„Aufrecht“ sterben – Fragen an Gesundheitsminister Spahn – Ein offener Brief in einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse
Sehr geehrter Herr Minister,
heute entnahm ich dem Tagesspiegel[1] Ihre Handhabung der Abgabepflicht tödlich wirkender Medikamente an Schwerstkranke und wende mich deshalb an Sie, vorausgesetzt dass die Darstellung der genannten Zeitung stimmt.
Mir ist klar, dass es sich um eine komplexe Thematik mit Missbrauchsmöglichkeiten handelt. Aber ich[2] halte es für ethisch verwerflich, Sterbende mit ihren existentiellen Anliegen auf die lange Bank des Hinhaltens oder der Nichtbefassung zu schieben und dies mit allen Mitteln, die der bürokratische Abschiebebahnhof bietet, noch dazu, wenn sie rechtlich zumindest problematisch sind.
Ich darf Ihnen aus meinem derzeitigen Alltag einen Mailausschnitt zitieren[3]:
„Meine Ärzte stellten mir eine ziemlich eindeutige Diagnose. Ich habe mein Haus bestellt, wie es so schön heisst, ich bereite die letzte Fahrt nach xxx vor, meine „ärztliche“ Tochter wird mich begleiten. Wenn es gut kommt, darf ich den Sommer nochmals geniessen, vielleicht aber auch den Herbst, er ist ein Geschenk. Ich werde kein bettlägeriger Fall, ich habe meine Frau und Tochter als Medizinerinnen, die mich vor langen Leiden schützen. Deshalb xxx, das schon immer meine 2. Heimat war: es hat eine andere Gesetzgebung.“
Von einem solchen Weg ins Ausland sprach öffentlich bereits Nikolaus Schneider, der frühere Ratsvorsitzende der EKD. Er werde seine an Krebs erkrankte Frau, wenn sie Sterbehilfe wolle, auch in die Schweiz begleiten.[4] Schneider hat damit persönlich eine sichtbare Distanzierung zur in der Kirche herrschenden Meinung[5] vollzogen, die aktive Sterbehilfe ablehnt und auf palliative Maßnahmen setzt: Schmerzbekämpfung/Schmerzdämpfung, auch in der Todeskampfphase.
Meine Fragen an Sie, sehr geehrter Herr Minister:
- Müssen bei uns Menschen andere Rechtsräume aufsuchen, um so sterben zu können, wie sie es für sich wünschen?
- Ist dieser letzte Wunsch nicht auch ein Menschenrecht?
- Soll es dieses Recht nur für die geben, die es sich leisten können?
- Soll die quälende Langsamkeit des Sterbeprozesses nur die finanziellen Interessen der professionellen palliativmedizinischen Begleiter bedienen?
- Warum ist uns in Deutschland nicht vergönnt, so aufrecht zu sterben, wie wir das wollen unter Vermeidung der demütigenden Situation nur noch Objekt medizinischer Bemühungen zu sein?
Vor einigen Tagen erschien in der NZZ ein menschlich mich sehr berührender Artikel über Eltern, die mithilfe einer schweizer Sterbehilfeorganisation gemeinsam aus dem Leben scheiden[6]. Wenn Sie diesen Artikel gelesen haben: Wie ging es Ihnen damit?
Ich schicke Ihnen diesen Brief vorab als Mail und werde ihn morgen in meinen Blog stellen, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, ihn als erster zu lesen. Ihre Antwort werde ich selbstverständlich in vollem Wortlaut auch in meinem Blog veröffentlichen.
Mit freundlichem Gruß
Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll, Tel: 0 71 64 / 1 20 55
PS: Doch noch ein paar Worte zum im Zeitungstext genannten Gutachten. Die Position des Gutachters sei bekannt gewesen. „95.200 Euro zahlten die Behörden für ein Rechtsgutachten – dessen Ergebnis feststand“, ist dort zu lesen.
Das wirft eine doppelte ethische Frage auf, einmal an den, der ein Gefälligkeitsgutachten in Auftrag gibt – und das für eine erhebliche Summe, die nicht einmal er selbst bezahlen muss. Zum andern für den Gutachter: Wie objektiv war er, um ein unabhängiges Gutachten zu erstellen? Für mehr als neunzigtausend Euro tun manche manches.
Da ich selber auch Gutachten erstelle (und von solcher Honorierung nicht einmal zu träumen wage), weiß ich, dass ich bei wenn auch begründeter Befangenheit lediglich eine gutachterliche Stellungnahme abgeben kann. Wie war das bei Ihrem Gutachter?
ds
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Graphik aus: Dierk Schäfer und Werner Knubben… in meinen Armen sterben? : Vom Umgang der Polizei mit Trauer und Tod, Hilden/Rhld. 19962 Seite 8, ISBN 3-8011-0345-5
Umschlagtext: Dierk Schäfer, Kirchenrat und Diplompsychologe, 48 Jahre alt, und Werner Knubben, Polizeidekan und Kriminalhauptkommissar a. D, 44 Jahre alt, arbeiten beide als Seelsorger im Regierungsbezirk Tübingen, Ihre umfangreiche Erfahrung mit Todesfällen und den davon direkt oder beruflich betroffenen Menschen hat sie gedrängt, dieses Buch zu schreiben, um Verständnis und Verstehenshilfe anzubieten.
Die Graphik war nicht Bestandteil des Vorabmails an den Minister.
Fußnoten
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitsminister-ignoriert-urteil-jens-spahn-verhindert-sterbehilfe/24010180.html
[2] Zu meiner Person: Ich bin Pfarrer i.R. und habe 15 Jahre lang für Polizeibeamte berufsethischen Unterricht erteilt.
[3] Dieses Abschiedsmail erhielt ich vor wenigen Tagen, die persönlichen Daten und alle Ortsangaben habe ich unkenntlich gemacht.
[4] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/21/demokratisierung-der-todeszuteilung/
[5] Ob ich hier allgemein von „der Kirche“ reden kann, weiß ich nicht. Dort melden sich nur die „Hirten“ zu Wort, die „Schafe“ schweigen.
[6] https://www.nzz.ch/gesellschaft/wenn-die-eltern-gemeinsam-aus-dem-leben-scheiden-ld.1455660
Ist 2 Jahre her, aber so schön gelogen, dass man’s noch einmal lesen sollte:
Die Bilanz von Nikolaus Schneider
»Was waren Höhepunkte Ihrer Amtszeit?
Die Begegnungen mit den beiden Päpsten Benedikt XVI. in Erfurt und Franziskus in Rom gehören sicher dazu. Bei beiden Begegnungen wurde deutlich, dass unsere Kirchen sich gemeinsam in der Nachfolge Christi verstehen, sich in ihrer Verschiedenheit respektieren und auch herausfordern. Sehr bewegend waren auch die Treffen mit dem ökumenischen Patriarchen Bartholomäus in Istanbul und im Berliner Dom.«[1]
Nach den Tiefpunkten seiner Amtszeit wurde er nicht gefragt. Ihm wären dabei aber wohl kaum, ebenso wenig wie dem Interviewer, die ehemaligen Heimkinder eingefallen.
Schwamm drüber?
[1] http://www.ekd.de/aktuell/edi_2014_11_05_nikolaus_schneider.html
Wird Nikolaus Schneider noch heiliggesprochen?
OKR Dr. Christoph Thiele
Kirchenamt der EKD
Herrenhäuser Str. 12
D-30419 Hannover
Sehr geehrter Herr Dr. Thiele,
sehr geehrter Herr Oberkirchenrat!
Sie haben Herrn Werner stellvertretend für den Ratsvorsitzenden der EKD, Dr. h.c. Nikolaus Schneider per Mail geantwortet. Ich habe es in meinem Blog veröffentlicht und möchte gern stellvertretend für Herrn Werner, allerdings ohne Auftrag, darauf antworten.
Zunächst das Positive:
1. Das ist die Antwort überhaupt. Es ist leider alles andere als selbstverständlich, daß Personen in hohen Ämtern antworten oder antworten lassen.
2. Dann will ich Ihnen zugute halten, daß Sie den Sachverhalt nicht oder nur unvollständig kennen. Das kann ich aber schon nicht mehr voll dem Positiven zurechnen. Denn mit den Verbrechen an Kindern in zumeist kirchlichen wie aber auch staatlichen Einrichtungen dürfte es inzwischen so sein, wie Joseph Peter Stern von den Mitläufern gesagt hat: „Man wußte immer so viel, daß man es vorzog, nicht mehr wissen zu wollen.“[1]
3. Doch nun das Negative:
Was Sie über Herrn Schneider schreiben, stimmt nicht. Selbst wenn man de mortuis nihil nisi bene auf die abeundis anwenden will, schreien doch die vielen Beiträge im Netz das Gegenteil. Betroffenheitsgestammel und ein Versöhnungsgottesdienst sind kein persönlicher Einsatz für die ehemaligen Heimkinder. Was Herr Schneider auch persönlich immer dabei gefühlt haben mag, stand er doch als EKD-Vorsitzender in der Gesamtverantwortung für die Vorgänge am Runden Tisch. Und es ist belegbar, daß die ehemaligen Heimkinder, (ganz abgesehen von den Heimkindern in den Behinderteneinrichtungen und Säuglingsheimen, die wurden und werden völlig außen vor gelassen) in ihrer Vergangenheit ausgebeutet, mißhandelt und um ihre Zukunftsaussichten gebracht[2], am Runden Tisch betrogen wurden von einer Phalanx von staatlichen wie kirchlichen Vertretern unter dem Vorsitz einer Politikerin[3], die zudem Pfarrerin ist, betrogen um einen halbwegs angemessenen finanziellen Ausgleich. Die Zahlungen die es gibt, werden großzügig unter Betonung des nicht-existenten Rechtsanspruchs auf Antrag gewährt. Meine Kirche, die mit Ewigkeitswerten handelt, beruft sich auf Verjährung und brüstet sich mit der Großzügigkeit ihrer Mitfinanzierung des Heimkinderfonds. Ich schäme mich für meine Kirche und ihre Repräsentanten, angeführt von Herrn Schneider[4]. Sein Namensvetter, der Heilige Nikolaus, verteilte der Legende nach Goldklumpen. Das zählt zur Hagiographie und ist so wenig glaubwürdig, wie der Einsatz von Herrn Schneider.
Doch nun zum Allgemeinen: Was ich vermisse, ist eine theologische Aufarbeitung sowohl der Vorkommnisse in den unterschiedlichsten Heimen als auch die der Kirchen am Runden Tisch, die des Staates eingeschlossen. Welche Rolle spielte der Rettungsgedanke, welche das Menschenbild, welche die Vorstellungen vom ewigen Heil, welche die finanziellen Aspekte? Eine Antwort darauf könnte allerdings gravierende Folgerungen für die Systematik unserer Glaubensvorstellungen haben.
Zurzeit sehe ich nicht, daß es an diesen Fragen Interesse gibt, weder in den theologischen Fakultäten, noch in den kirchlichen Akademien. Wo bleibt das große Symposion für diese Fragen?
Ich befürchte jedoch, daß man mehr die finanziellen Folgen befürchtet als die theologischen.
Ob Sie mir antworten?[5] Ich weiß, daß ich gegen die kirchliche „Kleiderordnung“ verstoße, wenn ich als kleiner Ruhestandspfarrer vom Lande meinen „Oberen“ solche Briefe schreibe – und noch dazu öffentlich. Doch das soll nicht mein Problem sein. Wie Sie das Ihre lösen, werde ich sehen.
Mit freundlichem Gruß
Dierk Schäfer
[1] Geradezu typisch für diese Haltung ist der Bericht, den ich heute erhielt: Ich wurde am 17. Juli 1950 in der Philippus- Nathanel-Kirche evangelisch getauft. Als ich mich nach Jahren als ehemaliges misshandeltes Heimkind durch die Diakonie überwunden hatte meine Gemeinde in 2012 einmal aufzusuchen begegnete mir der Gemeindepfarrer und fragte mich ob er mir behilflich sein könne und was ich denn suche. Ich erzählte ihm das ich ein ehemaliges misshandeltes Heimkind seiner Gemeinde bin und mich nur mal umsehen wollte wo ich vor Jahrzehnte getauft wurde. Aber davon wollte der junge Herr Pfarrer nichts wissen und meinte man solle doch solche Geschichten ruhen lassen. Es kümmerte ihn wenig wie es einen seiner ehemaligen Gemeindemitglieder erging und ging. Fundstelle: https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/08/09/die-kirchen-bluten-aus-stellt-die-welt-fest/#comments
[2] Dazu: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2010/05/essay-pfarrerblatt.pdf
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
[4] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/09/13/das-war-spitze-herr-ratsvorsitzender/
[5] Ein Schreiben haben Sie ja, wie ich sehe, in der Sache bereits bekommen: http://helmutjacob.over-blog.de/article-einsatz-des-ratsvorsitzenden-der-ekd-nikolaus-schneider-fur-die-heimopfer-ein-brief-als-weitere-de-124327475.html
»Für die Belange der ehemaligen Heimkinder hat sich der Ratsvorsitzende in seiner Amtszeit besonders und auch persönlich eingesetzt.«
Nun wissen wir’s.
»Sehr geehrter Herr Werner,
der Ratsvorsitzende der EKD, Dr. h.c. Nikolaus Schneider, hat Ihre Mail vom 2. Juli 2014 erhalten. Er dankt Ihnen für die Anteilnahme am Schicksal seiner Frau und für die guten Wünsche, die Sie ausgesprochen haben.
Als zuständiger Referent im Kirchenamt der EKD möchte ich zugleich Ihr im Weiteren geäußertes Anliegen, die ehemaligen Heimkinder betreffend, zum Anlass nehmen, auf Folgendes hinzuweisen: Für die Belange der ehemaligen Heimkinder hat sich der Ratsvorsitzende in seiner Amtszeit besonders und auch persönlich eingesetzt. So wurde die von ihm vorgetragene förmliche Bitte um Verzeihung von vielen Betroffenen als sinnvolles Zeichen angesehen. Darüber hinaus ist Ihnen sicher bekannt, dass sich die evangelischen Kirchen und ihre Diakonie von Beginn an an der Aufarbeitung der Heimkindererziehung in den Nachkriegsjahrzehnten beteiligt und am Runden Tisch mitgearbeitet haben. An der Umsetzung von dessen Empfehlungen im Hinblick auf Maßnahmen der Rehabilitierung und finanzielle Maßnahmen u. a. zur Überwindung von Folgeschäden und für Rentenersatzleistungen für Betroffene beteiligen sich die evangelischen Kirchen und die Diakonie mit großen Geldbeträgen. Kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter standen und stehen im Übrigen für persönliche Gespräche mit ehemaligen Heimkindern zur Verfügung. Auch der Ratsvorsitzende hat in seiner Amtszeit viele solcher Gespräche persönlich geführt. In diesem Einsatz für die ehemaligen Heimkinder wird die Evangelische Kirche auch in Zukunft nicht nachlassen.
Mit freundlichen Grüßen
In Vertretung
OKR Dr. Christoph Thiele«
Demokratisierung der Todeszuteilung
Nikolaus Schneider, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat erklärt, er werde seine an Krebs erkrankte Frau, wenn sie Sterbehilfe wolle, auch in die Schweiz begleiten. Ich halte es für anmaßend, die persönlichen Aspekte der Entscheidung des Ehepaares Schneider zu kommentieren.
Nun ist Schneider eine Person öffentlichen Interesses und man wird auf einige andere Aspekte eingehen dürfen. Diese betreffen die Position der EKD zur Sterbehilfe und den Zusammenhang von Amtsträger und Privatperson.
Beginnen wir mit dem zweiten Punkt: Schneider hat sich entschieden, seine Absicht öffentlich zu machen und damit auch die Differenz zwischen kirchenamtlicher Position und persönlicher Abweichung. Das verdient höchsten Respekt. Schließlich könnte das Ehepaar ja auch pro forma ganz einfach einen Schweizurlaub antreten.[1] Schneider hat damit persönlich eine sichtbare Distanzierung zur in der Kirche herrschenden Meinung vollzogen, die aktive Sterbehilfe ablehnt und auf palliative Maßnahmen setzt: Schmerzbekämpfung/Schmerzdämpfung, auch in der Todeskampfphase. Schneiders Distanzierung stellt für die protestantische Theologie keine Revolution dar, schließlich ist der Gläubige letztlich vor Gott und seinem Gewissen verantwortlich und nicht vor der Kirche und deren Lehrmeinungen.[2]
Und der Konflikt mit der Rolle der Amtsperson? Formal ganz einfach: Schneider ist bereits zurückgetreten und nimmt sich die Freiheit, an die inhaltlichen Vorgaben dieses Amtes nicht mehr in jedem Punkt gebunden zu sein. Dankenswerterweise gibt die anhaltende Prominenz des ehemaligen Ratsvorsitzenden dem Thema die wünschenswerte Publizität. „Nun kommt frischer Wind in die Debatte“, habe ich bei Bekanntwerden seiner Position getwittert.
Damit zum Kernthema.
Die Kirchen, evangelisch wie katholisch, vertreten die Position der Palliativmedizin[3]. Ob palliative Maßnahmen in jedem Fall ausreichend sind, soll hier nicht erörtert werden. Es geht um die Frage der Tötung auf Verlangen, also des assistierten Suizids.
Zunächst zum Suizid: Die moralisch-ethisch ablehnende Haltung zum Suizid hat eine lange Tradition in Theologie und Kirche[4]. Für mich erkennbar wurde sie zum ersten Mal erschüttert, als nach dem Krieg der Suizid des bewusst christlichen Schriftstellers Jochen Klepper[5] bekannt wurde. Er hatte gemeinsam mit seiner jüdischen Frau diesen Weg gewählt, um sie nicht der Mordmaschinerie der Nazis auszuliefern.[6] Dieser Suizid aus Solidarität hat einige Parallelen zur heldenhaften Selbstaufopferung[7] im Kampf, wie sie oft genug heroisiert wurde ohne die grundsätzliche Frage zu stellen, ob der Mensch berechtigt ist, seinem Leben in solchen Fällen selber ein Ende zu setzen[8]; eine Frage, die für den „klassischen“ Suizid immer verneint wurde.
Auch bei der Frage des Suizids unter Beihilfe ist ein wesentliches Moment, ob der Mensch selber über seinen Tod entscheiden darf. Jeder Mensch konnte bisher schon immer zum Strick oder sonst was greifen, um seinem Leben ein Ende zu setzen[9]. Nun beansprucht er in seiner hilflosen Lage fremde Hilfe, um aus dem Leben zu scheiden, und zwar fachliche Hilfe, sei es durch Rat oder durch Bereitstellung passender Medikamente oder gar durch direkte Hilfe. Der „klassische“ Suizidant war ein Selbstmörder, ein Täter also, der bestraft wurde durch Verweigerung eines „christlichen“ Begräbnisses und die Heraufbeschwörung der Höllenstrafen. Dem in Todesbanden liegenden Kranken wird niemand so etwas wie Täterschaft unterstellen wollen, obwohl er aktiv über seinen Tod verfügt, indem er ihn in einer aktuellen Notsituation einfordert oder schon in seiner Patientenverfügung bestimmt hat.
Und doch haben beide etwas gemeinsam, der „Selbstmörder“ und der Todkranke. Sie lehnen sich gegen etwas auf, das als absolute Schöpfungsordnung hingestellt wird. Das Leben, das Gott gegeben hat, dürfe der Mensch nicht beenden. Das sei „Gottes gnädigem Ratschluß“ vorbehalten, wie es immer noch in Traueranzeigen heißt. Diese Meinung ist zu respektieren. Wer aber diese Sicht anderen aufoktroyieren will, egal mit welchen Methoden, der ist nicht ehrlich, wenn er nicht zugleich deutlich macht, daß in der Geschichte der Menschheit bis in unsere Tage diese Sicht der „letzten Dinge“ zumeist keine Berücksichtigung fand beim von oben verordneten Tod. Die Machthaber aller Zeiten spielten Potentaten-Schach und opferten ihre „Bauern“ ganz nach Kalkül und Bedarf im Krieg. Die Justiz verhängte Todesurteile, nicht nur in Hexen- und Ketzerprozessen. Kriege und Todesurteile, diese Todeszuteilung von oben bekam in aller Regel Zustimmung und Assistenz durch „Feldgeistliche“, und auch keine Hinrichtung ohne seelischen Beistand eines Priesters.[10] Über das Lebensende wurde nicht nur von ganz oben, durch den Allmächtigen verfügt, sondern durch die „Oberen“ in Staat und Justiz. Die Feudalherrschaft über Leib und Leben wurde dann abgelöst durch andere Formen der Herrschaft, die auch das Privileg der Todeszuteilung für sich beanspruchten.
Wenn nun der einzelne Bürger sich anschickt, selber über sein Lebensende bestimmen zu wollen und dafür Hilfe einfordert, dann ist das – wenn nicht Auflehnung – so doch die Demokratisierung des Rechtes, über den – eigenen – Tod entscheiden zu können. Wer dies tut, nimmt ein, er nimmt sein Menschenrecht wahr. Niemand anderes, als dieser Mensch selbst, befinde darüber.
Es sollte allerdings niemand gegen sein Gewissen zur Assistenz verpflichtet werden. Solange ein Mensch in der Lage ist, selbst Hand an sich zu legen, und sei es durch die Einnahme eines ihm zur Verfügung gestellten Medikamentes, mag man meinen, dann solle er es doch auch selbst tun. Körperliche Gebrechlichkeit, Altersdemenz oder andauernde Bewusstlosigkeit/Koma erfordern jedoch die Hilfe von anderen, von Verwandten oder Fachkräften.
Und wo beginnt die Assistenz, wo ist die Grenze, ab der man sich auch verweigern können muß? Bereits bei der Mitfinanzierung des erforderlichen Medikamentes durch die Krankenkasse, oder erst bei der Mitfinanzierung des Einsatzes von Sterbehelfern, oder erst dann, wenn man selber tätig werden soll?
Der Teufel steckt im Detail. Wer meint, ethisch-religiös völlig „sauber“ durch dieses Leben gehen zu müssen, wird bereits aus Gewissensgründen jedwede Mithilfe verweigern, auch jede Mitfinanzierung. Der Staat kann und sollte immerhin die Mitfinanzierung erzwingen[11].
Doch wer stellt das Medikament und setzt die Spritze? Inzwischen setzen wir für fast alles und jedes auf Spezialisten. Sterbebeihilfe gehört zu den wenigen gefühlsbetonten Bereichen, für die eine „organisierte“ Form abgelehnt wird. Darum der Widerstand gegen das „Geschäft mit dem Tod“, das wir aber dem Arzt und dem Bestatter zubilligen[12].
Wer also könnte und sollte es tun? Ich denke, daß man schon ein starkes Sendungsbewußtsein braucht oder eine sehr spezielle Mentalität, um hauptberuflich „Todesengel“ zu sein. Wir sollten uns hüten, mit dem Sterbehelfer einen gesellschaftlich verpönten Beruf zu etablieren. Doch wie wäre es, wenn die Ärztevertretung ihre strikte Gegnerschaft aufgeben und es in das Belieben der Ärzte[13] stellen würde, ihren Patienten diesen letzten Dienst zu erweisen? Und das ohne Honorierung für die – medizinisch ja nicht sonderlich aufwendige – Geste der Menschlichkeit. Dann könnte man seinem Hausarzt die Gretchenfrage stellen[14]: Wie hältst du’s mit der Religion – und ihrem Suizidverbot? – Gegebenenfalls wechsele ich dann den Arzt, denn der soll ja vor meinen Tode an meinen nicht-tödlichen Krankheiten seinen Lebensunterhalt verdienen können.
Ein Problem bleibt aber dennoch. Von der Demokratie ist der Weg nicht weit zur Pöbelherrschaft. Der Pöbel ruft dem auf dem Brückengeländer Stehenden zu: Nun spring doch! Er will seinen Spaß haben. Im Fall der demokratisierten Sterbehilfe wird er sparen und gar nicht erst den Todeskampf abwarten wollen. Schließlich sind die Gesundheits- und Pflegekosten in der Abschlußphase des menschlichen Lebens meist exorbitant hoch. Das ließe sich doch abkürzen. Die Schere im Kopf ist schon geöffnet mit der Maxime: Ich will meinen Kindern mal nicht zur Last fallen. Wenn dann die finanzielle und organisatorische Eigenvorsorge nicht (mehr) reicht, wem reicht es dann? Mit anderen Worten: Der Druck, „freiwillig“ aus dem Leben zu gehen, steigt. Die Demokratisierung der Todeszuteilung mag als Beitrag zu Humanisierung gestartet sein. Sie könnte bei der Brutalisierung enden: Nun kratz doch endlich ab! – Ich geh ja schon.
Ich fürchte, daß es so kommen wird. Nur bis zum Schluß starke, „starrköpfige“ Personen werden sich der allgemeinen Barbarei widersetzen können, und auch die, die von der Liebe ihrer Mitmenschen getragen und geschützt werden.
[1] Wenn ich hier anerkennend von Respekt spreche, mag man das auf dem Hintergrund sehen, daß ich Schneider in seiner (amtlichen) Haltung in der Heimkindersache massiv angegriffen habe und nichts davon zurückzunehmen gedenke. https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/09/13/das-war-spitze-herr-ratsvorsitzender/
[2] So sah bereits Augustinus die Bedeutung des Gewissens. Diese Meinung hat sich zwar auch der Augustinermönch Luther zueigen gemacht, ist jedoch in der katholischen Kirche leider untergegangen.
[3] So aktuell referiert in http://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/scherf-ueber-sterbehilfe-debatte-um-ekd-ratsvorsitzenden-schneider.html
[4] Dies auch in anderen Gesellschaften außerhalb der christlichen Tradition.
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Klepper , http://de.wikipedia.org/wiki/Unter_dem_Schatten_deiner_Fl%C3%BCgel
[6] Andere Beispiele: Maximilian Kolbe http://de.wikipedia.org/wiki/Maximilian_Kolbe , Janusz Korczak http://de.wikipedia.org/wiki/Janusz_Korczak
[7] Nur erwähnt sei, daß nach herrschender Meinung in Theologie und Kirche Gott sich in der Person seines Sohnes selbst geopfert hat als Sühnopfer für die Menschen, die sich dadurch erlöst sehen können.
In einer Überordnung Vater-Sohn war der Tod Jesu ein von oben verordneter, jedoch gehorsam-demütig hingenommener: suicide by mankind. Ob die Annahme eines innertrinitarischen „Betriebsunfalls“ aus dem theologischen Dilemma heraushilft, bezweifle ich.
[8] Die erbärmliche Variante des Selbstmordattentäters soll hier nicht erörtert werden. Dazu Dierk Schäfer, Terror – MACHT – Terrorismus: http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/dpb_print.php?id=3452
[9] Hierzu zählt auch der suicide by cop, http://de.wikipedia.org/wiki/Suicide_by_cop ,bei dem ein Mensch durch Geiselnahme oder Amoklauf eine Situation herbeiführt, in der er seine Tötung durch die Polizei regelrecht provoziert. Siehe dazu Dierk Schäfer, Amok, unveröffentlichte Seminararbeit, erhältlich bei Dierk Schäfer
[10] In Unrechtssystemen gibt es nicht einmal die Fiktion der Gemeinschaft auch im Todesurteil.
[11] Wer meint, dann immer noch Widerstand leisten zu müssen, wird zum Märtyrer und spätestens dann ein gutes Gewissen haben.
[12] Das „Geschäft mit dem Tod“ umfasst eine ganze Palette von Periletalexperten, die damit ihr täglich Brot verdienen, in der Regel auf honorige und gesellschaftlich anerkannte Art und Weise. Zum Begriff Periletalexpeten: Dierk Schäfer, Werner Knubben, … in meinen Armen sterben?, VDP-Sachbuch, Hilden 1996, 2. Auflage, ISBN 3-8011-0345-5
[13] Eine vielleicht abenteuerlich erscheinende Alternative wären die Hebammen. Sie helfen uns ins Leben. Warum nicht auch – mit Zusatzausbildung – wieder hinaus?
[14] (bevor man sich auf einen Liegend-Transport in die Schweiz einstellt)
Völlig naiv oder gewieftes Schlitzohr?
»Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, verbindet mit Papst Franziskus Hoffnungen für die Ökumene.«
O, hättest du doch geschwiegen, Bruder Nikolaus!
O, hättest du doch geschwiegen, Bruder Nikolaus!
Die Medien verbreiteten die Nachricht, die wirklich eine Nachricht war/gewesen wäre:
»„Die Kirchen werden sich der Forderung nach materieller Entschädigung für erlittenes Leid in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen nicht entziehen.“ Er sprach von einem sehr bedrückenden Kapitel.
Dass die Kirchen dafür heute in Haftung genommen würden, sei richtig, sagte Schneider. Schließlich hätten die Kirchen die Heime damals mitgetragen.«
Nun kommt die Korrektur (laut FAZ vom Montag, 19. April 2010).
Richtig ist, „die Kirche werde sich dem Gespräch über Entschädigungen nicht entziehen.“
Das ist nun wahrlich keine Nachricht wert. Das Gespräch ist längst im Gange.
Was also ist die Botschaft?
Wir können mal darüber reden. Reden kostet nichts. Solange wir reden, brauchen wir nichts zu tun – und derweil werden die ehemaligen Heimkinder weniger, dann gibt es auch weniger zu tun, wenn wir schon genötigt werden sollten, überhaupt etwas zu tun.
Es ist für mich als evangelischer Christ und Pfarrer schmerzhaft zu sehen, wie der amtierende Ratspräsident hinter die Aussagen seiner Vorgängerin zurückfällt.
O, hättest du doch lieber ganz geschwiegen, Bruder Nikolaus!
Nachtrag, nach dem Hören des Interviews auf
http://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/interview/201004/140157.html
das klingt insgesamt nicht unsympathisch, wenn er auch ein paar kautelen einbaut. der o-ton scheint glaubhaft.
schneider hatte halt das pech, daß die erste meldung inhalte hatte, die er dann korrigiert hat. er sollte nun positiv nachlegen.
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