Dierk Schaefers Blog

Ein Kind — totgeschlagen

Posted in Bürokratie, Justiz, Kindeswohl, Kriminalität, Kriminologie by dierkschaefer on 16. September 2015

Die Liste der Leidensstationen des kleinen Alessio lesen wir im Südkurier[1]:

  • Juli 2013: Alessio, damals zwei Jahre alt, wird zum ersten Mal in der Uniklinik Freiburg behandelt. Die Ärzte setzen sich mit dem Kinderschutzzentrum in Verbindung. Das Jugendamt leitet daraufhin ein Kinderschutzverfahren ein.
  • Juli 2014: Erneute Einlieferung in die Klinik. Die Ärzte diagnostizieren blaue Flecken, Einblutungen ins Gehirn und einen Bluterguss am Hodensack. Sie stellen daraufhin Anzeige gegen Unbekannt und fordern das Jugendamt auf, Alessio nicht in die Familie zurückkehren zu lassen.
  • August 2014: Die Kinder und ihre Mutter werden vom Vater getrennt. Das Jugendamt ordnet an, dass Alessio alle 14 Tage vom Kinderarzt kontrolliert werden muss.
  • Oktober 2014: Mit Zustimmung des Jugendamts lebt die Familie wieder zusammen, aber unter Auflagen: Familientherapie, Mutter-Kind-Kur, weitere regelmäßige Kontrollen durch den Kinderarzt – die letzte erfolgt Ende Dezember 2014.
  • Januar 2015: Alessio stirbt beim Kinderarzt. Der Stiefvater hat ihn selbst dorthin gebracht.

Mehrere andere Medien berichten über Kritik am Jugendamt. Es soll Warnungen ignoriert und Alessio nicht ausreichend geschützt haben. Obwohl Kinderärzte und Staatsanwälte davor warnten, habe die Behörde den kleinen Alessio in der Familie und allein beim Stiefvater gelassen, als die Mutter zur Kur und später in einer Klinik war. Nachdem mehrere Bürger Anzeige erstattet haben, ermittele die Staatsanwaltschaft wegen möglichen Behördenversagens.“[2]

Nun steht der Vater vor Gericht[3]. So wie es aussieht, gehören auch die zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes dort hin, sowohl straf- wie auch zivilrechtlich. Dabei kann es nicht darum gehen, den Tod des kleinen Alessio zu „rächen“. Wir brauchen vielmehr ein deutliches Zeichen, dass Fahrlässigkeit von Jugendämtern einschneidende Folgen für die Verantwortlichen hat. Nur dann wird sich etwas ändern.

Zufällig stoße ich heute auf einen Beitrag zur Kontrolle von Polizisten[4]. „Quis custodit custodes?“ – „Wer überwacht die Wächter?“ heißt es dort. Und weiter: „In Deutschland liegt das Gewaltmonopol beim Staat. „Gewaltmonopol“ bedeutet, dass ausschließlich staatliche Organe physischen Zwang ausüben dürfen und dass jede Form der Selbstjustiz durch Bürgerinnen und Bürger verboten ist. Der zentrale Akteur des staatlichen Gewaltmonopols ist die Polizei. Sie hat den Auftrag, öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Aber wer überwacht eigentlich die Polizei? Und wie kann sichergestellt werden, dass diejenigen, die den Gesetzen Geltung verschaffen sollen, dies auch angemessen tun?“

Jugendämter haben zwei Funktionen. Neben den Dienstleistungen steht auch die des Wächteramtes für das Kindeswohl, also die Eingriffsbefugnis, die im Fall der akuten Bedrohung des Kindeswohls eine Eingriffspflicht ist. Eltern erleben solche Eingriffe als Gewalt, die zuweilen nicht gerechtfertigt sein mag. Doch auch diese Form staatlicher Gewalt muss kontrolliert und sanktioniert werden – ebenso auch das Unterlassen eines ausreichenden Kinderschutzes, wie wohl im Fall von Alessio.

Doch Jugendämter unterliegen keiner Qualitätskontrolle, sie haben keine Fachaufsicht. Das ist ein unhaltbarer Zustand in einem Rechtsstaat, dessen Tun und Lassen rechtliche Konsequenzen haben muss.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Auch Jugendamtsmitarbeiter sind nicht unfehlbar. Entscheidungen gerade in Kinder- und Jugendlichenangelegenheiten können sich als falsch erweisen. Doch sie müssen „nach bestem Wissen und Können“ getroffen sein. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies im Fall Alessio der Fall war.

[1] http://www.suedkurier.de/nachrichten/baden-wuerttemberg/Prozess-im-Fall-8222-Alessio-8220-beginnt-in-Freiburg-Stiefvater-des-getoeteten-Jungen-gesteht-Schlaege;art417930,8153792

[2] http://www.swr.de/landesschau-aktuell/bw/teilgestaendnis-vor-landgericht-freiburg-stiefvater-von-alessio-gesteht-brutale-schlaege/-/id=1622/did=16157858/nid=1622/8klh26/ http://www.focus.de/panorama/dreijaehriger-starb-qualvoll-er-pruegelte-den-kleinen-alessio-zu-tode-stiefvater-legt-ein-gestaendnis-ab_id_4948461.html http://www.bild.de/regional/stuttgart/prozess/vater-legt-gestaendnis-im-fall-alessio-ab-42583098.bild.html

[3] Man lese den Bericht im Südkurier: Die immer wiederkehrende Gewaltgeschichte; schon die Eltern waren Opfer und machen die Kinder wieder zu Opfern. Das Versagen des Kinderschutzes geht von Generation zu Generation.

[4] http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/innere-sicherheit/201425/kontrolle-der-polizei

Wer kontrolliert Jugendämter und Kinderheime?

Niemand! Und das in einem Land, in dem sehr viel kontrolliert wird, vom BND einmal abgesehen. Restaurants werden vom Wirtschaftskontrolldienst inspiziert, die Autos durch den TÜV, unsere Fahreigenschaften durch die Führerscheinprüfung und die Radarfallen, Lehrer bekommen Unterrichtsbesuche, dann gibt es die Bauaufsicht – ich soll aufhören? Mach ich ja schon, die Liste würde zu lang und bliebe unvollständig.

Doch wenn es um Kinder und Jugendliche geht, dann ist gerade in den schwierigen Bereichen – keine Kontrolle da. [1] Muss doch auch nicht sein, so der Jugendamtsleiter in Gelsenkirchen. Schließlich vertraue der Träger auf die Zahlungen des Jugendamts, darum vertraut das Jugendamt auf den Träger und sieht keinen Anlaß für Kontrollen.[2]

Im Skandalfall Gelsenkirchen sehen wir wohl nur die Spitze des Eisbergs nicht wahrgenommener Verantwortung.[3] Auch dafür musste erst eine Monitorsendung kommen, um zu zeigen, was von Amts wegen hätte ermittelt werden müssen.[4]

[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/05/10/allein-aus-nrw-247-kinder-und-jugendliche-in-22-landern-untergebracht-mehr-oder-weniger-uber-den-ganzen-globus-verteilt/

[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/05/05/heimspiele-zweier-jugendamter-und-ihre-auswartsspielereien/

[3] http://www.welt.de/regionales/nrw/article140976111/Wenn-Schutzbefohlene-in-Faenge-der-Fuersorge-geraten.html

[4] http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/mit-kindern-kasse-machen-heimkinder-104.html

Heimspiele zweier Jugendämter und ihre Auswärtsspielereien

Posted in Gesellschaft, heimkinder, Kinderheime, Kinderrechte, Kriminalität, Pädagogik, Politik by dierkschaefer on 5. Mai 2015

Wie mit Kindern Kasse gemacht werden kann, ist ein altes Thema in diesem Blog[1]. Auch der MONITOR-Bericht über zwei Fälle, einen in Dorsten, einen in Gelsenkirchen, bringt nichts grundsätzlich Neues.

Schätzen Sie das Gefühl, wenn Ihnen die Haare zu Berge stehen? Dann sollten Sie sich den MONITOR-Bericht unbedingt ansehen. [2]

Hier ist einmal wieder alles versammelt:

  • Die Zuständigkeit für Kids auf der Ebene des Landkreises bzw. der Stadt liegt beim örtlichen Jugendamt.
  • Jugendämter unterliegen keiner Fachaufsicht
  • Das Jugendamt und die Nebengeschäfte seines Leiters wurden in einem der vorliegenden Fälle laut Aussage des Oberbürgermeisters nicht kontrolliert, Geschäftsbeziehungen der Beschuldigten nicht aufgeklärt. Das Vertrauen funktionierte. Die Beschuldigten gaben ihre Geschäftsanteile ab – – an Verwandte. Die Zahlungen des Jugendamts für die Auslandsbetreuung flossen weiter und kamen zum größten Teil zurück an die nun von den Verwandten geführte Firma. Wer wird da von Korruption sprechen wollen?[3]
  • Im anderen Fall vertraute das Jugendamt blind dem Träger, an die es die Kids nach Ungarn abgab. – – Schließlich vertraut der Träger auf die Zahlungen des Jugendamts, darum vertraut das Jugendamt auf den Träger und sieht keinen Anlaß für Kontrollen – so die dreist-naive Stellungnahme des Jugendamtsleiters.
  • Generell sind Auslandsmaßnahmen in ehemaligen Ostblockländern nichts Neues, auch nicht die Bilder von heruntergekommenen bäuerlichen Einrichtungen und die Aussagen über die nicht vorhandene Qualifikation des dortigen „pädagogischen“ Personals.

Das muss alles aufgeklärt werden! So die Reaktion der (Lokal-)politiker.

Ja, das kennen wir auch. Notfalls werden auch einige (Un-)verantwortliche ersetzt.

Aber Strafanzeigen? Oder gar Entschädigung für die betroffenen Kids?

Sie glauben doch nicht mehr an den Weihnachtsmann – oder?

An den Strukturen, die solche Vorfälle ermöglichen, wird sich auch nichts ändern. Wir sind ein föderaler Staat, der auch auf den unteren Rängen Chancen zur Bereicherung bietet.[4]

Weitere Links: http://www.derwesten.de/staedte/gelsenkirchen/heimkinder-skandal-jugendamtsleiter-weist-vorwuerfe-zurueck-id10624824.html#plx2039497824

Ein Schmankerl: Einer der Beschuldigten heißt Frings. Aber fringsen [5]war Notwehr.

[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/05/02/mit-heimkindern-abkassiert-gelsenkirchen-jugendamts-leiter-unter-verdacht/

[2] http://www.ardmediathek.de/tv/Monitor/Mit-Kindern-Kasse-machen-Wie-Heimkinder/Das-Erste/Video?documentId=28028224&bcastId=438224

[3] Die Summen waren deutlich höher als hier: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/5828283140/

[4] Weitere Links: http://www.derwesten.de/staedte/gelsenkirchen/heimkinder-skandal-jugendamtsleiter-weist-vorwuerfe-zurueck-id10624824.html#plx2039497824

http://www.derwesten.de/staedte/bochum/monitor-vorwuerfe-bochumer-life-jugendhilfe-wehrt-sich-id10632081.html#plx1592581197

http://www.tz.de/welt/deutsche-heimkinder-ungarn-kiffen-ausschlafen-zr-4965237.html

http://www.derwesten.de/region/rhein_ruhr/mit-kindern-kein-geld-gemacht-id10633331.html

[5] Erzbischof »Frings wurde mit dem Wort „fringsen“ für „Mundraub begehen“ in der deutschen Sprache verewigt. Der Begriff geht zurück auf seine am 31. Dezember 1946 in der Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl gehaltene Silvesterpredigt, in der er mit Bezug auf die Plünderungen von Kohlenzügen und die schlechte Versorgungslage ausführte: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“ Danach nannte man in Köln und später in ganz Deutschland das Beschaffen von Lebensmitteln und Heizstoffen für den akuten Eigenbedarf durch deren einfaches Stehlen, Unterschlagen oder Veruntreuen „fringsen“ … Der nächste Satz der Predigt „Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“ wurde dabei oft nicht wahrgenommen.« https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Frings#Silvesterpredigt_1946

Ich liebe dich! – Ich Dich auch, Schatz. Komm, wir gehen zum Lügendetektor!

Posted in Gesellschaft by dierkschaefer on 10. Juli 2013

Wir wissen seit dem Kalten Krieg, daß Spionage den Frieden sichern kann. Wenn ich die Angriffsmöglichkeiten des Feindes kontrolliere – und er die meinen – dann gilt das Gleichgewicht des Schreckens und wir greifen uns besser nicht an.

Dieses Sicherheitsdenken prägt inzwischen auch die Innenpolitik. Wenn ich rechtzeitig die Angriffspläne der Sauerlandgruppe erfahre, dann kann ich ihren Sprengstoff manipulieren und  sie schließlich festnehmen. Der Hinweis us-amerikanischer Geheimdienste half den deutschen auf die Spur der Terroristen, und wohl niemand wird behaupten, das sei nicht gut so. Frage ist nur, ob hier alles mit rechtsstaatlichen Mitteln zuging oder ob nachträglich der Zweck die Mittel geheiligt hat und in wie vielen Fällen die Verletzung von Bürgerrechten nur ein „Kollateralschaden“ ist und ob dieser akzeptiert werden muß. Fragen, die man aus Gründen der Geheimhaltung (legal, nur legitim oder illegitim) wohl nicht wird beantworten können.

Die Probleme jedoch, auf die Frank Schirrmacher in seinem heutigen Leitartikel[1] hinweist, sind grundsätzlicherer Art.

Es schreibt »im Augenblick spricht vieles dafür, dass die algorithmisch aufgerüstete Informationsökonomie im Begriff ist, aus pathologischen Erscheinungsformen Normen für die gesamte Gesellschaft abzuleiten«.

 

Was heißt das?

Es meint nicht nur die gespenstische Vorhersagbarkeit individuell menschlichen Verhaltens, wie sie der Google Chef formuliert hat: „Wir werden die Antworten auf ihre Fragen kennen, ehe sie selbst die Frage wissen.“

Es ist – denke ich – noch schlimmer:

»„Das Problem ist, dass es viel kostspieliger ist, fälschlich an die guten Absichten anderer Leute zu glauben, als zynisch anzunehmen, dass sie nur an sich selbst denken.“ Das sagt der praktische Spieltheoretiker Bruce Bueno de Mesquita, der sowohl für das amerikanische Außenministerium, die CIA wie auch für Privatfirmen Überwachungs- und Vorhersagealgorithmen geschrieben hat – mit ebenso sensationeller wie beunruhigender Treffsicherheit«.

»Nicht zu glauben, was einer sagt und tut, und sei es der beste Freund, ist der Wesenskern der modernen Informationsökonomie. Zu Recht hat man das die „Rationalität des Paranoiden“ genannt, der in ständiger Alarmbereitschaft den Denkprozess seines Gegenübers simuliert, von dem er annimmt, dass er seine wahren Absichten verschweigt«.

 

Wenn wir das auf die Beziehungen innerhalb der Familie und unter Freunden übertragen, dann wird unsere Gesellschaft eine andere werden. Schon jetzt werden – soweit ich weiß – amerikanische Politiker bei der Bewerbung um ein Amt einem Lügendetektortest unterworfen. Künftig könnte die Aussage Ich liebe Dich! auch einem Sicherheits-Check unterworfen werden. Es muß ja nicht der altmodische Lügendetektor sein. Eine bezahlte Auskunft privater, algorithmisch aufgerüsterer Detekteien wäre viel besser. Die testen dann nicht nur, ob die Aussage jetzt stimmt, sondern sagen auch das Erkalten der Liebe oder den Ehebruch treffsicher voraus.