Zeitvergleich
Geschichte wiederholt sich nicht – so heißt es. Doch es gibt merkwürdige Parallelen.
Heute sehen wir einen Artikel aus der Frankfurter Zeitung vom 01.11.1929.[1] 90 Jahre ist es her, dass diese Zeitung eine detaillierte Analyse des Aufstiegs der Nazi-Partei vorlegte. Vier Jahre später galt keine Pressefreiheit mehr, war alles gleichgeschaltet zu einer Nazi-Lügenpresse.
Schnuppern wir doch kurz die Luft der damaligen Freiheit:
»der Kern der Wählerschaft hat an der guten demokratischen Tradition des Landes festgehalten; nur ein – allerdings ansehlicher – Bruchteil ist der nationalsozialistischen Werbung widerstandslos erlegen, nämlich der Teil der Bauernschaft und des Bürgertums, den Kriegsende, Umwälzung und Inflation politisch aus dem Gleise geworfen und derart direktionslos gemacht haben, daß er, verstärkt durch wirtschaftlich Unzufriedene aller Art, seit zehn Jahren von Wahl zu Wahl anderen Phantomen nachjagt.« » Für den [badischen] Landtag bedeutet der Einzug der Nationalsozialisten eine Vermehrung der Elemente, die sich weigern, überhaupt fair mitzuarbeiten, die die Aufgabe des Landtags nicht fördern, sondern von innen heraus sabotieren wollen. Zu den fünf Kommunisten kommen sechs Nationalsozialisten; ein volles Achtel des Landtags wird damit aus Abgeordneten gegen den Landtag bestehen. Sie treiben ein unehrliches Spiel, indem sie trotzdem die volle Gleichberechtigung mit den andern Parteien in Anspruch nehmen – die ihnen selbstverständlich gewährt werden wird –, wie es auch unehrlich ist, selbst einen Staat des Zwanges, der brutalen Vergewaltigung aller Andersdenkenden zu propagieren und gleichzeitig laut zu lamentieren und vor Entrüstung außer sich zu sein, wenn der bestehende Staat sich gegen ihre Wühlarbeit mit sehr zahmen Mitteln zur Wehr setzt.«
Zeitsprung
»Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD. Das erklärt natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AfD. Aber es ist ein wichtiger Faktor, ähnlich wichtig wie andere Erklärungen, die man bislang oft hören konnte: Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung.«[2] »Was die beiden Parteien gemeinsam haben, ist, dass sie offensichtlich Menschen mit ihren rechtspopulistischen Denkweisen ansprechen, mit relativ schnellen und national gefärbten Lösungen für Probleme und Krisen der Zeit, mit ihrem Insider-Outsider-Denken.«
Dies ist die eine Seite des Problems und seiner Parallelen. Die weiteren Details sollte man den angegebenen Artikeln entnehmen. Dann sieht man auch, dass ein 1:1 Vergleich nicht funktioniert.
Doch auf der anderen Seite des Problems haben wir wieder eine Parallele.
Vor 90 Jahren schrieb die Frankfurter Zeitung: »Die Empfänglichkeit weiter Volkskreise für die nationalsozialistische Agitation könnte nicht so groß sein, wenn die Republik die volle Ueberzeugungs- und Anziehungskraft entfaltet hätte, die gerade einer auf dem demokratischen und sozialen Prinzip aufgebauten Institution innewohnen muß. Deshalb muß der Nationalsozialismus der Republik ein Stachel zur Selbstkritik sein; die Republik ist robust genug, um solche unablässige Selbstkritik ertragen zu können.«
Die Überzeugungs- und Anziehungskraft unserer Demokratie ist im Sinken und als enttäuschter/empörter Bürger könnte man geneigt sein, mancher AfD-Argumentation zu folgen – wenn es nicht die AfD wäre. Unsere Funktionseliten haben ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren durch zahlreiche Skandale. Es sind ja nicht nur die Großbauprojekte, die merkwürdigerweise nicht von der Stelle kommen, es ist nicht nur der Zustand unserer maroden Infrastruktur, bei dem man sich fragt, wo die Steuergelder hingeflossen sind. Es ist vor allem die Kumpanei mit Wirtschaft und Industrie geschmiert durch die Lobbyvertreter, genannt sei hier nur die Autoindustrie, die gerade durch ihre Betrügereien dabei ist, unsere Wirtschaft gegen die Wand zu fahren. Transparenz in diesen Dingen ist Tabu und die „Abgeordnetenwatch“ ein böser Bube.
Unser Gemeinwesen wird von zwei Seiten bedroht: Von seinen Vertretern, die gekonnt auf der Klaviatur gesetzlicher Möglichkeiten spielen – und dabei auch manchmal falsch spielen. Ihnen muss man auf die Finger hauen und sie bei den Wahlen abstrafen – wenn es da denn Alternativen gibt. Die erklärten Gegner unserer menschenrechtsbegründeten freiheitlichen Lebensweise sind Feinde dieses Staates und der Mehrheit der rechtlich Denkenden. Hier müssen unsere Staatsorgane mit allen rechtlichen Möglichkeiten durchgreifen bis hin zum Parteienverbot. Es wird Zeit. 1929 hatte man nur noch vier Jahre bis zur Machtergreifung der Feinde der Menschheit.
[1]Zitate aus : https://www.faz.net/aktuell/politik/historisches-e-paper/historisches-e-paper-nsdap-erstmals-im-badischen-landtag-16402663.html
[2] Die gegenwartsbezogenen Zitate sind entnommen aus: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-02/afd-waehler-rechtsextremismus-nsdap-gemeinden-milieu/komplettansicht
Rezo – Nach seinem Videoclip hat die FAZ Probleme, einen klugen Kopf zu bewahren.
Ihr Leitartikler dreht hohl und schreibt heute auf Seite 1: »Der Ton in den sozialen Netzwerken ist gnadenlos, unerbittlich, ohne Anstand und Hemmschwelle. Mit „Diskurs“ hat das alles nichts zu tun«. – Die Kriegserklärung an die CDU passt ihm nicht und er schreibt von einer „recherchierten“ Hetzkampagne.
Der Arme, er versteht die Welt nicht mehr und erst recht nicht die sozialen Medien. Und dass die Einfluss haben, passt nicht in sein Weltbild.
Wikipedia, auch ein Feindbild der FAZ, schreibt sachlich: »Im Mai 2019 veröffentlichte Rezo, der damit „sicherlich zu einer Art politischem Meinungsführer für eine heranwachsende Generation geworden ist“, ein gegen wesentliche politische Positionen insbesondere der Parteien CDU und SPD gerichtetes Video[1], das innerhalb kurzer Zeit millionenfach abgerufen wurde und eine breite gesellschaftliche Debatte auslöste.«[2]
Das Video war leider zu lang, um auch noch die FDP abzuwatschen, doch die ist mitgemeint.
Wenn „Hetzkampagnen“ immer so gut recherchiert wären wie der Beitrag von Rezo, sähe die Medienwelt anders aus. Wenn unsere Politiker über einen vergleichbaren Wissensstand verfügten, wenn sie sich äußern, käme die politische Meinungsschlacht in die Nähe eines Diskurses.
Rezo hat Forschungsergebnisse recherchiert. Sie stützen seine Aussagen mit hoher Signifikanz. Die Fachleute stimmen ihm zu.
Worauf beruft sich von Altenbockum? Wo sind seine Argumente?
Ja, der polemische Stil. Geschenkt.
Rezo hat kapiert, dass politischer Druck von Nobodies nur über beeindruckende Zahlen ausgeübt werden kann. Nobodies sind Leute, die nicht zählen, weil sie nicht zahlen können, jedenfalls nicht so, wie die Wirtschaftslobby. Es sind Leute, die gelernt haben, dass der Wahlkampf um ihre Stimmen nur eine Show-Veranstaltung ist, Kasperletheater. Sie haben ihre Stimme nur, um die Politik zu BEWERTEN. Andere haben über ihre Stimme hinaus EINFLUSS, sei es über Parteispenden, sei es über Interessenverbände, sei es über geschickte Lobbyisten, sei es über eine hohe Zahl von Arbeitsplätzen, die politisch in Geiselhaft genommen werden.
»Für jeden politisch denkenden Zeitgenossen ist es niederschmetternd, dass nicht die bessere Urteilskraft, sondern die skrupellose Kampagnenfähigkeit im Zeitalter digitaler Öffentlichkeit die Oberhand zu gewinnen scheint«. Aber hallo, Herr von Altenbockum! Das weckt Erinnerungen an Bismarcks Kampf gegen Gewerkschaften.[3]

Rezo hat die Skrupellosigkeit der Politik enttarnt und der Autor der FAZ nutzt seine Einflussmöglichkeiten recht skrupellos. Die Pressefreiheit war schon immer die Freiheit der Pressenden[4] – bis die Nobodies dank Internet kampagnenfähig wurden.
That‘s democracy, stupid!
CDU? CSU? SPD? Nein, danke! – FDP? – erst recht nicht. – Und schon gar nicht AFD.
Aber wählen gehen sollte man unbedingt. Machen wir Europa stärker. Meine Wahlempfehlung: https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie_in_Europa_%E2%80%93_DiEM25
[1] https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rezo
[3] https://www.gewerkschaftsgeschichte.de/sozialistengesetz-die-verbotswelle-rollt.html
[4] Photo: http://www.umweltbrief.de/neu/html/Pressefreiheit.html
Korntal und die Vorverurteilung
Ein Beschuldigter ist bis zu seiner gerichtsfesten Verurteilung als unschuldig nicht nur anzusehen, sondern zu behandeln. Das Urteil über Rechtsanwalt Weber ist in Korntal schon gefällt.
Es hat zwar auch noch keinen Prozess über die Missbrauchsvorwürfe gegen Verantwortliche in Korntal gegeben; dank der Verjährungsfristen wird es wohl auch nicht dazu kommen. Dennoch ist ein öffentlicher Druck entstanden, aufgebaut worden, die Vorwürfe zu klären und die Vergangenheit – wie auch immer – aufzuarbeiten.
»Eigentlich hätte Weber vor wenigen Tagen offiziell als Aufklärer beauftragt werden sollen. Die Mediatoren, die Brüdergemeinde und Opfervertreter bis zu einer Beauftragung begleiten sollten, stoppten das Verfahren vorerst. Als Grund wurde ein Medienbericht angegeben, demzufolge der Anwalt in eine Korruptionsaffäre verwickelt sein könnte.«[1]
»Weber selbst wies die Berichte zurück: „Es wird nicht gegen mich ermittelt“, sagte der Anwalt, der zuvor auch die Missbrauchsvorwürfe bei den Regensburger Domspatzen aufgearbeitet hatte. … Opfervertreter Detlev Zander erklärte nach den Gesprächen: „Die Wünsche der Opfer werden hier überhaupt nicht mehr berücksichtigt.“ Er selbst hatte den Missbrauch im Sommer 2014 öffentlich gemacht. Der heute 55-Jährige war in den 1960er und 70er Jahren im Heim. Seinen Angaben zufolge werfen inzwischen mehr als 300 ehemalige Heimkinder der Brüdergemeinde vor, in den 1950er bis 1980er Jahren in den zwei Kinderheimen der Gemeinde sexuell missbraucht, misshandelt und gedemütigt worden zu sein. Der Versuch einer Aufarbeitung war Anfang 2016 schon einmal gescheitert. Eine neuer Versuch, die verhärteten Fronten zu überwinden, soll bei einer weiteren Gesprächsrunde am 25. März unternommen werden.«[2]
»Bei seiner Absage übt der Rechtsanwalt scharfe Kritik an den Mediatoren. …Weber begründet seine Entscheidung mit inhaltlichen Differenzen mit der auftraggebenden Brüdergemeinde. Wohl war der Vertrag zwischen ihm und den Pietisten weitgehend ausgehandelt. Doch „eine explizit von mir geforderte Erklärung, dass die Brüdergemeinde von einem Einflussrecht auf meine Veröffentlichungen im Aufklärungsprozess Abstand nimmt, ist bisher nicht erfolgt. Ein unabhängiges Arbeiten wäre unter diesen Umständen nicht möglich“, sagt Weber. Er greift in seiner Absage zudem die Mediatoren Elisabeth Rohr und Gerd Bauz scharf an. „Die Einflussnahme der Mediatoren, speziell deren Kommunikationsverhalten in den letzten Tagen, zeugte von fehlendem Respekt, da Inhalte und Entwicklungen über meine Verpflichtung, ohne mich vorab zu informieren, in die Öffentlichkeit getragen wurden.“«[3]
Aufgrund des Berichts über die Verwickelung in den Korruptionsskaldal »verkündete die Mediatorin im Korntaler Missbrauchsskandal – ohne Rücksprache mit den ehemaligen Heimkindern – die Wahl Webers könne nicht stattfinden. Stattdessen solle Weber zunächst die Möglichkeit gegeben werden, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Die Betroffenen erfuhren davon aus der Presse. Weber sagte am Samstag, er habe eine „gebotene Stellungnahme“ zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen abgegeben. „Ich werde nicht verdächtigt, und gegen mich wird auch nicht ermittelt.“ Über die dennoch erfolgte Berichterstattung sagte er: „Für die Motivlage hier wie dort habe ich keine Erklärung.“«[4]
»Vertreter der Opferorganisationen hielten trotz der Meldungen an dem Juristen fest, der auch die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bei den Regensburger Domspatzen leitet.Weber fürchtet nach eigenen Worten, dass ein unabhängiges Arbeiten in Korntal nicht möglich wäre. Die Brüdergemeinde habe keine von ihm geforderte Erklärung abgegeben, seine Veröffentlichungen im Aufklärungsprozess nicht zu beeinflussen. Den Mediatoren Elisabeth Rohr und Gerd Bauz wirft er „fehlenden Respekt“ vor. Sie hätten Informationen über seine Verpflichtung in die Öffentlichkeit getragen, ohne ihn vorher zu informieren. Ehemalige Korntaler Heimkinder berichteten von sexueller und körperlicher Gewalt sowie Zwangsarbeit in Brüdergemeinde-Einrichtungen insbesondere in den 60er und 70er Jahren. Ein erster Versuch der Aufklärung scheiterte im vergangenen März, nachdem die Betroffenen dem Team um die Landshuter Sozialwissenschaftlerin Mechthild Wolff das Vertrauen entzogen hatten.«[5]
»Im Ringen um die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen bei der evangelischen Brüdergemeinde Korntal (Kreis Ludwigsburg) fordern Opfervertreter nun ein Krisengespräch mit Vertretern der Landeskirche Württemberg. „Es ist höchste Zeit für ein Signal an die Missbrauchsopfer, dass sich etwas bewegt“, sagte Netzwerk-Sprecher Detlev Zander. … Der Anwalt habe „aufgegeben, weil die Brüdergemeinde ihn nicht unabhängig arbeiten lassen will, doch wir kämpfen weiter für Weber“, sagte Zander. Die Brüdergemeinde wies das zurück. …
Nach Angaben des Betroffenen-Netzwerks werfen mehr als 300 ehemalige Heimkinder der Brüdergemeinde vor, in den 1950er bis 1980er Jahren in deren zwei Kinderheimen sexuell missbraucht, misshandelt und gedemütigt worden zu sein. Ob es tatsächlich zu dem geforderten Krisentreffen kommt, war zunächst nicht absehbar.«[6]
Man sagt, die Hoffnung sterbe zuletzt. Hier sieht es nach einem langen Würgetod aus.
[1] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.missbrauchsfall-korntal-rechtsanwalt-ulrich-weber-lehnt-zusammenarbeit-ab.ca296589-346e-4655-ad50-778bef7c75e5.html
[2] http://www.swr.de/swraktuell/bw/missbrauchsfaelle-in-korntal-aufklaerung-verzoegert-sich-weiter/-/id=1622/did=18999174/nid=1622/1yhc7ht/
[3] http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.missbrauchsskandal-bruedergemeinde-ulrich-weber-wirft-in-korntal-hin.d7619177-34c4-4648-a9bf-501d60334fc4.html
[4] http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.missbrauchsskandal-korntal-die-kuer-webers-scheitert-an-den-pietisten.5ff393ec-2b0d-49d7-8dc6-2848b9d682af.html
[5] http://www.epd.de/landesdienst/landesdienst-s%C3%BCdwest/jurist-weber-nicht-zur-aufkl%C3%A4rung-von-missbrauch-korntal-bereit
[6] http://www.zvw.de/inhalt.korntal-missbrauchsopfer-fordern-krisengespraech-mit-kirchenfuehrung.12d5e93f-d3c8-4a3a-8796-3fc827fee3b9.html
Aus dem Nähkästchen plaudern? Nein, das tut er nicht, kann aber viel aufzählen zum Vertrauen im Arzt-Patienten-Verhältnis.
»Das Vertrauen, das die Bundesärztekammer postuliert wie eine geschuldete Vorleistung auf Heilung, unterscheidet sich in Nichts von dem Vertrauen, das Priester von Ihnen fordern, bevor sie Ihnen eine Befreiung von der „Erbsünde“ in Aussicht und Rechnung stellen. Im Krankheitssystem, liebe Patienten, besteht die Erbsünde in der bloßen Tatsache, dass Sie leben, vergehen und sterben.«[1]
»Das „Arzt-Patienten-Verhältnis“ … ist, nach Ansicht des Hartmannbundes und des Großen Senats, derart bestimmt von innig-einseitigem Vertrauen, dass jede Analogie zu schnöden Marktverhältnissen abwegig sei. Mag sie gelten für Ingenieure, den TÜV, Seilbahnunternehmen und Luftverkehrsgesellschaften, für wen auch immer –nicht aber für leibhaftige Vertragsärzte! Der Unterschied zwischen einem Rechtsanwalt und einem Kassenarzt ist, dass der Kunde den Arzt notgedrungen liebt, den Rechtsanwalt naturgesetzlich hasst. Und sind wir nicht alle in der Hand des Hippokrates?«
Vergnüglich und bedrückend zugleich zu lesen. Doch so ist sie, unsere Gesellschaft. Auch wir, die wir gern korrumpierbar wären, aber leider nicht so einen hohen korruptiven Marktwert haben.
[1] Alle Zitate aus http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-08/aerzte-bestechung-korruption-pharmaindustrie/komplettansicht
Heimkinder müssen besser geschützt werden …
… sagt die Kieler Sozialministerin. Sie will an der Basis, bei den Kinderheimen ansetzen: »Zu wenig Kontrollpersonal für Kinderheime, kein Fachkräfteschlüssel, keine Beschwerdestelle«[1]. Ist ja alles richtig. Ein konkreter Fall hat ihr die Einsicht verschafft.
Doch ich habe einen Tip für sie: Die Heimaufsicht ist Aufgabe der Jugendämter. Die müssen kontrolliert werden, damit sie gar nicht erst Heime aussuchen, die den pädagogischen Anforderungen nicht entsprechen, ja sogar kindeswohlgefährdend sind[2]. Doch dann müsste sich die Ministerin mit den Kommunen anlegen. Davor scheut sie zurück.
So darf man auf weitere Einzelfälle warten, an denen Politiker sich profilieren können. Doch diese Einzelfälle sind systembedingt. Da muss man wohl die Ausdauer haben, auch harte Bretter zu bohren. Das dauert aber länger als bis zur nächsten Wahl. Korruption hat viele Fazetten.
[1] http://www.ln-online.de/Nachrichten/Norddeutschland/Ministerin-Heimkinder-muessen-besser-geschuetzt-werden
[2] »Erst am Montag wurde vom Ministerium mitgeteilt, dass ein inzwischen gekündigter Betreuer zudem ein sexuelles Verhältnis mit einem minderjährigen Mädchen hatte.«
Wer kann schon dagegen anstinken?
das photo untertreibt. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/5828283140/in/set-72157626950963586/ … was kostet ein kanzler? http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/maschmeyer-und-schroeder-beim-geld-beginnt-die-freundschaft-13264757.html … wieviel zahlt putin?
Zum Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach, wir Armen! (Gretchen in Faust I)
Auch die Armen drängt’s danach. Aber je ärmer. desto ärmer dran. Arme haben keinen korruptiven Marktwert.
Ein Exkurs
Korruption ist sehr alt, zumindest seit Menschen institutionalisierte Machtpositionen haben und diese in Absprache mit einem anderen zu beiderseitigem Vorteil mißbrauchen können. Ein dritter oder auch die Allgemeinheit zahlen die Rechnung und sie wissen es meist nicht. Der Preis der Korruption ist hoch, auch wenn scheinbar nur das Recht gebeugt und gebrochen und niemand weiter direkt geschädigt wird, denn das Recht ist ein hohes Gut, es ermöglicht das friedliche Zusammenleben der Menschen.
Korruption ist weder brutale Despotie, noch ein normales Geschäft unter Partnern. Korruption ist ein Vereinbarungsdelikt auf der Basis des Amtsmißbrauchs: „Ich gebe Dir etwas, damit Du mir zu einem illegalen Vorteil verhilfst“ – oder: „Was gibst Du mir, damit ich Dir, sei es mit dem Gesetz oder dagegen, zu dem verhelfe, was Du möchtest?“ Damit wird der Korrupte zur Schlüsselfigur des Erfolges contra legem.
Die Sozialschädlichkeit der Korruption bedarf keiner weiteren Begründung, aber es lohnt sich, die unterschiedlichen Tiefen des Schadens auszuloten.
Solange sich Korruption verstecken kann und verstecken muß, handelt es sich um einzelne kriminelle oder quasi-kriminelle Delikte und Vorkommnisse mit begrenztem Schaden. Wo Korruption publik wird, steigt der Schaden.
Publik wird Korruption, wenn der Geschädigte seinen Schaden wahrnimmt, wenn er zum Beispiel bei der Richterbestechung um sein Recht gebracht wird. Andere, die davon Kenntnis bekommen, neigen dazu, sich zu empören, denn der Geschädigte ist erkennbar, und die Rechtssicherheit aller ist erschüttert.
Anders steht es mit den Auswirkungen bekannt gewordenen korruptiven Amtsmißbrauchs zum Zwecke beiderseitiger Bereicherung. Hier sind zum einen die Opfer selten konkret auszumachen, zum andern wecken die wirtschaftlichen Vorteile des Amtsmißbrauchs bei vielen Zeitgenossen eher Identifikationsphantasien. So einen schlauen Job hätte man selber auch gern, wo man so bequem absahnen kann. „Das tut doch letztlich niemandem weh, und es machen doch alle.“ Diese Korruptheit hat, je allgemeiner sie erscheint, desto verheerendere Auswirkungen, weil sie geeignet ist, die Begehrlichkeit vieler zu wecken, auch derer, die zwar keine Machtposition haben, dafür anstelle des Rechtsempfindens nur das achselzuckende Bedauern über den geringen eigenen korruptiven Marktwert. Diese Korruption ist nicht nur sozialschädlich, sie produziert geradezu Sozialschädlichkeit.
Galten ganz früher nur der Richter und vielleicht auch noch der Herrscher als möglicherweise korrupte Amtshalter, so sind heute der Ämter und Amtsinhaber viele. Das hängt mit der breiter gefächerten Gewalten- und Funktionenteilung und dem ungeheuren Regelungsbedarf heutiger Gesellschaften zusammen, und der Begriff Amtsinhaber ist auszuweiten auf den einflußreichen Funktionsträger überhaupt, also auch in der freien Wirtschaft. Damit ist die Fähigkeit, überhaupt korrumpiert werden zu können, demokratischer gestreut als früher. Das macht die Bekämpfung so schwierig. In der freien Wirtschaft übrigens kommt Korruption wohl kaum seltener vor als im öffentlichen Dienst. Allerdings wird sie dort nicht so häufig publik, weil die Firmen weithin dazu neigen, zur Vermeidung negativer Pressemitteilungen, solche Vorkommnisse unter den Teppich zu kehren. Die Firma Opel fiel einmal dadurch auf, daß sie nach amerikanischem Muster einen Korruptionsvorgang gerichtlich verfolgen ließ.
Die breitere Streuung von Korruption im Gegensatz zu früher macht jedoch eines deutlich: Es ist offenbar eine allgemeinmenschliche Konstante, verführbar zu sein – womit auch immer.
Kriminalhauptkommissar Paul Maier vom Landeskriminalamt in Stuttgart hat dafür sogar eine Formel gefunden, eine mathematische Formel für korruptive Verführbarkeit:
Sie ist das Produkt von Egoismus mit der Summe von Profitgier und Profilierungssucht, geteilt durch das Produkt der Zahl der Kontrollen und ihrer Qualität.
Korruptionsbekämpfung beginnt darum bei uns selbst, sie ist immer auch Selbsterforschung.
Doch nicht immer sind Profilierungssucht und Egoismus die erste Quelle korruptiven Verhaltens. Man kann auch hineinschlittern.
So gibt es viele Möglichkeiten, mit denen Interessenten, Antragsteller, Geschäftspartner, Konkurrenten u.a.m. in ihrem Sinne Einfluß auf Amts- und andere Personen zu nehmen versuchen, denen eine wichtige Funktion im fraglichen Entscheidungsprozeß unterstellt wird. Das beginnt mit der Höflichkeitsmimik, mit der eine verständigungsfördernde Gesprächsatmosphäre hergestellt werden soll, bis hin zu massiven Beeinflussungsversuchen. Die freundlichen Aufmerksamkeiten erfolgen manchmal schon vor dem ersten dienstlichen Kontakt: Man kennt sich bereits von früher her (Schule, Studium) oder aus dem Verein. Vielleicht erwähnt auch die Sekretärin den charmanten Gesprächspartner, der um einen Termin gebeten hat. D.h.: Vor unserer ersten Wahrnehmung des Gegenübers kann schon eine ganze Menge als Basis für ein vertrauensvolles Miteinander gelaufen sein, das von seiner Seite ausgenutzt werden kann. Vielleicht hat sich der andere auch nur gut über uns erkundigt und weiß schon vorher, mit welchen gemeinsamen Interessen oder Bekannten er uns um den Finger wickeln kann. Das ist alles noch lange keine Korruption, aber oft der Einstieg dazu. Denn wenn wir jemanden so sympathisch finden, werden wir seine Freundlichkeiten kaum ausschlagen mögen. Die beginnen mit kleinen Werbegeschenken, dem Angebot von Rabatten für den privaten Bedarf, der Mitnahme im PKW (bei Ministerpräsidenten muß es allerdings dann schon das Flugzeug sein) und enden bei Transaktionen, die dann zwar deutlich den Charakter der Bestechung tragen, weil sie auch mit Aufträgen verbunden sind, die aber vom Betroffenen oft gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird, weil es sich doch um Freundschaftsdienste handelt.
Überall, wo es um große Summen geht, und zwar nicht nur bei Rüstungsgeschäften, gerät der in Gefahr, der über die Vergabe zu entscheiden hat, auch wenn es manchmal wirklich nur Peanuts sind, wegen derer jemand seine Beamtenstellung und Pension aufs Spiel setzt. Was hier umschrieben ist, nennt man in der Fachsprache anfüttern. Wer umsichtig anfüttert, hat irgendwann den Fisch an der Angel, der dann nicht mehr loskommt.
Nötigung ist die andere Form der Bestechung, denn wenn ich mir unangenehme Dinge vom Halse halten kann, habe ich auch einen Vorteil erhalten. Oft tritt Nötigung auch erst auf, wenn jemand viel zu spät gemerkt hat, in welches Fahrwasser er geraten ist, und nun zurück will.
Zweck und Ziel all dieser Mittel sind Beschleunigung, Rechtsbeugung oder Rechtsbruch für die gesetz- oder vorschriftswidrige Durchsetzung der Interessen des korrumpierenden Partners.
Korruption muß nicht immer vom Antragsteller ausgehen. Es gibt Unternehmer, die behaupten, wenn man nicht ein paar Blaue in den Antrag lege, habe man keine Chance, den Auftrag zu bekommen, er werde vielleicht nicht einmal angeschaut. Ich glaube nicht, daß es sich dabei immer um eine Schutzbehauptung erfolgloser Unternehmer handelt.
Bestich mich doch mal, aber geschickt:
Da war zum Beispiel der kunstbegabte Amtsleiter. Er malte Bilder. Ob sie künstlerisch wertvoll waren, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls stellte er sie auch aus. Man konnte sie kaufen. Wer sie kaufte, bekam die öffentlichen Aufträge.
Ich kenne noch mehr Beispiele aus meinen Seminaren, will aber niemanden auf Ideen bringen, die er sonst nicht hätte.
Gut wäre es, wenn sich die Erkenntnis eines Seminarteilnehmers zu vorgerückter Stunde durchsetzen würde und die Befürchtung real:
Von Korruption
hasch nix davon:
Der Staatsanwalt
gleich kommt und krallt
Dich – samt Dei’m Lohn.
»Erst jetzt, mit größerer zeitlicher Distanz zu Ereignissen und Personen, kommt die Forschung in Gang«.
Die billigste Form der Vergangenheitserhellung soll das Image aufpolieren, – peinlich und blamabel![1] So schrieb ich vor wenigen Tagen hier im Blog. Es ging um die Aufarbeitung der Nazi-Unterstützung durch die evangelischen Kirchen in Schleswig-Holstein.
Doch dieser Vorwurf gilt nicht nur den genannten Kirchen. Das Verfahren scheint eine Art soziales Naturgesetz für die Aufarbeitung „unangenehmer“ Vergangenheiten zu sein.
Andreas Wirsching, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, wird heute dazu in der FAZ zitiert: Er »nannte den Generationenwechsel als wichtigen Grund dafür, warum es vielfach erst jetzt dazu kommt: „Das Schwinden persönlicher Loyalitäten ist eine notwendige Voraussetzung für die historische Distanzierung und die damit mögliche kritische Aneignung und Aufarbeitung von Geschichte. Wenn einflussreiche Persönlichkeiten noch institutionell und durch persönliche Wirkung dominieren, vermag meist auch ihr Narrativ das Bild der eigenen Geschichte zu prägen.“ Bewunderung, Abhängigkeit und Loyalität des Umfeldes verhinderten in solchen Fällen die kritische Distanzierung«[2].
Solche persönlichen Loyalitäten mögen im positiven Fall eine soziale Beißhemmung sein, ähnlich wie man dunkle Punkte in der Familiengeschichte gern im Dunkel hält. Doch wenn die Folgegeneration mit Rücksicht auf ihre Karriere die Tätergeneration schützt, indem sie die Augen verschließt, dann ist diese Beißhemmung egoistisch motiviert und darf mit Fug und Recht Korruption genannt werden.
Doch was in der Nachkriegszeit unter Forschern endemisch war, funktioniert heute nicht mehr. Wir müssen nicht mehr auf die Geschichtsschreibung warten, müssen nicht warten, bis die Ohrenzeugen der Augenzeugen verstummt sind.[3] Wir dokumentieren die Geschichte als Erlebenszeugen zeitnah im Netz, das so leicht nichts „vergißt“.
[2] FAZ Dienstag, 31. Dezember 2013: Michael Martens, Nur mit den Wölfen geheult? – Die deutsche Südostforschung und ihre NS-Vergangenheit
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