»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XI
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Elftes Kapitel
Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude
Fast drei Jahre lang hatte ich der Leipziger Polizei ein Rätsel aufgegeben. Dabei hatten sie den so fieberhaft Gesuchten schon einige Male in ihren Händen gehabt. Aber ich will nicht vorgreifen, bzw. zurückgreifen auf die Zeit vor dem 17. Juni, meiner Verhaftung. Von Dresden (Moritzburg) nach Leipzig ging es diesmal bedeutend schneller. Wir brauchten unterwegs ja auch nicht mehr alle Nase lang anhalten und Holz in den Ofen werfen. Auf dieser Fahrt hatte ich die Sächsische Schweiz zu meiner Rechten und die Meißner Burg zur Linken. Die Gegend in Leipzig, wo wir dann schließlich vor einem für meine Begriffe schicken Gebäude anhielten, kam mir sehr bekannt vor. Richtig, gar nicht weit davon entfernt war ja der Leipziger Zoo. Niemals hätte ich vermutet, dass sich hinter dieser überdimensionalen hohen Mauer, ganz in Weiß wie das dahinterliegende Haus, ein Kinderheim verbergen könnte.
Meine Akte musste mir schon vorausgeeilt sein. Ohne dass meine Begleiter viel Worte machten, wurde ich ziemlich frostig in Empfang genommen. Mit einem „Na, du Früchtchen-Blick“ wurde ich übernommen. „Auch dich werden wir kirre kriegen!“ mit diesen Worten wurde ich in eine kleine Dachkammer gesperrt. Innerlich musste ich denen schon Recht geben. Es war eine Strafe für mich, so isoliert von allen anderen die langen Tage zu verbringen. Ich erdreistete mich nach einem Buch zu fragen.
„Du ? Ein Buch? Du musst erstmal zur Besinnung kommen, in dich hineinhorchen. Damit hast du genug zu tun!“ wurde ich mit meinem Begehren schroff abgewiesen.
Eine uralte Zeitung fand ich dann unter der Matratze. Was ich da las, kannte ich schon vom Museum im Leipziger Rathaus her. Es ging in einem der Artikel darum, der friedliebenden DDR-Bevölkerung aufzuzeigen, welche Barbaren doch die Amerikaner seien. Hatten sie dem armen koreanischen Volke nicht die Kartoffelkäfer beschert? Bombenähnliche Hohlkörper waren im Museum zu sehen und Bilder mit abgefressenen Kartoffelstauden. Diese Bomben hatten angeblich die bösen amerikanischen Bomberpiloten über Koreas Äcker abgeworfen. Im Geographieunterricht hatte ich zwar gelernt, dass in der dortigen Region Reis die Hauptnahrung sei, aber wer würde sich schon über solche Kleinigkeiten aufregen? Hauptsache war doch, dass man den bösen Amis wieder eine frevelhafte Tat unterjubeln konnte. Außer diesem und anderen weitaus schwerer verständlichen Artikeln hatte ich nichts, womit ich mich hätte ablenken können. Von meinem winzigen Dachkammerfenster aus hörte ich in den Schulpausen[1] draußen manchmal die Kinder toben. Wenn ich Glück hatte erhaschte ich auch mal einen Blick auf eines der Kinder, wenn sie sich ganz in der Nähe der Mauer aufhielten. Das Haus selbst schloss genau mit der etwa 5 Meter hohen Mauer ab. Außer gelb und rot werdenden Laubbäumen gab es für mich nichts weiter zu sehen.
Ich wollte von allem etwas lernen, um später einmal ein guter Erwachsener zu werden.
Dreimal am Tage bekam ich einen Erzieher oder Erzieherin zu Gesicht. Nur um mir das Essen reinzureichen wurde die Türe kurz geöffnet. Morgens und abends jeweils zwei Scheiben Brot mit an dem Gaumen kleben bleibender Braunkohlemargarine[2] bestrichen und dem obligatorischen Malzkaffee. Erbswurstsuppe wechselte sich mit Steckrüben oder Kohlsuppe ab. Die Kohlsuppe z.B. war derart eingebildet, dass sie einen noch nicht einmal mit einem Fettauge anguckte. Immer wenn es Kartoffeln gab wusste ich, dass Sonntag war. Dazu ein Stück Bauchfleisch oder eine Frikadelle. Der Nachtisch: eine Scheibe angebratnes Stück Weißbrot, etwas Vanillesoße drüber rundeten das Sonntagsessen ab. Ich war glücklich, als ich eines Tages außen auf dem Fenstersims versteckt einen Stummel Kopierstift fand. Damit hielt ich meinen Geist auf Trab. Ich begann Zahlen zu addieren, subtrahieren und dividieren. Das alles machte ich an der ölgestrichenen Wand. Wahrscheinlich bin ich heute noch so gut im Kopfrechnen.
Nach drei Wochen wurde ich zum ersten Mal aus meiner Abgeschiedenheit herausgeholt. Ich wurde einem vierköpfigen Lehrerkollegium vorgeführt. Dieses sollte prüfen, ob ich nach dem langen Schulausfall in der Lage wäre, mit dem Stoff der 6. Klasse mithalten zu können. Von der sechsten Klasse hatte ich ja noch nicht einen einzigen Tag Schule mitbekommen. Schon in der fünften Klasse hatte ich maximal an der Hälfte der vorgeschriebenen Schultage teilgenommen, und dennoch ein Versetzungszeugnis erhalten. Also an den Fehltagen der sechsten Klasse trug ich ja nun wirklich keine Schuld. Offensichtlich konnte ich die Pädagogen davon überzeugen, dass es sich erproben ließe, in die sechste Klasse eingewiesen zu werden. Sollte sich mein Niveau nach der Hälfte des Schuljahres nicht bestätigen lassen, so drohte man mir an, mich wieder in die fünfte Klasse zurück zu versetzen. Mir sollte das recht sein.
Im Gegensatz zu den Heimen, die ich bisher kennengelernt hatte (Westberlin-Aufenthalt ausgenommen), war hier alles picobello sauber und adrett. Schlafräume nur mit 4 oder 6 Jungs belegt. Sogar richtige Duschräume gab es hier. Solch einen Luxus hatte ich ja noch nicht einmal Zuhause gehabt. Dort wurde am Samstag noch die Zinkbadewanne mit Wasser gefüllt, wo wir dann alle drei (meine Schwester, meine Mutter und ich) nacheinander unser wöchentliches Vollbad nahmen.
Das Kämpferherz entschied einen Kampf.
Einiges musste bei meinen neuen Heimkollegen schon durchgesickert sein was meine Person betraf. Irgendwie wurde ich mit einer gewissen Ehrfurcht angesehen und auch so behandelt. Dafür stellten Erzieher wie auch Lehrer besondere Ansprüche an mich. Das störte mich aber keineswegs. Ich war ja von Haus aus lern- und wissbegierig. Ich wollte von allem etwas lernen, um später einmal ein guter Erwachsener zu werden. Putzen und Bohnern, Strümpfe stopfen und Sachen flicken, oder ob ich nun dran war: das Scheißhaus, der Gemeinschaftsraum, oder etwas anderes, – ich ließ mich nicht erschüttern. Wenn man in meinem frisch gemachtem Bett noch eine Falte vorfand und das ganze Bett wieder auseinander riß, was sollte es? Ich baute es nochmal, und nochmal! Bei solch kleinlichen Schikanen vergaß ich ganz meine Hasskappe aufzusetzen. Einem der etwas größeren Jungen ging es gegen den Strich, dass ich nun der Hahn im Korb war. Auch wegen der Mädchen. Von denen ich manchmal solche Zettelchen zugesteckt bekam, wo dann drauf stand: „Willst du mit mir gehen?“ Der Bursche begann seine Körpergröße und Kraft gegen mich auszuspielen. Ich wollte eigentlich nur meine Ruhe haben und mich ganz auf meine neuerlichen Fluchtpläne konzentrieren. Dabei konnte ich es mir nicht leisten bei den Erziehern unliebsam aufzufallen. Diese hatten sich schon etwas einschläfern lassen und glaubten nun schon fast selbst nicht mehr daran, dass ich so gefährlich sei, wie es aus meinen Akten hervorging. Je mehr ich diesen Kraftprotz links liegen ließ, desto wütender wurde der. Er glaubte anscheinend, dass ich zu feige sei es mit ihm direkt aufzunehmen. Er hänselte und schubste mich sobald ich in seine Nähe kam. Wenn möglich am liebsten, wenn Zeugen in der Nähe waren. Das alles aber ging mir kalt am Arsch vorbei. Ich hatte meine eigenen Pläne, die ich nicht gefährden wollte. Es kann den Ruhigsten dann doch mal was aus der Fassung bringen. Hatte ich mir schon genug von den Erwachsenen gefallen lassen müssen, so musste ich mir nicht auch noch von einem etwa Gleichaltrigen, bloß weil er einen Kopf größer und um einiges schwerer war, wehtun lassen. Vor diesem Bengel ging mir nun doch jeder Respekt ab, den ich vor Erwachsenen immer noch hatte. Nachmittags, draußen auf dem Hof beim Fußballspielen wurde der Kerl auch noch saurer auf mich, bloß weil ich etwas wendiger als er war, ihn ausgedribbelt hatte und mit dem Ball an ihm vorbeizog. Er lief hinter mir her, nahm mich ganz unsportlich in den Schwitzkasten. Wie man sich aus so etwas befreit hatte ich vom Mann meiner Schwester, der Offizier bei der NVA war, gelernt. Ein Fuß hinter dem seinen verhakelnd griff ich ihm urplötzlich fest in die Eier. Seine Arme ließen ganz schnell meinen Hals frei. Um meinem unsanften Griff zu entgehen machte er einen Schritt rückwärts, und fiel prompt auf seinen Allerwertesten. Dass die Zuschauer auch noch darüber lachten trug nicht gerade zu seiner Wertsteigerung bei. Er rappelte sich wieder auf und wie ein wütender Stier griff er mich wieder an. Damit hatte ich gerechnet. Geduckt, dabei seine Fäuste wie Windflügel gebrauchend, stürzte er sich auf mich. Oder wollte es zumindest mit seinem Gewicht erreichen mich zu Boden zu werfen, wo ich natürlich der Unterlegene sein musste. Ein kleiner Sidestep, ein Griff in seine Mähne, dass Knie hochreißen, sein Nasenbein damit zertrümmern, war Sekundensache. Dafür hatte ich dann aber auch für den Rest meines Aufenthaltes in diesem Heim meine Ruhe. Ich war auch gar nicht weiter rachsüchtig gegen ihn. Bloß hin und wieder, wenn er anderen gegenüber wieder mal den starken Mann rauskehren wollte, trat ich ihm kräftig in den Arsch. Sobald er festgestellt hatte, woher der Tritt gekommen war, wurde er gleich wieder lammfromm. Nicht die Größe und das Gewicht waren bei einem Kampf ausschlaggebend. Das Herz! Das Kämpferherz entschied einen Kampf. Na ja, ein wenig Brutalität gehörte auch dazu, um dem anderen den Schneid abzukaufen. Es gibt eben Typen die nur diese Sprache verstehen. Mir sollte es recht sein. Von mir bekam jeder das was er brauchte. Ich sah einfach nicht ein, dass man sich auf meine Kosten amüsierte.
Mir wurde gleich Platz gemacht.
Der Respekt mir gegenüber bei den Kindern wuchs dann noch etwas, als sie die Bestätigung dafür bekamen, was sie vorher nur hatten munkeln hören. Eines Nachts, ich wurde richtig ungehalten über die Störung meines Schlafes, wurde ich gleich von mehreren Kindern in meinem Bett umringt. Ganz aufgeregt verlangten sie von mir, dass ich in den Dusch- und Waschraum gehen solle. In meinem nachtduseligen Kopf glaubte ich zunächst, dass man mich in eine Falle locken wolle. Da sie alle ziemlich aufgeregt durcheinander redeten, begriff ich gar nicht so schnell, worum es überhaupt ging. Ich drohte ihnen Prügel an, wenn sie mich nicht in Ruhe weiter schlafen ließen. Die aber waren viel zu aufgeregt, als dass sie sich davon abschrecken ließen. Endlich war ich ganz wach. Ich ließ mich von den Kindern in Richtung Waschraum ziehen. Ich war Baff! Da standen doch tatsächlich im Waschraum sieben übernächtigte Kinder wie ein einziges Häufchen Elend und ließen sich von den einheimischen Kindern verschüchtert anglotzen. Mir wurde gleich Platz gemacht, als mich die Delegation, die man eigens um mich abzuholen ausgeschickt hatte, in den Waschraum führte.
Wie war das denn möglich? Ich dachte, ich sollte nie mehr mit einem der Kinder aus dem Waldheim zusammenkommen. Und das auch noch mitten in der Nacht. Die fünf Jungen und zwei Mädchen atmeten sichtlich auf, als sie meiner ansichtig wurden. Es war doch immer wieder schön alte Freunde in der Fremde wiederzutreffen. Langsam aber wurde es eng mit den vorhandenen Heimplätzen in der DDR. Diese 7-köpfige Bagage war nur nach Leipzig gekommen, weil es ihnen auch in dem Heim, wo sie nach dem Brand hingekommen war, nicht besonders gefallen hatte. Sie waren der Meinung gewesen, was einmal so gut geklappt hatte, wäre wiederholungswürdig. Mein erster Gedanke war: Das werden sie dir doch nun nicht auch noch in die Schuhe schieben wollen?
So wie die Erzieher und Lehrer mich am nächsten Tag anschauten, kam es mir so vor als würden sie! Na, sollten sie. Ich war inzwischen Kummer gewohnt. Ich hatte ohnehin nicht vor noch lange hier zu verweilen und noch weitere Kinder zu verderben. Ich hatte längst, allen Unkenrufen zum Trotz, einen Weg gefunden, wie ich auch hier rauskommen konnte. Über die Mauer war schier unmöglich, das stimmte. Vorgänger von mir hatten auch schon versucht, den Pförtner auszutricksen, indem man auf einen Augenblick wartete, wo der Pförtner das Tor für einen Besucher öffnete, um dann zu entwischen. Doch, wie mir schon der Eine aus meiner Dresdner Eskorte erzählt hatte, hatte es bei dem nur für ein paar hundert Meter gereicht. Ich dagegen hatte mir etwas unmöglich Scheinendes ausgedacht. Zwar mit großem Risiko behaftet, aber das war mir meine Freiheit wert. Hatten mich die englischen Bomben nicht umgebracht, die russischen Tiefflieger nicht getroffen, so würde das Glück schon auch diesmal auf meiner Seite sein.
„Hallo Leute, ich möchte euch allen nur noch Tschüß sagen. Ich haue jetzt nämlich ab.“
Wurde das Grundstück an der Vorderseite durch die hohe Mauer unüberwindlich, so wurde die Rückseite von der Schwarzen Pleiße abgegrenzt. Nur ein echter Leipziger, der die Pleiße kannte, konnte ermessen, was das hieß. Brrrr. So eine stinkende Dreckskloake auf der die meiste Zeit halbmeterhoch der weiße Schaum von chemischen Abwässern schwamm. Bloß gut, dass ich hier nicht hatte den Sommer verbringen müssen. Alleine der Gestank schreckte vor einem Überqueren ab. Hinzu kam, dass sich unter dem träge dahin fließendem Wasser eine dicke Schlammschicht befand. Abgesehen davon, dass die Pleiße hier auch eine stattliche Breite von ca. 8 Metern erreichte, schien sie auch ansonsten unüberwindlich zu sein. Selbst wenn man den Ekel überwinden konnte, diese Drecksbrühe zu durchschwimmen, war wohl gewährleistet, dass man mitten im Schlamm stecken blieb. Ich konnte mir eine bessere Art, Selbstmord zu begehen, vorstellen. Aus diesem Grunde war sich die Heimleitung auch sicher, dass es erst niemand versuchen würde, über diese natürliche Grenze zu entwischen. Es wurde den Kindern ja auch immer in regelmäßigen Abständen unter die Nase gerieben, wie gefährlich dieser Fluss sei.
Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass eine Gefahr, die man kennt, keine Gefahr mehr darstellt. Ich war weder besonders sportlich noch musikalisch. Das musikalisch erwähne ich nur deswegen, weil diese beiden Fächer in der Schule meinen Notendurchschnitt enorm in Mitleidenschaft zogen. So hatte ich in meinem letzten Zeugnis nur einen Durchschnitt von 2,2. Meine Ernährung in Kindertagen, Katzen, Frösche, Igel, Kohl und Rüben, hin und wieder auch mal ein wenig Pferdefleisch, hatte bei mir keinen besonderen Muskelaufbau bewirkt. Ich war ein leichtgewichtiger Floh. So war ich eigentlich in der Schule immer nur im Hochsprung einer der Besten. Aber das zählte nicht. Für ein Kletterseil oder Bocksprung reichte meine Armkraft bei weitem nicht. Erst bei der Bundeswehr brachte ich es auf fast allen Gebieten zu überdurchschnittlichen Leistungen. Für das, was ich vorhatte, würde meine Sportlichkeit schon ausreichen. Vor allem deshalb, weil ein besonderer Wille dahintersteckte. Der Drang zur Freiheit. Mal wieder in den Armen der Mutter zu kuscheln. Meine Kraft musste ganz einfach ausreichen. Es gab nur diese eine einzige Chance von hier wegzukommen.
Zum Heimgelände gehörte auch ein Garten, der hauptsächlich von den Kindern gehegt und gepflegt wurde. Die Ernte jedoch, so erfuhr ich von den ansässigen Kindern, fuhren die Erzieher und Lehrer ein. Was machte es da schon, wenn ich mir heimlich eine Bohnenstange stibitzte? Damit diese nicht entdeckt wurde, meldete ich mich freiwillig dazu, das gesamte Laub der Bäume, das in dieser Jahreszeit reichlich anfiel, zusammenzufegen und auf einen Haufen zu sammeln. Zwar löste es bei den Erziehern einige Überraschung aus, dass ausgerechnet Schulz sich zu einer freiwilligen Arbeit meldete, aber damit hatte es sich auch schon. Man ließ mich gewähren. Es wurde bewilligt. Schon alleine aus dem Grunde, weil es die Jahre vorher immer auf Schwierigkeiten gestoßen war, Freiwillige dafür zu finden. Unter diesem Laubhaufen ließ sich meine eigens dafür ausgesuchte Bohnenstange vortrefflich verstecken. Dies erwähne ich nur deshalb, damit niemand auf die Idee kommt, Schulz wäre auf dem Wege der Besserung oder zu den „Radfahrern“ übergelaufen. Keine Bange, die Geschichte geht weiter! Mit anderen, kürzeren Stangen die nicht so sehr auffielen und irgendwelchen Argwohn hätten hervorrufen können, lotete ich mehrmals, in günstigen Augenblicken, die Schlammschicht der Pleiße aus. Ich machte dann auch eine Stelle aus, wo der Untergrund nicht allzu tief zu spüren war. Durch einige Gegenproben war ich mir der Sache bald sicher. Hier, und nirgendwo anders musste ich meine Stange eintauchen. An einem der letzten schönen Oktobertage des Jahres 1953 verabschiedete ich mich dann auch ganz höflich von meinen Leidensgenossen und natürlich auch von Erziehern und Lehrern, die gerade Hofdienst taten. Doch ja, ich konnte auch ein höflicher Mensch sein. Das bewies ich hiermit allen. Dabei hoffte ich inständigst und mit rasendem Herzklopfen, dass alles so verlaufen würde, wie ich es mir ausgedacht hatte. Ich hatte nur den einen Versuch. Zum Proben hatte ich keine Gelegenheit. Entweder es klappte auf Anhieb oder ich war der Blamierte. Vielleicht aber ersoff ich auch nur ein wenig in diesem Pleißeschlamm. Alles war mir lieber, nur nicht mehr dieses Heimleben! Unter dem schön aufgeschichteten Laubhaufen, der etwas abseits vom Pausenhof lag, zog ich meine Bohnenstange hervor, winkte und rief den verdutzt herüberstarrenden zu: „Hallo Leute, ich möchte euch allen nur noch Tschüß sagen. Ich haue jetzt nämlich ab. Ich finde dieses Heim wie alle anderen zum Kotzen!“ Schon das „Hallo Leute!“ hatte ich laut genug gebrüllt, um mir selbst Mut zu machen, und damit ich auch sicher sein konnte, dass mich alle hören konnten. Alle hielten in ihrer jeweiligen Beschäftigung inne. Alle starrten zu dem Verrückten rüber. Auch die beiden Erzieher und der Lehrer des Hofdienstes. Ich glaube ein mitleidiges Grinsen in ihren Gesichtern noch erkannt zu haben, bevor ich die Stange zur Hand nahm. Ich hatte nie mehr die Gelegenheit danach zu fragen, was sie bei meiner Ankündigung genau gedacht hatten. Ich hatte etwa 40 Meter Vorsprung. Die Erstarrung ausnutzend, die meine Ansprache – Abschiedsworte – hervorgerufen hatten, griff ich mir meine Stange fester und … nahm Anlauf. Wie eine Hochsprungstange richtig angefasst wurde, hatte ich mir genau gemerkt, als uns mal ein Film der Spartakiade[3] vorgeführt worden war und wo bei mir die Idee geboren wurde, auf welchem Wege ich auch dieses Heim verlassen könnte.
Meinen Anlauf beschleunigend hatte ich nur den einen Gedanken: Nur ja nicht die richtige Stelle verfehlen, wo der Stab ins Wasser getaucht werden musste. Nur ganz verschwommen nahm ich das Gejohle meiner Mitschüler/innen wahr. Mir ist nicht erinnerlich, ob auch Erzieher und Lehrer in dieses Gejohle eingestimmt haben. Ich traf die richtige Stelle. Wie aufgezogen, mich am Stab festklammernd, wurde ich in die Höhe gezogen. „Das geht ja fast wie von selbst!“ dachte ich bei mir. Ich fühlte mich für Sekunden wie beschwingt als ich spürte, dass ich sicher am anderen Ufer anlangen würde. Losgelöst von der Erde, was ja im wahrsten Sinne des Wortes auch stimmte, jauchzte ich innerlich vor Freude. Einerseits weil ich mich der Freiheit näher fühlte, zum anderen weil ich allen anderen wieder mal ein Schnippchen geschlagen hatte. Dieses Gefühl des Triumphes kostete ich dann auch noch richtig aus. Ich landete gar nicht mal so unsanft auf dem gegenüberliegenden Ufer, drehte mich um, stieß beide Fäuste in die Luft und brüllte (was, weiß ich nicht mehr, sofern ich mich überhaupt selbst hörte, weil mein Herz so sehr pochte) meinen Frust heraus, der von mir abgefallen zu sein schien. Die teils blöd dreinschauenden, teils lachenden Gesichter werde ich wahrscheinlich mein Leben lang nicht vergessen, die ich dort auf der anderen Seite des Flusses zurück ließ. Die Kinder winkten mir größtenteils freudig erregt zum Abschied, während das erboste Personal lautstark verlangte, dass ich zurückkäme.
Fußnoten
[1] Schulz: (Die Schule war im Heimgebäude integriert, wie fast in allen Heimen.)
[2] Funktionieren müsste das Ganze folgendermaßen: Mittels Kohlevergasung wird aus glühender Kohle und Wasserdampf Synthesegas (Kohlenmonoxid und Wasserstoff) gewonnen. Aus dem Synthesegas gewinnt man mittels des Fischer-Tropsch-Verfahrens Kohlenwasserstoffe (Mineralöl ). Denen wird eine Carboxylgruppe verpasst. Durch Veresterung von Glycerin mit den Fettsäuren (=Monocarbonsäuren) bekommt man ein Fett (Margarine) Guten Appetit http://www.chefkoch.de/forum/2,52,236032/Butter-aus-Kohle.html
[3] Die Kinder- und Jugendspartakiaden waren in der Deutschen Demokratischen Republik … regelmäßig veranstaltete Sportwettkämpfe. Sie sollten Kinder und Jugendliche zu regelmäßiger sportlicher Betätigung anhalten, dienten aber auch der frühzeitigen Erkennung potenzieller Leistungssportler. https://de.wikipedia.org/wiki/Kinder-_und_Jugendspartakiade
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/07/01-erstes-kapitel.pdf
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.
https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/09/03-weiter-im-kreislauf.pdf
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere
04-beginn-meiner-heimkarriere-17-juni-53_2
Kapitel 5, von Heim zu Heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen
06-wieder-gut-im-geschaft-mit-den-russen
Kapitel 7, Lockender Westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.
PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin
PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin
Kapitel 10, Bambule
PDF: 10-bambule
Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude
PDF: 11-losgelost-von-der-erde
Wie geht es weiter?
Kapitel 12, Ihr Lächeln wurde um noch eine Nuance freundlicher. Süßer!
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