigt, weiß, dass sie als Experimentierfeld für Neuerungen, sogenannte Reformen, benutzt wird, von denen nicht sicher ist, wie sie ausgehen. Nun wird eben inklusiver Unterricht praktiziert. Hauptsache, es sitzen möglichst bald sämtliche Kinder mit Behinderungen irgendwo in einer Regelschule und sollen ohne Ansehen ihrer speziellen Handicaps teilhaben an einem Rennen, bei dem kaum eines mithalten kann. Denn der für eine Qualifikation für den Arbeitsmarkt mindestens notwendige Hauptschulabschluss bleibt für die allermeisten mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein utopisches Unterfangen.«
Diese Einschätzung entspricht auch den Rückmeldungen, die ich aus dem Schulsektor bekomme.
Wie sieht das praktisch aus?
»Für FÖRDERSCHULEN gilt grundsätzlich eine Doppelbesetzung für jede Schulstunde, und das, je nach Schwerpunkt, bei einer Schülerzahl von sieben bis zwölf Kindern pro Klasse. Eine faire Inklusion müsste, so sollte man erwarten, dieses Zahlenverhältnis in Relation auf den Unterricht der Regelschule übertragen.«
Das geschieht jedoch nicht, jedenfalls nicht im als Beispiel gewählten Bundesland Niedersachsen.
In der REGELSCHULE wird »der Verteilungsschlüssel pro Kind gerechnet, und demgemäß hat es, gemessen an der spezifischen Art seiner Behinderung, ein Anrecht auf gerade mal drei bis fünf Stunden in der Woche. Die sonderpädagogische Fachkraft schaut zweimal in der Woche für eine oder zwei Stunden rein.«
Wie war es bisher?
»Kinder mit geistigen oder psychomotorischen Einschränkungen wurden bisher exklusiv auf die Sonder- und Förderschulen verwiesen. Das ist jetzt anders. Mit der Anwendung der UN-Behindertenrechtskonvention sollten sie oder ihre Eltern die Wahl haben, ob sie die Regelschule besuchen oder eine Förderschule.«
Aber die Wahlfreiheit wird heute schon stark eingeschränkt. Sie wird »dadurch reduziert, dass die Förderschulen in ihrer unmittelbaren Nähe geschlossen werden, und zwar in einem Tempo, das man von Behörden sonst nicht kennt. Auffällig ist, dass in niedersächsischen Schulbezirken immer seltener Gutachten vor der Einschulung erstellt werden, auf die Erziehungsberechtigte sich berufen könnten. Die erste Anlaufstelle für ihr Kind sei die Regelschule, kriegen sie zu hören. Wer sich gegen solche administrative Trägheit nicht zu wehren weiß, hat sein Recht auf Förderung aufgeschoben, und das Kind sitzt fest in der Grundschule. Damit ist ein erstes Ziel der Inklusionspolitik erreicht. Wo kein Sonderförderbedarf attestiert ist, entfällt auch die entsprechende Unterstützung. Es müssen keine zusätzlichen Fachkräfte bereitgestellt werden. Der wesentliche Zweck von schulischer Inklusion scheint die Personaleinsparung zu sein.«
Warum wehren sich die Eltern zu spät?
»Wer ein behindertes Kind hat, erfährt hautnah, wie sehr man von der Hoffnung abhängt, sein Kind möge sich vielleicht doch „normal“ entwickeln. Beherrscht von solchen Gedanken, fällt es dann schwer, sich einzugestehen, dass der inklusive Schulweg den besonderen Förderbedarf nicht erfüllt und daher mehr schädlich ist als förderlich.«
Wie steht es mit der angestrebten Solidarität zwischen behinderten und nicht-behinderten Kindern?
»Toleranz wird uns nicht in die Wiege gelegt, sondern ist ein Verhalten, das wir uns erst im Laufe unserer Sozialisation mehr oder weniger aneignen. Kinder im Schulalter können, ohne dass sie dafür vollends verantwortlich zu machen sind, intolerant und fies sein, indem sie vermeintlich Schwächere, also auch Behinderte, hänseln (neudeutsch mobben), egal, wie hoch inklusive Werte an ihrer Schule gehalten werden. Das ist nicht zu verhindern.«
Und die Sonderpädagogen aus den aufgegebenen Förderschulen?
»Für sie beginnt ein neues, inklusiv bewegtes Lehrerleben. Ihre Stundenkapazitäten werden, in kleinste Einheiten gesplittet, über die Schullandschaft in ihrem Bezirk verteilt, wo sie, erst hier, dann dort und später anderswo, ihre fachlichen Fähigkeiten in den Regelschulbetrieb bringen sollen. Irgendwann auf den Endlosdienstfahrten wird der einen oder dem anderen vielleicht klarwerden, dass die wichtigste Qualifikation für den Job nicht das Staatsexamen ist, sondern der Führerschein.«
Der Autor hat sein Augenmerk auf die behinderten Kinder gelegt und auch an seine Kollegen aus den Förderschulen gedacht.
Was fehlt und die Angelegenheit noch gravierender macht, ist die Lernbehinderung, die die nichtbehinderten Schüler erfahren. Wer im Stoff nicht mitkommt – und das ist das Merkmal der Schüler mit besonderem Förderbedarf in den Regelschulen – wer nicht richtig mitkommt, hält den Unterricht auf. Ich erinnere mich an den Leiter einer Bildungsberatungsstelle. Er war der Meinung, die stärkeren Schüler sollten halt so lange auf der Stelle treten, bis die schwächeren nachgezogen haben. Das machen die aber nicht. Die einen werden in vielen Fällen nicht nachziehen können und die anderen treten nicht auf der Stelle, sondern stören den Unterricht – und Eltern, die an die Zukunft ihrer Kinder denken, sind aus guten Gründen nicht tolerant, denn sie wissen, dass es auf dem Arbeitsmarkt keinen Rabatt gibt. Dort zählt Leistung. Das mag man bedauern, doch so ist es.
Wir können uns die Inklusionsträumereien nicht leisten. Sie schaden beiden Schülergruppen. Doch das scheint egal. Die Länder – und viele Eltern – predigen ideologische Ziele, der Staat aber weiß, dass er sparen kann. Und er tut’s ohne Rücksicht auf die Zukunft der Kinder und des Landes. Um die Defizite können sich dann ja die Nachfolgepolitiker kümmern.
[1] Der Bericht erschien leider nur in der Print-Ausgabe der FAZ vom 7. April 2016, Seite 8. Wer mir seine Mailadresse schickt, kann den Scan zur privaten Nutzung von mir bekommen.
1 comment