Behinderte? Och, mit denen kann man’s machen. Die wehren sich nicht.
Ein Link[1] erinnerte mich an ein Erlebnis vor etwas mehr als 60 Jahren. Ich war mit einem Jungen aus dem Nachbarhaus in unserem Kiez unterwegs. Vor dem Drogerieladen am Lichterbergplatz[2] begegnete uns Werner Kreuzmann[3].
„Guck mal“, sagte Bernd zu mir, „den kann man schlagen und der wehrt sich nicht.“ Und er schlug ihn. Ich ging dazwischen und fuhr Bernd an, er solle Werner in Ruhe lassen. Das reichte. Es war keine besondere „Heldentat“ von mir. Bernd war selber ein armes Schwein, ein schmächtiger Underdog, nicht sonderlich helle. Richtig erstaunt war er, als ich Werner in Schutz nahm.
Werner Kreuzmann war behindert. Man sah es gleich. Eher teilnahmslos schaute er durch seine dicken Brillengläser in die Welt. Tolpatschig wirkte er. Er war mit mir in der Konfirmandengruppe. Auf unserem Konfirmationsphoto sitzt er links hinter Pastor von Boetticher.[4] Damals gab es noch die Konfirmandenprüfung. Einzeln wurden wir abgefragt, ob wir die Gebete, Sprüche und Lieder auch richtig gelernt hatten. Wir waren auf den Prüfer vorbereitet worden; ein schon älterer Superintendent. Krankheitsbedingt schüttelte er scheinbar verneinend den Kopf, auch wenn die Antwort richtig war. Es war schwer, nicht irritiert zu sein. Werner schien damit keine Probleme zu haben. Als er dran war, beugte sich von Boetticher vor und flüsterte dem Superintendenten etwas ins Ohr. Doch das war nicht nötig. Jeder sah und hörte sofort: Werner war behindert. Aber er hatte gelernt, er konnte, was er gefragt wurde und machte keine Fehler. Das hätten wir ihm nicht zugetraut. Nach der Konfirmation kam er manchmal mit auf Jugendfreizeiten und niemand hänselte ihn. Allerdings konnten wir mit ihm auch nichts anfangen und wir ließen ihn allein. Schade.
Er war dann tagsüber in einer Einrichtung am Maschsee. Die durchaus langen Wege legte er allein zurück. Dann fiel er in den Maschsee und ertrank. Wohl ein Unfall.
An die oben geschilderte Begegnung musste ich denken, als ich – nicht zum ersten Mal las, wie billig die Bundesländer davon kommen wollen, wenn es um ehemalige Heimkinder geht, die in Behindertenheimen oder Psychiatrien untergebracht waren. Mit denen kann man’s machen. Die können sich ja nicht wehren.
Da waren schon die „normalen“ ehemaligen Heimkinder aus den „Erziehungsheimen“ von Staat und Kirchen in Mittäterschaft von Antje Vollmer übelst über den Tisch gezogen worden[5] und billigst abgespeist. Die ehemaligen Heimkinder mit Behinderung blieben von diesen Wohltaten ausgespart, bis heute – und es wird wohl auch noch etwas dauern.
Doch die Bundesländer wollen es darüber hinaus noch billiger haben. War für die ehemaligen Heimkinder ein Maximalbetrag von 10.000 vorgesehen, so sollen es nun nur 9.000 werden, aber einige Bundesländer wollen gar nicht zahlen. Dazu kommen Rentenersatzleistungen – für die „normalen“ ehemaligen Heimkinder, die behinderten sollen nichts erhalten, meinen die Länder[6].
Am Beispiel der ehemaligen Heimkinder mit Behinderung lässt sich gut die Verkommenheit unseres politischen Spitzenpersonals ablesen, das der Kirchen inbegriffen.
Behinderte? Die sind doch so schön victimogen[7]. Was noch besser ist: Die sterben bald weg, dann wird’s noch billiger.
[1] http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/33375?utm_source=twitterfeed&utm_medium=twitter&utm_campaign=Feed:+Kobinet-nachrichten+%28kobinet-nachrichten+Teaser%29
[2] In Hannover-Linden
[3] Vielleicht auch Kreutzmann geschrieben.
[4] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/3700864382/
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[6] http://lv-selbsthilfe-berlin.de/aktuelles/keine-benachteiligung-ehemaliger-behinderter-heimkinder/
[7] https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/02/14/behinderte-die-sind-doch-so-schoen-victimogen/
Privat-öffentlich – „Lindenmatinee“ zum 70.
Übereinstimmung und Unterscheidung prägen uns, unsere Lebensweise, unsere Art, die Welt zu sehen, unseren Charakter. Besonders prägend sind die ersten Lebensjahre, in denen die Übereinstimmung überwiegt. Blicke ich aus der Distanz von 70 Lebensjahren zurück, sehe ich bei aller Wertschätzung auch das allmähliche Herauswachsen aus den Übereinstimmungen.
Warum allein zurückblicken, sagte ich mir und lud im Rahmen meines 70. Geburtstags zu einer Lindenmatinee ein, auch eine Art von Public-Private Partnership. Linden ist ein recht besonderer Stadtteil Hannovers, was ihm auch seine Verächter zuerkennen. Dort verbrachte ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens.
Die Verbindungen mit Linden lebten wieder auf, als ich begonnen hatte, Kindheitsbilder ins Netz zustellen[1]. Die Folge waren Mailkontakte, viele Photos, persönliche Treffen und regelmäßig mir nach Süddeutschland zugeschickte Stadtteilzeitungen und Zeitungsausschnitte.
Das Netzwerk Archive Linden-Limmer e.V. [2] ist ein sehr rühriger Verein und recherchiert die Lokalgeschichte. So gewann ich Herrn Jürging vom Vorstand des Vereins für den ersten Vortrag, den zweiten hielt ich selbst. Werbung gab es nicht, aber die Stadtteilzeitung veröffentlichte eine Notiz und der Gemeindesaal von St. Martin war rappelvoll, als Michael Jürging unter dem launigen Titel: Soweit hätte es nicht kommen müssen – 900 Jahre Linden, an Beispielen die geschichtliche Entwicklung Lindens passieren ließ, unterbrochen und bereichert durch spontane Einwürfe der Zuhörer. Genau so war es gewollt: Eine Geschichtswerkstatt, die fortgesetzt werden kann.
Mein Vortrag hieß Eine Kindheit in Linden und umfaßte im wesentlichen die Jahre 1944 bis 1964, wie ich sie erlebt habe und heute sehe: Die Familie, die Kameraden, die Spiele, der „Kiez“, und die Rolle von Schule und Kirche für mich in dieser Zeit. Da gab es vieles für die Zeit Typisches, zu berichten. Auch hier wurde es lebhaft mit Zurufen und Ergänzungen.
Was besonders schön war: Es waren Spielgefährten von damals gekommen, von denen ich nicht gedacht hatte, sie jemals wiederzusehen, auch manche, die ich erst wieder „einordnen“ mußte und andere konnte ich beim besten Willen nicht in meiner Erinnerung unterbringen. Bilder und kleine Photoalben wurden gezeigt und wir beschlossen, in Kontakt zu bleiben. Dank Internet findet man mich und braucht nur zu googeln.
Privat-öffentlich, – es gibt ja nicht nur peinliche private Informationen im Netz und den sozialen Netzwerken. Sie können Ausgangspunkt werden für alt-neue Kontakte und für neu-alte Gemeinsamkeiten. Im nächsten Jahre feiert Linden sein 900jähriges Jubiläum.- Dies war ein guter Auftakt.
Nachmittag und Abend waren dann – wie auch der Vorabend – privat mit der Familie und Freunden. Und das war dann wirklich privat mit den Erinnerungen und Darbietungen, wie man das zu einem solchen Anlaß so macht. Da will ich nicht weiter aus dem Nähkästchen plaudern. Nur so viel: Es ging auch um mich als Autofahrer. Und dazu fällt mir ein, daß ich doch noch eine Chance habe, in den Himmel zu kommen. Denn als ein Pfarrer und ein Busfahrer bei Petrus anklopften, schaute der in sein großes Buch, winkte den Busfahrer durch und schickte den Pfarrer in den Wartestand auf die harten Bänke des himmlischen Wartesaals. Wieso kommt der rein und ich muß warten? – Wenn Du gepredigt hast, haben alle geschlafen, erwiderte Petrus, aber wenn der gefahren ist, haben alle gebetet.
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