»Der Pastor hat leider kein Rezept für’s Da-raus-kommen genannt«.
Dank Twitter sehen auch meine Kolleg(inn)en die Problemanzeige. Ob die wohl einsteigen? Es ist eine Herausforderung für „Seelenklempner“ gleich welcher Art.
„Wer mehr aus sich machen will, der muß da raus”, aus der Sackgasse des Opferbewußtseins als Heimkind, hatte ich geschrieben[1]. Allerdings nicht als Forderung, sondern als Fakt. Über die beiden Kommentare habe ich mich sehr gefreut. Sie bieten zwar auch kein Rezept, aber machen die Problemlage deutlich und geben Verhaltensbeispiele.
Zur Sache
Wir müssen zwei Befindlichkeiten/Problemlagen unterscheiden, auch wenn sie oft gemeinsam auftreten.
- Zum einen geht es um Traumatisierungen ehemaliger Heimkinder, die unter ihren Erinnerungen an die konkreten Erlebnisse leiden und Gefahr laufen, durch Trigger erneut in die damalige Situation versetzt zu werden – PTSD, Posttraumatisierung. Wenn sie Triggersituationen nicht überblicken und weitgehend vermeiden können, benötigen sie eine Trauma-Therapie.
- Der andere Problembereich sind die persönlichkeitsprägenden Erfahrungen ehemaliger Heimkinder, nichts wert zu sein. Mit den bekannten Methoden der Schwarzen Pädagogik wurden die permanenten Demütigungen (Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts) in Körper und Geist nachhaltig eingeschrieben. Ich halte dies für mindestens so einschneidend wie die traumatischen Erlebnisse. Zumindest muß man an das Problem anders herangehen – und wenn jemand beides hat, muß man beides getrennt behandeln. Worst things first, wobei individuell verschieden sein dürfte, was als erstes behandelt werden sollte.
Zu 1) Es handelt sich technisch gesprochen, „nur“ um eine begrenzte Fehlschaltung/Fehlentwicklung im Gehirn, wie es bei der EMDR-Methode[2] besonders deutlich wird. Ob und wie diese wie auch andere Methoden wirken, ist jedoch nicht geklärt und ein Erfolg ist nur mehr oder weniger wahrscheinlich im Sinne stochastischer Bedeutung[3]. Doch das Hauptproblem ist die Unübersichtlichkeit des „Psycho-Marktes“ und daß man nach langen Wartezeiten auch noch beim Falschen landen kann, von der Kostenerstattung ganz zu schweigen. Wer nach einigen vergeblichen Anläufen aufgibt, sieht sich in der Problemlage 2 bestätigt.
Zu 2) „Persönlichkeitsprägende Erfahrungen“ in Körper und Geist eingeschrieben. Daran zu rühren halte ich für noch schwieriger als die Notwendigkeit einer auf die Traumatisierung begrenzten Therapie. Hier geht es um „Persönlichkeitsumbau“ mit allen Problemen, wie sie sich aus der Entwicklung und Formung von Persönlichkeit (Identität) ergeben und der Problembehaftung möglicher Methoden.
Zu den Methoden: Als in den 70er Jahren „Jugendreligionen“[4] aufblühten, griffen manche Eltern zur Methode der „Deprogrammierung“. Das ist eine Art von Gehirnwäsche, wie sie aus Umerziehungslagern bekannt ist, wenn auch ohne die körperbezogene Brutalität. Eine solche „Überwältigung“ wird man weder praktizieren wollen noch können.
Was also tun?
Kuchenback-Rezepte kann es hier nicht geben, wenn auch dabei der Erfolg nicht 100%ig gesichert ist.
Eine Möglichkeit, die erfolgreich sein könnte, ist die klassische tiefenpsychologische Therapie[5]. Hier finden bei Licht betrachtet vom Klienten gewollte Korrekturen an seiner Persönlichkeit statt. Die Methode ist teuer, zeitaufwendig und im Erfolg unsicher.
Kognitive Verhaltenstherapie wäre eine Alternative[6]. Wer dem Link folgt, liest auch die beherzigenswerte Kritik. Sie macht die Methode jedoch nicht sinnlos. Aber:
Das Bewußtsein vieler ehemaliger Heimkinder, nichts zu taugen, beruht auf mentalen Erfahrungen (die ständige Botschaft, nichts wert zu sein), aber eben auch auf körperlichen Erlebnissen (Prügel, Dunkelhaft, Hunger). Eine rein kognitive Therapie wird kaum helfen. An diesem Punkt des Nachdenkens fiel mir die Erlebnispädagogik[7] ein.
Wir haben an der Evangelischen Akademie Bad Boll unter meiner Beteiligung Erlebnispädagogen ausgebildet. Dabei haben wir an das Einsatzgebiet „Problemkids“ gedacht und ich habe dabei beeindruckende Ergebnisse kennengelernt (Heimerziehung, Schule im sozialen Brennpunkt). Es gibt auch andere Einsatzgebiete (z.B. betriebliche Fortbildung). Allerdings ist mir kein Versuch von Erlebnispädagogik für das Seniorenalter bekannt. Selber Senior sehe ich die altersbedingten Einschränkungen der im Normalfall angewendeten körperbetonten Methoden. Auch wenn man die Seilchenbrücke[8] vom Baumgipfel auf den Turnhallenboden holt, dürfte sich mancher Senior völlig abgeschreckt fühlen. Man wird die Methoden also anpassen und manches neu erfinden müssen. Ziel ist: Körperbetonte Herausforderungen annehmen und sie mit Hilfe der Gruppe bestehen. Das hilft, Vertrauen zu gewinnen und schafft Selbstvertrauen.
Wir hatten ein gutes Team und ich würde ihm zutrauen, altersgerechte Methoden zu entwickeln und diese in ein Setting kognitiver Verhaltenstherapie einzufügen. Doch das wäre ein noch zu schaffendes Projekt, dessen Finanzierung zudem geklärt werden müßte. Hier könnte ich mir – rein illusorisch – eine Beteiligung der Institutionen vorstellen, die Verursacher der genannten Problemlagen sind.
Alles klar?
In einem der beiden Kommentare heißt es richtig:
»Die Voraussetzung einer Änderung muss von einem betroffenen Menschen ausgehen, denn letztlich bestimmt seine Einstellung, – die dann mit einer Bereitschaft einhergehen muss, etwas ändern zu wollen. Ein sehr problematischer Gedanke der Opferrolle ist … zu meinen , dass Andere uns etwas schulden und wir deshalb nichts machen müssen, weil wir ja im Recht sind«.
Alles klar?
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/08/29/das-ich-flexibel-oder-rigide/ , dort auch die beiden Kommentare. Sie machen auch den mit dem Thema noch nicht Vertrauten die Problemlage deutlich.
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Eye_Movement_Desensitization_and_Reprocessing
[3] Der Wiki-Artikel dürfte für viele eher abschreckend sein (http://de.wikipedia.org/wiki/Stochastik ). Darum eine einfache Erklärung: Die Angabe, eine Behandlung sei bei 70% der Patienten erfolgreich gewesen, sagt nichts über den Einzelfall, sondern nur über die Wahrscheinlichkeit von Erfolg und Mißerfolg. Wenn es bei einer Lotterie heißt, jeder Fünfte gewinnt, hilft es nicht, fünf Lose zu kaufen.
[4] Eine aktuelle Variante sind die frisch bekehrten islamistischen Dschihadisten (s. http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/dpb_print.php?id=3452 )
[5] Ein Überblick: http://de.wikipedia.org/wiki/Tiefenpsychologie und http://de.wikipedia.org/wiki/Psychotherapieforschung
[6] Ein Überblick: http://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Verhaltenstherapie
[7] Ein Überblick: http://de.wikipedia.org/wiki/Erlebnisp%C3%A4dagogik
[8] http://www.muensterschezeitung.de/bilder/herbern/cme118264,2990315
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