1999 war ein (ge-)denkwürdiges Jahr.
Posthum, elf Jahre nach seinem Tod, erhielt Josef Klehr, ein NS-Massenmörder, den Niedersächsischen Verdienstorden.[1]
Im selben Jahr erschien die filmische Reportage „Drei deutsche Mörder. Aufzeichnungen über die Banalität des Bösen. Interviewt wurden vierzehn Jahre nach dem Auschwitzprozess Josef Klehr, Oswald Kaduk und Josef Erber zu Auschwitz und ihrem Selbstverständnis als ehemalige Angehörige des SS-Lagerpersonals.
So kam Ehre zu Ehre, denn das Kriegsverdienstkreuz[2] hatte Klehr sich bereits erworben für seine Arbeit im KZ: „Klehr liebte es, nach der Untersuchung der kranken Häftlinge durch den Lagerarzt weitere Häftlinge in den Krankensälen des Häftlingskrankenbaus für die Tötung durch Phenol auszusuchen, sowie der Lagerarzt das Lager verlassen hatte. Dabei ging er durch die Krankenblocks und wählte willkürlich jüdische Häftlinge aus […] [Er] hatte eine Vorliebe für gerade Zahlen. Er wollte die Zahl der durch den Lagerarzt zur Tötung ausgewählten Häftlinge ‚nach oben aufrunden‘.“[3]
Wie kam er zu dieser posthumen Ehrung? Wer hat ihn vorgeschlagen? Wer hat den Vorschlag geprüft?
Oder hat die Zeugenaussage von Klehr vorm Schwurgericht in Frankfurt am Main[4] so überzeugend gewirkt: „Keine Erklärung. Kein Deshalb. Nur Dienstpläne.“ [5] Er wurde dort im August 1965 immerhin „zu lebenslangem Zuchthaus und weiteren 15 Jahren Zuchthaus wegen Mordes in „allermindestens 475 Fällen“ und Beihilfe zum Mord in mehreren Tausend Fällen verurteilt. Zudem verlor er die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit. Am 25. Januar 1988 wurde die Strafvollstreckung wegen Vollzugsuntauglichkeit ausgesetzt, am 10. Juni 1988 wurde dann der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt. Klehr starb wenige Monate später.“[6]
Die bürgerlichen Rechte hatte er auf Lebenszeit verloren. Daher sprach wohl nichts gegen eine posthume Ehrung.
Fußnoten
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Tr%C3%A4ger_des_Nieders%C3%A4chsischen_Verdienstordens#1999
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsverdienstkreuz_(1939)
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Klehr
Zeitvergleich
Geschichte wiederholt sich nicht – so heißt es. Doch es gibt merkwürdige Parallelen.
Heute sehen wir einen Artikel aus der Frankfurter Zeitung vom 01.11.1929.[1] 90 Jahre ist es her, dass diese Zeitung eine detaillierte Analyse des Aufstiegs der Nazi-Partei vorlegte. Vier Jahre später galt keine Pressefreiheit mehr, war alles gleichgeschaltet zu einer Nazi-Lügenpresse.
Schnuppern wir doch kurz die Luft der damaligen Freiheit:
»der Kern der Wählerschaft hat an der guten demokratischen Tradition des Landes festgehalten; nur ein – allerdings ansehlicher – Bruchteil ist der nationalsozialistischen Werbung widerstandslos erlegen, nämlich der Teil der Bauernschaft und des Bürgertums, den Kriegsende, Umwälzung und Inflation politisch aus dem Gleise geworfen und derart direktionslos gemacht haben, daß er, verstärkt durch wirtschaftlich Unzufriedene aller Art, seit zehn Jahren von Wahl zu Wahl anderen Phantomen nachjagt.« » Für den [badischen] Landtag bedeutet der Einzug der Nationalsozialisten eine Vermehrung der Elemente, die sich weigern, überhaupt fair mitzuarbeiten, die die Aufgabe des Landtags nicht fördern, sondern von innen heraus sabotieren wollen. Zu den fünf Kommunisten kommen sechs Nationalsozialisten; ein volles Achtel des Landtags wird damit aus Abgeordneten gegen den Landtag bestehen. Sie treiben ein unehrliches Spiel, indem sie trotzdem die volle Gleichberechtigung mit den andern Parteien in Anspruch nehmen – die ihnen selbstverständlich gewährt werden wird –, wie es auch unehrlich ist, selbst einen Staat des Zwanges, der brutalen Vergewaltigung aller Andersdenkenden zu propagieren und gleichzeitig laut zu lamentieren und vor Entrüstung außer sich zu sein, wenn der bestehende Staat sich gegen ihre Wühlarbeit mit sehr zahmen Mitteln zur Wehr setzt.«
Zeitsprung
»Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD. Das erklärt natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AfD. Aber es ist ein wichtiger Faktor, ähnlich wichtig wie andere Erklärungen, die man bislang oft hören konnte: Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung.«[2] »Was die beiden Parteien gemeinsam haben, ist, dass sie offensichtlich Menschen mit ihren rechtspopulistischen Denkweisen ansprechen, mit relativ schnellen und national gefärbten Lösungen für Probleme und Krisen der Zeit, mit ihrem Insider-Outsider-Denken.«
Dies ist die eine Seite des Problems und seiner Parallelen. Die weiteren Details sollte man den angegebenen Artikeln entnehmen. Dann sieht man auch, dass ein 1:1 Vergleich nicht funktioniert.
Doch auf der anderen Seite des Problems haben wir wieder eine Parallele.
Vor 90 Jahren schrieb die Frankfurter Zeitung: »Die Empfänglichkeit weiter Volkskreise für die nationalsozialistische Agitation könnte nicht so groß sein, wenn die Republik die volle Ueberzeugungs- und Anziehungskraft entfaltet hätte, die gerade einer auf dem demokratischen und sozialen Prinzip aufgebauten Institution innewohnen muß. Deshalb muß der Nationalsozialismus der Republik ein Stachel zur Selbstkritik sein; die Republik ist robust genug, um solche unablässige Selbstkritik ertragen zu können.«
Die Überzeugungs- und Anziehungskraft unserer Demokratie ist im Sinken und als enttäuschter/empörter Bürger könnte man geneigt sein, mancher AfD-Argumentation zu folgen – wenn es nicht die AfD wäre. Unsere Funktionseliten haben ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren durch zahlreiche Skandale. Es sind ja nicht nur die Großbauprojekte, die merkwürdigerweise nicht von der Stelle kommen, es ist nicht nur der Zustand unserer maroden Infrastruktur, bei dem man sich fragt, wo die Steuergelder hingeflossen sind. Es ist vor allem die Kumpanei mit Wirtschaft und Industrie geschmiert durch die Lobbyvertreter, genannt sei hier nur die Autoindustrie, die gerade durch ihre Betrügereien dabei ist, unsere Wirtschaft gegen die Wand zu fahren. Transparenz in diesen Dingen ist Tabu und die „Abgeordnetenwatch“ ein böser Bube.
Unser Gemeinwesen wird von zwei Seiten bedroht: Von seinen Vertretern, die gekonnt auf der Klaviatur gesetzlicher Möglichkeiten spielen – und dabei auch manchmal falsch spielen. Ihnen muss man auf die Finger hauen und sie bei den Wahlen abstrafen – wenn es da denn Alternativen gibt. Die erklärten Gegner unserer menschenrechtsbegründeten freiheitlichen Lebensweise sind Feinde dieses Staates und der Mehrheit der rechtlich Denkenden. Hier müssen unsere Staatsorgane mit allen rechtlichen Möglichkeiten durchgreifen bis hin zum Parteienverbot. Es wird Zeit. 1929 hatte man nur noch vier Jahre bis zur Machtergreifung der Feinde der Menschheit.
[1]Zitate aus : https://www.faz.net/aktuell/politik/historisches-e-paper/historisches-e-paper-nsdap-erstmals-im-badischen-landtag-16402663.html
[2] Die gegenwartsbezogenen Zitate sind entnommen aus: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-02/afd-waehler-rechtsextremismus-nsdap-gemeinden-milieu/komplettansicht
Eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad[1]?
Da es inzwischen auch Richter gibt, die das für gut halten[2], da schon länger der Verdacht besteht, dass nicht alle unsere Institutionen auf allen Ebenen den gesetzlichen Vorgaben gemäß funktionieren[3]und angesichts der angeschwollenen Zahl von Unterstützern nazi-verwandter Parolen[4], scheint es mir „zeitgemäß“, an die Aufgaben unserer Institutionen zu erinnern. Beispielhaft sei hier die Polizei genannt, die auch nicht durchgängig sicher ist vor manchen Nazi-Denkmustern. Wir brauchen aber eine durchgängig demokratisch gesinnte Polizei für den Schutz unserer Grundrechte.
Darum sei hier eine Vereidigungsansprache aus dem Jahre 1992 wiedergegeben.
Bereitschaftspolizei Biberach
Vereidigung – 8. Mai 1992
Wir haben heute den 8. Mai. Heute vor 47 Jahren war der zweite Weltkrieg zu Ende. Nach diesem Tag sind in anderen Ländern Europas Straßen und Plätze benannt. Dieser Tag bedeutete Sieg und Befreiung für die einen und Niederlage für die anderen. Manche haben bis heute nicht verstanden, daß auch für die Verlierer die Niederlage zugleich eine Befreiung sein kann. Es war die Befreiung von einem Regime, das seine Beamten mit einem Treueid auf den Führer verpflichtete. Beamte wurden nach dem Deutschen Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 vom Führer ernannt, damit sie den Willen des von der NSDAP getragenen Staates in rücksichtslosem Einsatz und äußerster Pflichterfüllung vollstreckten. Beamter konnte nur werden, wer Reichsdeutscher und deutschen oder artverwandten Blutes war (soweit verheiratet, galt das auch für den Ehepartner). Wir wissen, wohin rücksichtsloser Einsatz und äußerste Pflichterfüllung geführt haben. Auch die Polizei des Deutschen Reiches hat ihre so verstandene Pflicht erfüllt, nachdem man in den Anfangsjahren des Nazi-Terrors demokratisch gesinnte Beamte aus dem Dienst entfernt und braune Hilfstruppen mit Polizeiaufgaben betraut hatte. Es scheint mir nötig, an diese Zusammenhänge zu erinnern, nachdem braunes Gedankengut und Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Progromen bei uns zulande wieder Auftrieb haben.
Wir sind gerade Zeitzeugen, wie ein anderes Unrechtsregime auf deutschem Boden sein Ende gefunden hat. Dort wurden die Polizisten vereidigt auf das sozialistische Vaterland und seine Regierung. Sie versprachen treue Ergebenheit bis hin zum Bruch der geschriebenen Gesetze, denn die Parteiräson hatte Vorrang. Die juristische Aufarbeitung des roten Unrechts wird, wie es scheint, schneller und effektiver vorangetrieben, als die des braunen. Die unkomplizierte Übernahme von Beamten, die nach ’45 die Regel war, ist unseren umständlichen Prozeduren gewichen, die wenig darauf Rücksicht nehmen, daß Menschen nach dem Niedergang eines Systems, das sie geprägt hat und für das sie gelebt haben, nur dann diese Niederlage akzeptieren können, wenn man ihnen eine lebenswerte Zukunft eröffnet. Doch bei allen persönlichen Härten hat dieses Verfahren auch sein Gutes. Wir dürfen es allerdings nicht nur benutzen, um dem ideologischen Gegner in Siegerpose unseren Stiefel aufs Haupt zu setzen. Wenn unser System lediglich produktiver war als die Kommandowirtschaft, dann berechtigt uns das noch lange nicht zu rechtlich-moralischer Überheblichkeit, ganz abgesehen davon, daß wir nicht wissen können, wie wir selber uns in einem System bewährt hätten, das seine Menschen total in den sozialistischen Anspruch nahm. Solche Systeme sind allemal ein gutes Beispiel für die Verführbarkeit des Menschen und über die wollen wir heute, am Tag Ihrer Vereidigung, nachdenken. Eine Eidesleistung unter Berufung auf die höchsten Werte, die eine Gesellschaft wie auch der einzelne, der den Eid ablegt, erkennt, ist ja immer eine Verpflichtung, eine Gewissensbindung, eine Impfung gegen die Versuchung, solche Werte zugunsten von persönlichen Vorteilen finanzieller und emotionaler Art mit Füßen zu treten.
Wenn wir uns das einmal anhand der beiden genannten Beispiele aus der deutschen Geschichte betrachten, dann wird eines ganz deutlich: Das ganz große Unrecht ist selten oder nie von der Verfassung oder den Gesetzen abgedeckt. Die Nazi-Diktatur machte zwar von Rechts wegen einen Unterschied zwischen arischen und nichtarischen Staatsangehörigen, doch es gab meines Wissens kein Gesetz, das die Mißhandlung oder gar Tötung von Juden und anderen als Schädlinge betrachteten Menschen erlaubt hätte. Alle Beamten, die im Dritten Reich vereidigt wurden, konnten sich bei diesem Unrecht nicht auf einen Treueid berufen, der sie zu diesem Tun verpflichtet hätte. Doch muß man einräumen, daß die Verpflichtung auf einen Führer und eine Partei alle möglichen Entwicklungen ermöglichte. Dies konnte bei der fatalen Neigung der meisten Menschen zu bedingungslosem Gehorsam, soweit es sie selbst nichts kostet, von den Machthabern entsprechend ausgenutzt werden. In der roten Diktatur waren die Dinge schon etwas schwieriger. Hier lag bei der Vereidigung die Betonung ganz deutlich auf der sozialistischen Rechtsordnung, wenn auch die Regierung mitgenannt wurde. Die Partei blieb beim Eid außen vor. Unrecht war hier kaum rechtlich gedeckt. Zwar wissen wir, daß Ulbricht persönlich Todesurteile schon vor dem Gerichtsverfahren verfügt hatte, doch stehen wir generell vor die Schwierigkeit, daß die Rechtsverletzungen, die Mißachtung des geschriebenen Rechts eher beim Vollzug als bei den die Politik bestimmenden Personen nachgewiesen werden kann. Die Verführung zu praktikablen Gesetzesverstößen geschah weiter unten: Grenzsoldaten wurden bei der Schießausbildung instruiert, daß natürlich Warnschüsse vorgeschrieben seien, man aber notfalls auch den zweiten oder dritten Schuß als Warnschuß ausgeben könne, es müsse nur die Zahl der verschossenen Patronen stimmen. Die ausgesprochene oder unausgesprochene Erwartung, zugunsten der Interessen dieses Staates das Recht zu brechen, wurde meist erfüllt und das Gift dieses Unrechts hat den Staat zersetzt, wir nehmen es heute mit Erschrecken wahr.
Sie werden heute auf die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Baden-Württemberg vereidigt. Die Verführung, diesen Eid zu verletzen, liegt in unserem Staat eher in der Person des Vereidigten selbst. Die Erwartung zu ungesetzlichem Handeln wird an Sie wohl nicht herangetragen werden – und wenn doch (man weiß ja nie, was in den vor Ihnen liegenden mehr als vierzig Dienstjahren alles auf Sie zukommt), wenn man eines Tages doch einmal will, daß Sie Ungesetzliches tun, dann sagen Sie Nein! Und berufen sich auf Ihren Eid, den Sie heute schwören. Dazu braucht es Mut und eine gefestigte Persönlichkeit. Doch die brauchen Sie schon, um gegen die Versuchungen des kleinen Unrechts gewappnet zu sein. Dem Unrecht, das Ihrer Bequemlichkeit oder Ihren Vorurteilen entgegenkommt. Im Klartext: Wer betont langsam zum Einsatz fährt, nur weil der Hilferuf aus einer Asylbewerberunterkunft kommt, und er ohnehin der Meinung ist, daß Asylbewerber raus gehören, der praktiziert Unrecht und bricht seinen Eid. Wer auf einen festzunehmenden Bürger mehr als notwendig einschlägt, wir alle haben das Video aus Los Angeles gesehen, der hat seine eigene Menschenwürde preisgegeben und sich mit Folterern und Totschlägern auf eine Stufe gestellt. Aber wer den Bürger gegen Übergriffe schützt und ihm den gesetzlichen Bewegungsspielraum verschafft, den wir Innere Sicherheit nennen, der befindet sich auf dem Wege des Rechts, gebe Gott, daß es auch der Weg zur Gerechtigkeit ist.
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen für Ihren Lebensweg.
Gott möge Sie leiten und schützen.
Er bewahre Sie vor Überheblichkeit
und gebe Ihnen Mut, Ausdauer und Weisheit, dem Unrecht zu wehren.
Dierk Schäfer Biberach, den 8. Mai 1992
Und da wir gerade beim Jahr 1992 sind: Mein Rückblick im Weihnachtsgruß an die Polizei in meinem Aufgabenbereich fiel entsprechend aus: [zum Vergrößern: Strg + drücken oder ansehen bei: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8136579421/ + https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8136616464/ ]
Fußnoten
[1] „Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß’ Zeiten. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.“ http://www.zeit.de/news/2017-01/18/parteien-die-hoecke-rede-von-dresden-in-wortlaut-auszuegen-18171207
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article161318995/Dresdner-Richter-preist-oeffentlich-die-NPD-und-Hoecke.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Gestern-NSU-heute-Amri-3604524.html
[4] Sie rief „in Einigkeit und Patriotismus zum gemeinsamen Bundestagswahlkampf auf, um die letzte Chance zu nutzen und das System zu stürzen“. http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-rede-in-dresden-afd-spitze-ruegt-hoecke-aber-kein-parteiausschluss/19289098.html
photo: dierk schäfer
Was ist der Unterschied zwischen Nazi-Raubkunst und Nazi-Raubaktien?
Die Kunst, jedenfalls die bildende, ist beständig, soweit sie nicht im Krieg vernichtet oder erfolgreich bis heute versteckt wurde. Solche Kunst kann man rückerstatten, muss man sogar – und man tut es, wenn auch zögerlich.[1]
Noch ein Unterschied: Die Kunst ist häufig im Marktwert gestiegen, das gleicht den Zinsverlust aus.
Wie steht es mit Aktien, die ursprünglich in jüdischem Besitz waren?[2] Das Beispiel des Berliner Zoos zeigt uns das. Ein Zoo und seine Tiere gehen ans Herz. Darum wird in vielen Beiträgen heute erwähnt, wie der Berliner Zoo seine „dunkle Geschichte“ aufarbeitet.[3] Dazu gehört, geradezu klassisch, eine eine „seriöse historische Studie“. [4] Der Zoo war eine Aktiengesellschaft, rund ein Drittel der Aktien gehörte Juden. Juden, „die nach 1933 systematisch aus dem Vorstand und dem Aufsichtsrat gedrängt wurden – und genötigt wurden, ihre Aktien zu verkaufen oder abzugeben.“
Nur eine Studie? Auch eine Ausstellung ist geplant. „Sie werde die gesamte Geschichte des ältesten deutschen Zoos umfassen und auch die dunklen Seiten beleuchten.“ Aber „sie müsse für ein Publikum gemacht sein, das Tiere anschauen wolle, nicht nur für jene mit ausgeprägten historischen Interessen.“ Überhaupt sei der Zoo, „wie so viele Institutionen … ein ,Kind seiner Zeit’ gewesen.“
Und die Aktien?
„Regelrechte Wiedergutmachung sei deswegen schwierig, weil eine Aktiengesellschaft die Aktien ,nicht besitzt’; das sei mehrfach juristisch geprüft worden … . Aber mit der geplanten Ausstellung und den Tafeln werde es vielleicht gelingen, „das richtige Gefühl zu verinnerlichen“. Das ist doch ein schöner Zug vom Zoo. Schließlich „bemühe man sich, zur Geschichte zu stehen. Man heiße alle Nachfahren ehemaliger jüdischer Aktienbesitzer herzlich willkommen und bemühe sich nach Kräften, ihnen einen schönen Tag im Zoologischen Garten zu bereiten[5].“ Wenn das nichts ist. Ein gefühliges Erinnerungsprogramm im heutigen Spaß-Zoo.
Doch das ist nicht alles. „In den nächsten fünf Jahren wird der Berliner Zoo 20 ,Fellowships’ vergeben; insgesamt stehen für das Programm 200 000 Euro bereit. Kooperiert wird mit der Freien Universität Berlin und der Hebrew University in Jerusalem, bewerben können sich Forscher aus Israel, – nicht nur Zoologen, auch Historiker, Veterinärmediziner und Biologen.“ Ein Forschungsprogramm also zur Wiedergutmachung speziell auf Jerusalem ausgerichtet. Werden dafür andere Forschungsprogramme aufgeschoben? Jedenfalls werden die Zoobesucher, die eigentlich nur Tiere anschauen wollen, über die Eintrittspreise kollektiv an der historischen Aufarbeitung des Berliner Zoos beteiligt. Auch das ist ein schöner Zug vom Zoo. Er hat sich stromlinienförmig dem Zeitgeist der ehrlichen Aufarbeitung angepaßt. Jetzt ist alles wieder gut und wir können ohne Gewissensbisse Tiere gucken gehen.[6]
Was ist der Unterschied zwischen Nazi-Raubkunst und Nazi-Raubaktien? Kunst kann man zurückerstatten, Aktien nicht. Ohnehin wären die im Währungsschnitt nach dem verlorenen Krieg wertlos geworden. Und überhaupt: Die Rechtslage verhindert eine Entschädigung.
Für viele Leser dieses Blogs ein déjà vue.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hildebrand_Gurlitt#Sammlung_Gurlitt
[2] Nach den „arisierten“ Firmen will ich gar nicht erst fragen. Wie man merkt, ist das Feld, das die Nazis sich unter den Nagel gerissen haben, sehr groß.
[3] Eine Auswahl:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/993974.berliner-zoo-plant-aufarbeitung.html
[4] Monika Schmidt erstellte sie 2014 im Auftrag des Zoos.
[5] Von „kostenfreien Eintritt“ schreibt die Berliner Zeitung.
[6] Alle Zitate aus: FAZ-Printausgabe, Dienstag, 8. Dezember 2015, auch nachzulesen unter http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/berliner-zoo-dunkle-vergangenheit-in-einer-ausstellung-13953539.html
Was heißt und zu welchem Ende arbeitet man Geschichte auf?
„Wahrnehmungen und Erinnerungen sind datengestützte Erfindungen“, sagte der Hirnforscher Wolf Singer in seinem Eröffnungsvortrag auf dem 43. Deutschen Historikertag.[1] Die objektive Geschichte gibt es demnach nicht. Man konstruiert Erinnerungen anhand von Daten, die man gesucht und gefunden hat. Warum sucht man nach Daten, an die man sich allenfalls dunkel erinnert? Welches Interesse steckt dahinter?
Ein Beispiel: »Der lange Nazi-Schatten über der Kirche«, darüber berichtet die Schleswig-Holsteinischer Zeitung, shz, am 13. Januar 2014. Quelle ist die Untersuchung, die der Historiker Stephan Linck im Auftrag der Nordkirche vorgelegt hat. [2]
Da hat also ein Historiker einen Auftrag bekommen und man hat ihm Archive geöffnet. Warum?
Vor einem Monat habe ich beklagt, daß solche Untersuchungen erst dann gestartet werden, wenn sie niemandem mehr wehtun[3]. Was also soll’s? Mein Resümee war, die billigste Form der Vergangenheitserhellung solle das Image aufpolieren, – peinlich und blamabel!
Doch die Sache ist wohl komplexer.
Generell stellt sich die Frage, was die ganze verspätete Aufarbeitung soll, die wir ja nicht nur bei kirchlichen Einrichtungen beobachten. Auch staatliche Einrichtungen, Firmen und diverse Berufsgruppen ließen und lassen ihre nur noch ihr Image belastende Vergangenheit mehr oder weniger seriös aufarbeiten. Doch „wir sehen, was zu sehen nützlich ist“[4].
Darum noch einmal: Was also ist der Nutzen – und wird der angestrebte Nutzen erreicht? Vorbedingung mag sein, daß ein wichtiger Nutzen weggefallen ist, nämlich die Loyalität mit den Tätern und der eigene Vorteil. Darum wartet man mit der Aufarbeitung bis sie niemandem mehr schadet.[5]
Aber der Nutzen? Gut, die Historiker verdienen ihren Lebensunterhalt und wir erfahren mehr über die damaligen Verhältnisse. Die Geschichte wird vollständiger und damit „ehrlicher“. Es scheint so etwas wie ein Ethos zur wie auch immer begrenzten historischen Wahrheit zu geben, das Ethos des Geschichtsforschers. Ein merkwürdiges Ethos. Nun, da er nichts mehr zu befürchten hat, sondern Ansehen erwirbt, kümmert er sich um Fragen, die zuvor unbekannt waren oder unter dem Deckel gehalten wurden. Ist das Tabu erst gebrochen, stehen die betroffenen Institutionen unter (öffentlichem) Druck. Sie geben nach und geben eine Studie in Auftrag, die nicht den Anschein erwecken darf, sie sei parteilich. Und schließlich weiß man, daß Aufregung über längst Vergangenes schnell wieder abebbt. Die paar Medienartikel haben keine Auswirkungen – und man selber hat nun eine reine Weste.
Schwieriger ist es mit Verfehlungen von Kirchen und ihren Würdenträgern. Da ist die Öffentlichkeit nicht (mehr) so nachsichtig. Hier geht es um andere Dimensionen von Glaubhaftigkeit und Vertrauen. Aber auch die Nazi-Verstrickungen der Kirchen bewirken in historischer Distanz wenig. Nur die Kirchengegner sagen: Haben wir doch schon immer gewußt.
Geht es aber um Verfehlungen in jüngster Zeit, wird erst geleugnet und diffamiert, und dann gibt es ein Begräbnis zweiter Klasse. Wissenschaftliche Aufarbeitung? Ja, wenn’s sein muß. Betroffenheits- und Entschuldigungsbekundungen? Kommt man nicht drumrum. Entschädigung? Nein, aber freiwillige Unterstützungsleistungen, möglichst mit Bordmitteln und möglichst kostengünstig. Offenbarungen auf der Homepage? Allenfalls vorübergehend, dann wird die Geschichte aber wieder bereinigt – also ausgelöscht. Doch wenn darüber endlich Gras gewachsen ist, kommt sicherlich ein Esel, der es wieder runterfrißt. Das Gedächtnis des Internet hilft dabei.[6]
Was die Wurzeln der Nordkirche betrifft: es lohnt sich den Artikel der shz zu lesen. Es geht um den Täterschutz, wie er vielfach in Deutschland und wohl besonders in Schleswig-Holstein praktiziert wurde. Da eine Lokalzeitung über Lokales ausführlicher berichtet, erfahren wir auch mehr über die Rolle des damaligen Holsteiner Bischofs Wilhelm Halfmann. Wiki hat einige Aspekte in dessen Vita etwas unzureichend beleuchtet.[7] Insbesondere der Heyde-Sawade-Skandal spielt mit hinein und die Verbindung zum Synodenpräsidenten Adolf Voss.[8] Auch Wilhelm Kieckbusch, der Bischof der ehemaligen Landeskirche Eutin[9] wird unrühmlich erwähnt und man muß feststellen, daß Wiki auch in diesem Fall nicht gut recherchiert hat. Nun wissen wir mehr. Wiki hoffentlich auch demnächst.
[1] zitiert nach: FAZ 28. September 2000
[2] http://www.shz.de/schleswig-holstein/politik/der-lange-nazi-schatten-ueber-der-kirche-id5413301.html
[4] Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags: FAZ 28. September 2000
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/12/31/erst-jetzt-mit-groserer-zeit%C2%ADlicher-distanz-zu-ereignis%C2%ADsen-und-personen-kommt-die-forschung-in-gang/
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