Dierk Schaefers Blog

Weihnachten zwischen Kunst und Kitsch

Posted in Gesellschaft, Kunst, Religion by dierkschaefer on 21. Dezember 2014

Das Reich Gottes ist mitten unter euch!

oder

Zwischen Kunst und Kitsch

 

Bethlehem liegt in der Provence, und Jesus ist in Südfrankreich geboren! So die Pastorale des Santons de Provence, die Südfranzösische Weihnachts-geschichte. Und warum auch nicht? Das Reich Gottes ist mitten unter euch! (Lk 17, 21) Von dieser Zusage ermutigt haben die Menschen immer wieder die Geschichten der Bibel nicht nur in ihre Sprache übersetzt, nein, auch in ihre Landschaft, in ihren Kulturraum, in ihre Zeit herübergeholt.

Theologen versuchen mühsam auf dem Weg des Verstandes den garstigen breiten Graben zwischen damals und heute auszuloten. Sie entwerfen Konstruktionspläne für einen tragfähi­gen Brückenschlag.

Die Künstler taten sich da schon immer viel leichter. Mit Pinsel und Feder, Spiel und Musik entwarfen sie immer wieder aufs neue mit den Ausdrucksmitteln ihrer Zeit und Kunst für ihre Zeitgenossen die Vision des Reiches Gottes unter den Menschen: Die Architektur der Gebäude des Isenheimer Altars ist die aus der Zeit Grünewalds, die Gesichter der biblischen Gestalten sind, wie die Mode auch, die der jeweiligen Zeitgenossen. Die Maltechnik ist ‚modern’. Symbolik und Emblematik sind auf der Höhe der Zeit. Denn nur so sind sie verstehbar.

Das gleiche gilt für die geistliche Musik: Passionen und Oratorien, Choräle und Requiems, sie alle sollen deutlich machen: Das Reich Gottes ist mitten unter uns in unserer Zeit. Was die gebildeten Zeitgenossen verstanden, wurde für die einfachen Leute in populäre, unmittelbar eingängige Form und Sprache umgegossen, wenn nicht von Fall zu Fall die künstlerische Fassung die stilisierte Version längst etablierter Volkskunst war. Der Abstieg aus der hohen Kunst rächt sich bis heute. Von verwilderten Bräuchen ist die Rede, wenn in den Neapolitanischen Krippen das pralle Volksleben und Markttreiben dargestellt wird, das keinen Bezug zum In-die-Welt-Kommen Gottes zu haben scheint.

Auch die französische Pastorale wird weitgehend ignoriert. Der Tourist entdeckt in der Provence die niedlichen kleinen Tonfiguren[1], die in ihrer Schlichtheit jede künstlerische Ambition zu leugnen scheinen. Eine Mischung aus Kunstgewerbe und Folklore. Aber Text und Noten aufzutreiben, gerät zum Abenteuer. Viele Franzosen in Südfrankreich haben ein­mal etwas von der Pastorale gehört. Ein freundliches, hilfsbereites Lächeln ist ihre erste Antwort auf die Nachfrage. Doch dann scheitern zum eigenen Erstaunen der Angesprochenen ihre Hilfsbemühungen. Weder der Bischof von Montpellier, noch der Abt von Arles wurden für uns fündig. In keiner Musikalienhandlung war die Partitur aufzutreiben. Schließlich konnte eine Bibliothekarin aus Nîmes einzelne Versatzstücke der traditionellen Musik besor­gen. Die noch fehlenden Chorsätze, Melodien und Soli mußte unser musikalischer Bearbeiter ergänzen. Dabei werden im laizistischen Frankreich teure und lang zuvor ausver­kaufte Weihnachtsmessen aufgeführt, in denen die Weihnachtsgeschichte und die Santons, die heiligen Herr und Frau Jedermann eine unlösbare Verbindung gefunden haben. Daneben haben viele Gemeinden ihre jeweils eigene, nicht schriftlich fixierte Tradition, mit Gesang und Spiel die provençalische Weihnacht in der Art der Pastorale darzustellen. In sehr vielen Familien spielen die Krippenfiguren eine so große Rolle wie bei uns der Weihnachtsbaum. Dann werden sie auch in Messen und Aufführungen wieder lebendig und erzählen von der Menschwerdung Gottes und der Entstehung der provençalischen Krippe durch die Verwand­lung der Provençalen in Santons.

Das Reich Gottes ist mitten unter uns: Bethlehem in der Provence. Zu den biblischen Herren Jedermann, den Hirten, und den exotischen Königen rückte die fromme Legende schon früh Ochs und Esel an die Krippe Jesu. Was sprach dagegen, den Kreis zu erweitern? Die Heiligen Marien waren ja ohnehin schon nach ihrer Flucht an der Rhônemündung gelan­det und zu Provençalen geworden. Wenn man die heiligen Personen in seine Landschaft transferiert, warum nicht auch sich selbst in die heiligen Geschichten?

Und so sehen wir die Menschen von Bethlehem vor uns, wie sie die naive Volkskunst porträtiert:

Der Müller ist Faulpelz und Hahnrei zugleich. Der Zigeuner, dem Verband der Sinti und Roma sei’s geklagt, wird als Hühnerdieb dargestellt. Sein Kontrahent, der Polizist, der ihn endlich stellen kann, hat aus lauter Bonhomie seine Waffe nie geladen. Und dann das komi­sche Paar Honorine und Pistachié: Er, der Tolpatsch, der bei der Jagd immer daneben schießt und sie, die den Leuten nicht mehr ganz frische Fische andreht und ein Mundwerk hat, von dem Heine gesagt hätte, es sei eine Guillotine für jeden anständigen Namen. Da ist Felix, bei dem man nicht so recht weiß, ob man in ihm mehr den Dorftrottel sehen oder ihn um sein glückliches Naturell beneiden soll. Er erklärt dem Blinden, was in der Welt geschieht: wie die drei Könige aufziehen, ihr Aussehen und ihre Geschenke.

Schließlich das Liebespaar Mireille und Vincent mit ihrem habgierigen, hartherzigen Vater. Sie sind dem Vers-Epos von Frédéric Mistral entsprungen, mitten hinein in die Erzäh­lungen des Volkes. Sie alle und noch weitere landschaftstypische Personen aus der vorindustriellen Welt, die dennoch nicht als Idylle verstanden werden will, werden durch die Geburt Jesu in der heiligen Nacht verwandelt. Sie werden im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut und freundlich, sie werden den anderen Menschen ein Mensch.

Damit das anhält, erfolgt die zweite Verwandlung auf dem Fuß: Sie erstarren in ihrer liebenswürdigen, geläuterten Art zu den kleinen Heiligen, den Santons, und werden so in ihrer Reinheit bewahrt für die Ewigkeit. Und selbst der bis zum Schluß widerspenstige Roustido, der Vater Mireilles, willigt schließlich in die Eheschließung ein, nachdem nicht er den Hausstand der Brautleute zahlen muß, sondern dafür die Schatulle der Heiligen drei Könige in Anspruch genommen werden kann. So geht auch er in würdiger Pose in die Krippenge­sellschaft Jesu ein: Er legt die Hand seiner Tochter in die des armen, aber schmucken und ehrlichen Vincent, Stierhüter und Tanzmusiker in der Camargue.

Diese Gradwanderung zwischen Kunst und Kitsch wird ermöglicht durch die immer wie­der durchscheinende Distanz schmunzelnden Wohlwollens für menschliche und auch göttliche Unzulänglichkeiten. Oder sollten wir lieber von allzumenschlichen Schwächen sprechen, von denen auch der stolze, frisch gebackene Gott-Vater nicht verschont bleibt? Dieses distanzierende Wohlwollen ist zumeist mehr als nur oberflächliche Komik, sondern meint ganz hintergründig tiefer liegende Widersprüche in der Logik der Weihnachts­geschichte.

Was wir auf der Textebene beobachten, wiederholt sich in der Musik: Auch hier das Ineinander von volkstümlichen Melodien mit großer Musik: Weihnachtslieder und Bizet’s Oper, kunstvolle Chorsätze und einfache Choräle, dazu volkstümliche Tänze – ein buntes Stilgemisch mit dem Reiz eines Feldblumenstraußes.

Die Geschichte der Santons ist nicht so leicht abzugrenzen. In der Provence findet man weihnachtliche Szenen bereits auf frühchristlichen Sarkophagen und an den herrlichen Säulenkapitellen im Kreuzgang von St. Trophime in Arles. Doch die Tradition der szenischen Darstellung des Geschehens an der Krippe kam wohl aus Italien. Im Zeitalter der Gegenreformation erlebte das Krippenspiel einen Aufschwung in dem Bemühen nach noch mehr Anschaulichkeit und Volksnähe. In dieser Zeit entstand auch ein großer Teil des provençalischen weihnachtlichen Liedguts, so daß die Darstellung des Weihnachtsgeschehens bis in die Familien hinein beliebt und gebräuchlich wurde. Die Anfänge der heutigen Form der Pastorale datieren aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts. Eine wesentliche Popula­risierung brachte im vorigen Jahrhundert die Ausweitung der Krippendarstellung im engeren Sinne auf landschaftstypische Personen mit ihrer volkstümlichen Rollenaus­gestaltung. Das Handwerk des Santonnier, des Krippenfigurenherstellers, blühte auf. Es gibt jährliche Krippen­figurenausstellungen in Marseille und ein im Auftrag der UNESCO entworfenes Krippenmodell wird seit neuestem von einem Santonnier in St. Rémy hergestellt.

Wenn auch an einzelnen Orten noch Sprecher, die der provençalischen Sprache mächtig sind, gefunden werden können, scheint man sich heute meist an die französische Fassung von Yvan Audouard zu halten, der mit seinen Anachronismen den Text ausgesprochen lebhaft, amüsant und leicht zugänglich gestaltet hat. In der auf Kassette und Schallplatte verbreiteten Version vermittelt der Akzent des Midi den ganzen Charme dieser Landschaft. Allerdings haben sogar manche Franzosen Schwierigkeiten, die Sprache auf Anhieb lückenlos zu ver­stehen.

Natürlich lassen sich in einer deutschen Bearbeitung nicht alle Kostbarkeiten dieser Fassung übertragen, will man das Stück nicht durch erklärende Fußnoten zu einem Lehrstück für französische Literatur- und Landeskunde verfremden. Darum wurde auch auf eine Über­setzung im engeren Sinne verzichtet, sondern einer sinngemäßen Übertragung der Vorzug gegeben. Der Text mußte mit Rücksicht auf seine Aufführbarkeit im Rahmen einer Schulproduktion um manche reizende Szene gekürzt werden – und doch ist wohl auf sympathische Art das deutlich geworden, was den Reiz der Pastorale ausmacht. Die Präsenta­tion einer Utopie, zwar nicht real, aber doch zu Herzen gehend und Mut machend:

Das Reich Gottes ist mitten unter uns!

 

dierk schäfer[2]

 

[1] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/3153433875 https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/3971447132/in/photolist-73WGSq-4QsrQw-5NJAcw-5NEb2z-i4QNP5-9fC3Ni-i4QS9S https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2517421938

[2] aus Bethlehem Provence, http://www.amazon.de/Bethlehem-Provence-Eine-Weihnachtsgeschichte-Nachspielen/dp/393736756X

http://bookview.libreka.de/retailer/urlResolver.do?id=9783937367576&retid=100355#X2ludGVybmFsX0ZsYXNoRmlkZWxpdHk/eG1saWQ9OTc4MzkzNzM2NzU3NiUyRkZDJmltYWdlcGFnZT0mX19zdGI9U3VjaHRleHQ=

 

 

»Ich will, anstatt an mich zu denken, …

Posted in Politik, Psychologie, Theologie by dierkschaefer on 13. März 2012

… ins Meer der Liebe mich versenken«.

Es ist schon sehr interessant, daß sich – soweit ich sehe – anläßlich des jüngsten Großen Zapfenstreichs niemand für den Text interessiert hat. Man las zwar vom Kommando »Helm ab zum Gebet“, doch was da, wenn auch ohne Worte, gebetet wurde, hat sich wohl kaum jemand angeschaut. Dem Musikstück ist eine Liedstrophe von Gerhard Tersteegen unterlegt. »Ich bete an die Macht der Liebe« lautet die erste Zeile, die auch dazu geführt haben dürfte, daß sie gern bei Eheschließungen verwendet wird.

Doch bleiben wir zunächst bei »ich will, anstatt an mich zu denken«. Das paßte vorzüglich auf den Geehrten des letzten Zapfenstreichs; ich will darauf nicht weiter eingehen. Doch abgesehen von dieser besonderen Peinlichkeit ist zu fragen, ob die sonst mit dem Großen Zapfenstreich bedachten Personen diesem Anspruch gerecht werden. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch generell muß man fragen, ob diejenigen, die bis zu einer Position gelangt sind, in der man mit Zapfenstreich geehrt wird, mit einer solchen selbstlosen Maxime überhaupt dorthin gelangen konnten. Wir wissen ja, daß „Minister“ eigentlich „Diener“ bedeutet, der „Ministrant“ erinnert noch an diese untergeordnete Funktion. Minister und andere „Großkopfete“ treten aber anders auf, außer wenn sie medientauglich Kinder streicheln. Auf einer Veranstaltung zur Berufsethik in der Polizei sagte ein Polizist aus dem Plenum: Das habe man gern, mit den Ellenbogen an die Spitze gekommen zu sein und sich dann umdrehen und Berufsethik predigen. Manche Industrie-Magnaten wurden und werden ja auch im Alter milde und setzen sich mit wohltätigen Stiftungen ein Denkmal, das ihre vorhergegangenen  Praktiken in ein versöhnlichendes Licht taucht. Ein Polizeiarzt kannte dafür den Spruch: „Wird die Hure alt, wird die Hure fromm.“ Und damit sind wir wieder bei der religiösen Dimension und schauen uns den ganzen Liedvers an:

„Ich bete an die Macht der Liebe,
die sich in Jesus offenbart;
Ich geb mich hin dem freien Triebe,
wodurch ich Wurm geliebet ward;
Ich will, anstatt an mich zu denken,
ins Meer der Liebe mich versenken.“

Das  ist religiöser Edelkitsch. Doch was ist Kitsch? Andere Sprachen haben kein eigenes Wort dafür, manche benutzen das deutsche.

»Kitsch steht zumeist abwertend gemeinsprachlich für einen aus Sicht des Betrachters minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruck. In Gegensatz gebracht zu einer künstlerischen Bemühung um das Wahre oder das Schöne, werten Kritiker einen zu einfachen Weg, Gefühle auszudrücken, als sentimental, trivial oder kitschig.«

http://de.wikipedia.org/wiki/Kitsch

Ist das „Gebet“ also Kitsch?

Die Strophe beginnt gleich sehr bombastisch mit der Macht der Liebe. Angebetet wird sie und damit auf den Altar erhoben. Dieser hohe Ton muß durchgehalten werden; der Verweis auf Jesus dient dazu. In ihm hat sich diese Macht der Liebe offenbart. Denn »keiner hat eine größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für die Seinen« (Joh 15,13).  Wer das Zitat in eine Suchmaschine eingibt, wird sehen, in welch illustrer Gesellschaft der Spruch Anwendung findet. Er begegnet uns auch häufig auf Denkmälern für die Gefallenen – zum Trost für die  Kriegshinterbliebenen – und kaum jemand hat darüber nachgedacht, wie das die Hinterbliebenen auf der Gegenseite sehen – doch die werden ja zumeist mit vergleichbaren Heroisierungen abgespeist, über denen sie das Nachdenken vergessen sollen. Mit Nachdenken hat es Tersteegen ohnehin nicht. So setzt er die Macht der Liebe über Jesus, also auch über Gott. Daß hier in der Hierarchie etwas nicht stimmt, wird nicht reflektiert.

Auch in der nächsten Zeile stimmt die Logik nicht: »Ich geb mich hin dem freien Triebe«. Wenn zur freien Entscheidung für die Hingabe ein Trieb tritt, ist das wohl eher dem Reim geschuldet als einer naturnahen Vorstellung vom Triebleben. Auch theologisch ist diese Konstruktion fragwürdig, weil willentliche Hingabe eine Mitwirkung des Menschen beim Gnadenakt Gottes einschließt. Doch es ist tröstlich, daß selbst ein Wurm sich für derart wirkmächtig erklärt. Wahrscheinlich jedoch ist nicht er es, sondern Gott, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist (2. Korinther 12,9).

Und so kommt es zum Finale: nicht an sich denken, sondern ins »Meer der Liebe sich versenken«. Das ozeanische Gefühl – es überschwemmt den Rückblick der Geehrten und der mit ihnen Fühlenden. Und warum sollen nicht auch frisch Vermählte sich beseelt im Meer der Liebe fühlen? Sie werden wohl nicht wissen, daß der Autor des Textes unverheiratet blieb und dem Ideal der sexuellen Askese huldigte. http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Tersteegen

Religiöser Edelkitsch – vielfach mißbräuchlich verwendet. Und der arme Herr Jesus muß auch dafür herhalten.