Merkwürdiger Versuch der Stadt München mithilfe einer „unabhängigen Aufarbeitungskommission“ die Fälle von Missbrauch und Trauma zu klären. – Ein Gastkommentar von Vladimir Kadavy
„München leuchtete“, schrieb Thomas Mann in seiner Erzählung „Gladius Dei“. Gladius Dei heißt: Schwert Gottes.
Ob München immer noch leuchtet, beleuchtet Vladimir Kadavy in seinem Kommentar:
Die Stadt kommt nicht zu Potte
Wie man es auch nennen mag: Entschädigung oder Kompensationsleistungen. Die sollte es bereits ab Mitte 2021geben. Über Erst-Zahlungen ist die Stadt nicht hinausgekommen.
Nun sollen die abschließenden Zweit-Zahlungen von einer Kommission abhängen. „Sie soll die Aufarbeitung wissenschaftlich betreuen. Man ist aber noch auf der Suche nach Fachleuten.“
Währenddessen werden wir, die überlebenden Betroffenen älter und warten seit Januar 2021 darauf, dass die Stadt zu Potte kommt. Zahlungen waren immerhin schon zur Jahresmitte 2021 durch die Stadt angekündigt, aber erst im Spätherbst 2021 nahm das von städtischen Angestellten durchtränkte aufarbeitende Gremium seine „unabhängige“ Tätigkeit auf, – während Jugendamt und Stadtrat darauf warten können, dass wir abtreten. Darauf besteht angesichts des Altersdurchschnitts der Betroffenen (plus minus 75 Jahre) und der Problematik, eine wissenschaftlich aufarbeitende Institution zu finden, eine berechtigte Hoffnung. Einer meiner missbrauchten Verwandten ist bereits tot, ein anderer schwer erkrankt, zwei weitere aus dem Umkreis unserer Recherchegruppe sind in einem desolaten körperlichen und psychischen Zustand. Es findet also ein edler Wettstreit zwischen Altern und Hinauszögern statt. Dreimal darf man raten, wer aus diesem Wettkampf als Gewinner hervorgeht. Darum also auch kein Wort über transgenerationelle Lösungen, d. h. Zahlungen an Angehörige. Das scheint nicht mal angedacht worden zu sein.
Wie steht es mit den in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen, Herr Raab?
Ignaz Raab, pensionierter Kriminalbeamter, ist Vorsitzender der Münchner städtischen Aufarbeitungskommission. Ihn befragte Bernd Kastner, Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, am 8. Mai 23 nach den in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen:
„Wann wird über die endgültigen Summen entschieden?“ – „Noch ist offen, ob wir dafür den Abschluss der wissenschaftlichen Aufarbeitung abwarten.“
„Die hat immer noch nicht begonnen?“ – „Eigentlich sollte sie schon im letzten Sommer starten…..“
In dieser Art geht es weiter[1].
Was ist, wenn die Leute sterben?
Kastner hätte auch fragen können: Wie haben Sie bisher im Aufarbeitungsgremium die Zeit seit 2021 verbracht? Wenn in der Zwischenzeit schon viele gestorben sind, könnte sich die Stadt die Auszahlung der Zweitsumme ja sparen?
Weit gefehlt! Dazu Ignaz Raab: „Kürzlich haben wir an einen Betroffenen Soforthilfe ausgezahlt, und jetzt kam die Nachricht, dass er gestorben ist. Daran schließt sich die Frage an: Muss die Soforthilfe zurückgezahlt werden? Das muss der Staat einheitlich klären. Ich wünsche mir, dass es ins Erbe geht.“
Dafür sind wir Betroffene und unsere Angehörigen dem Vorsitzenden der Städtischen Aufarbeitung sehr dankbar. Diese Frage, die er hier aufwirft, kann natürlich nur geklärt werden, wenn jeder Betroffene gegenüber der Stadt nachweisen kann, dass er noch unter den Lebenden weilt. Ich sehe schon der Zusendung eines Formblattes entgegen, auf dem ich bestätige, dass ich noch nicht tot bin.
Der Oberaufklärer der Stadt räumt ein, dass solche Zahlungen grundsätzlich steuerfrei gestellt werden könnten, was aber seit Bestehen der Ausschussarbeit in zweieinhalb Jahren nicht vollständig geklärt ist: Hier brächte eine rasche Information der Überlebenden bzw. noch unter uns Weilenden rasche Hilfe.
Tja, so viel hätte gemacht werden können, was man der Öffentlichkeit besser vorenthält.
Die Stille der städtischen Aufarbeitung
„..um die städtische Aufarbeitung […] ist es ruhig geworden. Woran liegt das?“ „Wir arbeiten im Stillen, ohne mediales Aufsehen.“
Das mit der Unabhängigkeit, der Verschwiegenheitsverpflichtung und der aufarbeitenden Stille hat schon seine Vorteile. Endlich erschließt sich mir die Bedeutung der Unabhängigkeit des Ausschusses. Dazu gehört auch das Warten bis biologische Lösungen im Bündnis mit dem Verstreichen der Zeit dafür sorgen, dass die Arbeit des Ausschusses im Sande verläuft. So nicht nur meine Wahrnehmung.
Der Ruf nach dem Staat
Dass Herr Raab eine Intervention des Staates zur Aufarbeitung der Verbrechen sexuellen Missbrauchs fordert, ehrt ihn, aber was ist denn nun mit der Stadt? Was meint er denn eigentlich? Vielleicht kann man ihm nahebringen, dass auch die Stadt Staat ist. Kommunen unterliegen dem staatlichen Verwaltungsrecht. Insofern appelliert Herr Raab hier an die Aufarbeitung des Ausschusses, dem er vorsitzt. Ob er das wohl gemeint hat?
Soweit der Gastkommentar.
Wann wohl das Schwert Gottes zuschlägt?
Bei einem Spaziergang sah ich, dass es in München tatsächlich leuchtet: Der Erzengel Michael kämpft auf leuchtend goldenem Hintergrund. Er führt zwar kein Schwert, dafür aber eine Lanze. Ist es eine für Gerechtigkeit? Photo: Dierk Schäfer

[1] Hier der Link mit eingeschränktem Zugang, über den Sie im zweiten Schritt das ungekürzte Interview aus der SZ aufrufen können: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-missbrauch-kinderheime-aufarbeitung-ignaz-raab-1.5844370?reduced=true
Warten auf den Todesfall
»Während ehemalige Heimkinder ohne Behinderungen Leistungen erhalten, gehen ehemalige behinderte Heimkinder zurzeit noch leer aus«[1].
Das ist bekannt, aber das muss man ganz pragmatisch sehen: Menschen mit Behinderung haben eine wohl noch geringere Lebenserwartung als normal-traumatisierte ehemalige Heimkinder. Jede Verzögerung rechnet sich.
Schon vor langer Zeit habe ich geschrieben, dass Verzögerungen nur dann glaubwürdig erklärt werden können, wenn der Anspruch im Todesfall auf die Erben übergeht. Aber man will anscheinend noch mehr sparen. Der Betrug am Runden Tisch hat nicht ausgereicht.
[1] http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/30740/Ehemalige-Heimkinder-mit-Behinderung-entsch%C3%A4digen.htm
„Sobald wir konkretere Informationen erhalten, melden wir uns bei Ihnen.“
Brief der Freien Arbeitsgruppe „Johanna-Helenen-Heim“ (JHH) an den Diakoniepräsidenten
Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Herrn Johannes Stockmeier
10115 Berlin
Telefax: 030 65211-3333
Sehr geehrter Herr Stockmeier,
sehr geehrte Damen und Herren!
Wir beziehen uns auf Ihr Schreiben vom 16. Juli dieses Jahres. In diesem haben Sie uns mitgeteilt: „Mittlerweile gibt es eine mündliche Aussage des Sozialministeriums, dass der Fonds Heimerziehung auch für diese Betroffenen geöffnet werden soll. Ein offizielles Schreiben erwarten wir.“ Wenige Zeilen später schreiben Sie: „Sobald wir konkretere Informationen erhalten, melden wir uns bei Ihnen.“
Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen und wir haben aus Ihrem Haus immer noch keine diesbezügliche Antwort gelesen. So müssen wir davon ausgehen, dass sich die Gespräche entweder noch hinziehen oder bereits gescheitert sind.
Eine weitere Zeitverzögerung auf dem Rücken der betroffenen Opfer Ihrer Kirchen ist unverantwortlich und unmoralisch. Darum schlagen wir vor, dass Sie die in den Opferfonds eingezahlten Gelder rückbuchen und an die antragsstellenden Opfer direkt auszahlen. Ganz konkret schlagen wir eine erste Abschlagszahlung von 10.000 Euro vor. Dies entspricht dem Betrag, der einigen Opfern aus dem Bereich der Erziehungshilfe ausgezahlt wird.
Wir hoffen sehr, dass a) wir noch vor Weihnachten einen positiven Bescheid von Ihnen erhalten und b) Sie direkt im neuen Jahr mit den ersten Auszahlungen an Opfer beginnen, die sich bei Ihnen melden.
Es darf nicht sein, dass sich die Opfer Ihres Hauses und Ihrer Heime in der Weihnachtszeit mit diesem Thema auseinandersetzen müssen und weitere Opfer sterben. Das Setzen auf die biologische Lösung schadet dem Ruf der Evangelischen Kirche und der gesamten Diakonie.
Auch diesen Brief werden wir über die Homepage www.gewalt-im-jhh.de und auf dem Blog des Users Helmut Jacob den Opfer zur Information geben. Leiten Sie darum Ihre Antwort auch an ihn weiter.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Dickneite
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