Wie wird man kriminell?
Dieter Schulz ist ein Beispiel. Er wurde nicht zum Stehlen angeleitet wie Oliver Twist. Er ist Autodidakt. Erst musste er Wege finden, um in den Nachkriegswirren zu überleben. Dann geriet er auf die Abwege einer Heimkarriere – wie so manche Heimkinder, die durch ihre Heimerziehung auf der schiefen Bahn landeten.
Dieter Schulz hielt es in den Heimen nie lange aus, 28 Fluchtversuche aus insgesamt neun Heimen, und die Heime hielten ihn nicht aus. Das berichtet er seiner Autobiographie, die Kapitel für Kapitel hier im Blog erscheint.[1]
Im nächsten Kapitel sehe ich einen wichtigen Wendepunkt. Bisher war er sich nicht voll bewußt, was er angestellt hat, er war ja auch ein noch nicht schuldfähiges Kind. Selbst die Idee mit dem über die Straße gespannten Seil kam spontan aus der Situation heraus. Allerdings verursachte er damit einen schweren Unfall, der auch hätte tödlich ausgehen können.
Doch nun ist Bambule angesagt. Mit kühler Überlegung sorgt er dafür, dass seine Kameraden das Heim abfackeln und er sich zeitgleich bei seinen „Erziehern“ beschwert, also ein Alibi hat. Das ist für mich der Wendepunkt zu einer kriminellen Karriere: Die coole Planung eines Delikts. Später wird dann bei Dieter Schulz die Kriminalität zu einem Geschäftsmodell für ihn als Kleinunternehmer. Die Nazis hätten ihn als Berufsverbrecher[2] abgestempelt und mit einem grünen Winkel ins KZ gesteckt. Es mag Leute geben, die meinen „Recht so!“. Doch diese Pharisäer haben noch nie gelogen, noch nie das Finanzamt betrogen und auch als Jugendliche nie im Laden gestohlen. Sie stammen zumeist aus nicht-prekären Verhältnissen.
Ich warte nur noch auf den Kriminologen oder Psychologen, es darf auch ein Politiker sein, der mir den Unterschied erklärt zwischen einem Dieter Schulz und manchen Bankern aus dem Investmentbereich oder zu den Leuten, die Betrugs-Software in die Motoren einbauen lassen. In beiden Branchen ging es um gute Geschäfte, wenn auch kriminelle; in beiden Branchen wurden massenhaft Arbeitsplätze vernichtet und Lebenschancen zerstört, die Boni aber und die Pensionen werden ungerührt kassiert.
Es gibt verschiedene Wege kriminell zu werden. Ein Dieter Schulz ist mir dann immer noch sympathischer.
Nachsatz: Die Perry-Preschool-Studie hat zwar tolle Präventiv-Erfolge gebracht, deutlich weniger Kriminalität u.a., aber diese Erfolge betreffen nur die festgestellte Kriminalität, die derer, die sich erwischen lassen.[3] Doch immerhin hat sie viele „normale“, geglückte(?) Lebensläufe ermöglicht.
Fußnoten
[1] Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/29/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-erstes-kapitel/
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika! https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/08/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ii/
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/10/24/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-iv/
04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen
Kapitel 7, Lockender Westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin
Wie geht es weiter?
Kapitel 10, Bambule
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Berufsverbrecher
[3] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2012/09/perry-ds-11.pdf
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